Twitter muss neben ehrverletzenden Tweets auch "kerngleiche" Postings löschen. Grüne und FDP drängen auf rote Linien gegen geplante EU-Chatkontrolle. Pauschale Absage auf Frage zum Verfassungsschutz verletzt parlamentarisches Fragerecht.
Thema des Tages
LG Frankfurt/M. zu Blume vs. Twitter: Der Kurznachrichtendienst Twitter muss auf Antrag eines Betroffenen nicht nur die Verbreitung rechtswidriger ehrverletzender Tweets verhindern, sondern auch die Verbreitung "kerngleicher" Abwandlungen. Dies entschied das Landgericht Frankfurt/M. in einem Eilverfahren, in dem sich Michael Blume, der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg, gegen eine Verleumdungskampagne zur Wehr setzte, die ihm auf Twitter eine "Nähe zu Pädophilie", einen Seitensprung sowie die nicht näher begründete Zugehörigkeit zu einem "antisemitischen Pack" unterstellte. Die Aussagen verletzten laut LG sein Persönlichkeitsrecht, weil sie entweder als unwahre Tatsachenbehauptungen oder als Werturteil ohne wahre Anknüpfungstatsachen gewertet wurden. Twitter habe nicht substantiiert dargelegt, dass es durch diese Unterbindungspflichten überfordert sei. Es berichten taz (Christian Rath), Hbl (Christof Kerkmann), tagesschau.de (Christoph Kehlbach) und LTO.
Ronen Steinke (SZ) begrüßt das Urteil, sieht aber auch Schwierigkeiten in den Anforderungen, die das Gericht an die unternehmensinterne Beschwerdeinstanz stellt. Diese habe sich mit den Feinheiten deutscher Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit und deren "manchmal auch diffusen Grenzen" auszukennen und "quasi auf dem Niveau eines Gerichts zu entscheiden". Christian Rath (taz) lobt das Urteil ebenfalls, bezeichnet das vorgezeichnete Verfahren dabei aber als "Experimentierfeld", bei dem insbesondere noch nicht absehbar sei, wie Twitter die Auflage, auch "kerngleiche" Aussagen zu entfernen, umsetzen werde, ohne dabei auch zulässige Aussagen auszusortieren.
Rechtspolitik
Chatkontrolle: Die Fraktionen von FDP und Grünen arbeiten derzeit an einem Antrag auf eine Stellungnahme des Bundestags nach Art. 23 Grundgesetz, die die Bundesregierung auffordern würde, sich auf EU-Ebene "gegen sämtliche Regelungen" auszusprechen, "die zu einer anlasslosen Überprüfung privater Chat-Kommunikation führen". Die SPD ist in der Frage noch gespalten, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) erneuerte zuletzt ihre grundsätzliche Zustimmung zum Vorschlag der EU-Kommission für eine Verordnung zur Prävention und Bekämpfung von Kindesmissbrauchs, der eine derartige Chatkontrolle ermöglichen würde. netzpolitik.org (Daniel Leisegang/Andre Meister) fasst den aktuellen Stand zusammen und veröffentlicht den Entwurf, an dem FDP und Grüne arbeiten.
Whistleblowing: Noch in dieser Woche soll der Bundestag das sogenannte Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) beschließen. SZ (Ronen Steinke) und LTO (Markus Sehl) stellen den aktuellen Entwurf vor, der nun auch die Pflicht zur Bearbeitung anonymer Hinweise vorsieht. Neu sei außerdem, dass Hinweise auf verfassungsfeindliche Äußerungen von Beamtinnen und Beamten auch dann gefahrlos gemeldet werden können, wenn diese nicht-öffentlich und damit nicht strafbar erfolgten. Zudem werden Tierärzt:innen von der Schweigepflicht entbunden, wenn sie Tierschutzskandale melden.
Waffenrecht/Extremismus: Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat sich gegen die von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vorgeschlagene Verschärfung des Waffenrechts ausgesprochen. Wichtiger sei es, Verfassungsfeinde, die im Dienst Zugang zu Waffen haben, konsequent aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen, wird Buschmann von LTO zitiert. Faeser erklärte laut SZ (Paul-Anton Krüger/Roland Preuß) unterdessen in einer Sitzung des Innenausschusses, halbautomatische Waffen für Privatleute verbieten zu wollen.
Auf dem Verfassungsblog weist Rechtsprofessor Andreas Fischer-Lescano auf ein Urteil des baden-württembergischen Verwaltungsgerichtshofs aus dem Sommer 2022 hin, das die Verbotsgründe des Waffenrechts faktisch einschränke. Wenn ein Rechtsextremist mit einer rechtsextremistischen Organisation sympathisiert, unterstütze er sie damit noch nicht und sei deshalb auch nicht "unzuverlässig" im Sinne von § 5 Waffengesetz (WaffG).
Disziplinarrecht/Extremismus: zdf.de (Charlotte Greipl) bringt einen Überblick über den Gesetzentwurf der Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zur Beschleunigung des Disziplinarverfahrens, der noch vor Weihnachten in die Ressortabstimmung gehen soll. Kern der Reform ist die Schaffung einer Befugnis des Dienstherrn, Beamt:innen per Disziplinarverfügung aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen bzw. Pensionär:innen das Ruhegehalt abzuerkennen.
Demokratieförderung: Die Bundesregierung hat den Gesetzentwurf für ein Demokratieförderungsgesetz beschlossen, das die dauerhafte finanzielle Unterstützung von Vereinen und Organisationen vorsieht, die sich für die Stärkung der Demokratie und für die Prävention gegen Extremismus einsetzen. Es berichten FAZ (Helene Bubrowski), taz (Konrad Litschko) und Welt (Marcel Leubacher).
Einbürgerung: Im Staat und Recht-Teil der FAZ gehen Kay Hailbronner und Ferdinand Weber, Rechtsprofessor und Wissenschaftlicher Mitarbeiter, ausführlich auf die aktuelle Debatte zum Staatsangehörigkeitsrecht ein, die sie als unterkomplex kritisieren. So werde regelmäßig vergessen, dass im nationalen Recht und im Unionsrecht dauerhafte Aufenthaltstitel als "lebensweltlicher Alternativstatus" eingerichtet wurden. Plausibel sei aber ein Kommunikationsproblem gegenüber noch nicht informierten, aber einbürgerungswilligen Menschen. Anders als bei der Gesetzgebungsarbeit entfalle hier jedoch der Lohn der politischen Aufmerksamkeit.
Justiz
BVerfG zu Auskunft über Verfassungsschutz: Die verweigerte Beantwortung einer Frage nach der Zahl der ins Ausland entsandten Mitarbeiter:innen des Bundesamts für Verfassungsschutz verletzte den FDP-Bundestagsabgeordneten Konstantin Kuhle in seinem parlamentarischen Fragerecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG). Dies hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts auf Organklage von Kuhle entschieden. Das BVerfG erteilte nun der Argumentation der Bundesregierung eine Absage, die gegenüber einfachen Abgeordneten jedwede Information über den Verfassungsschutz verweigern wollte. Es gebe keine entsprechende Bereichsausnahme für Fragen nach Geheimdiensten. Die Existenz des Parlamentarischen Kontrollgremiums solle die Effizienz parlamentarischer Kontrolle verbessern und nicht das Fragerecht einfacher Abgeordneter beschränken. Es berichten FAZ (Marlene Grunert), taz (Christian Rath) und LTO (Markus Sehl).
BVerwG zu Fehmarnbelttunnel: Das Bundesverwaltungsgericht hat zwei Klagen von Umweltverbänden wegen der Zerstörung von Riffen beim Bau des Fehmarnbelttunnels abgewiesen und damit den Planer:innen des Lands Schleswig-Holstein Recht gegeben, die eine Befreiung vom Verbot der Beeinträchtigung der Riffe erteilten. Die Umweltverbände wollten laut LTO mit den Klagen größere Ausgleichsflächen für die zerstörten Riffe erreichen.
BAG – Verjährung von Urlaubsansprüchen: Im Expertenforum Arbeitsrecht geht Rechtsanwalt Ruven Bäsemann auf die am 20. Dezember erwartete Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ein, die sich mit der Verjährung von Urlaubsansprüchen auseinandersetzen wird, wenn Arbeitgeber:innen ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkommen. Zu diesen Pflichten gehöre auch, Arbeitnehmer:innen rechtzeitig auf verbleibende Urlaubstage hinzuweisen.
VerfGH Berlin zu Berlin-Wahlen: Auf dem JuWissBlog analysiert Kubilay Yalçın, Doktorand und Bezirksverordneter in Tempelhof-Schöneberg, das Urteil des Verfassungsgerichtshofs Berlin zu den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und kritisiert die Entscheidung vor allem dafür, bei der Abwägung zwischen Bestands- und Korrekturinteresse weder ausreichend in die Argumentation eingestiegen zu sein noch belastbare Maßstäbe für künftige Fälle entwickelt zu haben.
LG Frankfurt/M. – OB Peter Feldmann: Im Korruptionsprozess gegen den abgewählten Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) hat die Staatsanwaltschaft eine Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 175 Euro beantragt. Dem Angeklagten sei u.a. klar gewesen, dass seine Partnerin seinerzeit die Stelle als Kita-Leiterin nur bekommen habe, weil er Oberbürgermeister war. Die FAZ (Anna-Sophia Lang) berichtet.
LG Hamburg zu korruptem Schöffen: Das Landgericht Hamburg verurteilte einen Schöffen wegen schwerer Bestechlichkeit zu zwei Jahren Haft auf Bewährung, wobei strafmildernd berücksichtigt wurde, dass sich der Prozess jahrelang hinzog. Der Schöffe hatte versucht, einen Angeklagten zu einer Zahlung von insgesamt 40.000 Euro zu bewegen, damit er und der andere Schöffe eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe verhinderten. Der Angeklagte ging jedoch nicht darauf ein und half stattdessen, den korrupten Schöffen zu überführen. zeit.de (Elke Spanner) berichtet.
LG Berlin – Abou Chaker/Bushido: spiegel.de (Wiebke Ramm) berichtet über die Vernehmung des Zeugen Veysel K., der von einem türkischen Gericht aus zugeschaltet wurde, weil er als Intensivstraftäter aus Deutschland ausgewiesen wurde. Er habe Bushido nun der Falschaussage vor Gericht bezichtigt, im Laufe der Vernehmung jedoch immer mehr widersprüchliche Angaben gemacht, die starke Zweifel am Beweiswert seiner Aussage aufkommen ließen.
GenStA S-A – Geiselnahme durch Attentäter: Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg hat "wegen der Bedeutung des Falles" die Ermittlungen gegen Stephan Balliet übernommen. Der zu lebenslanger Haft verurteilte Attentäter von Halle hatte am Montag in der JVA Burg zwei Bedienstete als Geiseln genommen, um seine Freilassung zu erzwingen. Er konnte dann aber überwältigt werden. Es berichten FAZ (Reinhard Bingener) und LTO.
StA Neuruppin – Klimaproteste/kriminelle Vereinigung: Jost Müller-Neuhof (Tsp) kommentiert die jüngsten Razzien bei Klimaaktivist:innen. Der Vergleich mit den Razzien bei den ungleich gefährlicheren putschwilligen Reichsbürger:innen bringe nicht weiter. Die "Letzte Generation" müsse es nun akzeptieren, dass sie als "kriminelle Vereinigung" gem. § 129 StGB angesehen werde. "Straftaten sind ihr Geschäftsmodell. Je stärker sie es ausreizen, desto stärker werden sie kriminalisiert. Zur Beruhigung: Lange Gefängnisstrafen drohen vorerst keine."
Recht in der Welt
Türkei – Ekrem Imamoglu : Der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu (CHP) ist wegen Beleidigung zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt worden, weil er Mitglieder der Wahlbehörde rund um die Kommunalwahlen 2019 als "Idioten" bezeichnet haben soll. Er gilt als potentieller Herausforderer Erdogans bei den für 2023 geplanten Wahlen, schreibt faz.net. Das Urteil sei mit einem Politikverbot verbunden.
USA – Homo-Ehe: US-Präsident Joe Biden hat ein Gesetz zum Schutz gleichgeschlechtlicher Ehen unterzeichnet, nach dem alle US-Bundesstaaten die in anderen US-Bundesstaaten geschlossenen gleichgeschlechtlichen Ehen anerkennen müssen. Dies meldet die SZ.
Juristische Ausbildung
Referendariat: LTO-Karriere bietet einen aktuellen Überblick zum Ablauf des Referendariats, den anzufertigenden Abschlussarbeiten und der Unterhaltsbeihilfe in den einzelnen Bundesländern.
Jura-Bachelor: Der bayerische Justizminister Georg Eisenreich (CSU) hat sich gegen die flächendeckende Einführung eines Jura-Bachelors ausgesprochen. Dies sei nur dann sinnvoll, wenn zusätzliche Kompetenzen etwa im Bereich Wirtschaftswissenschaften oder Legal-Tech erworben würden. Letztlich liege die Entscheidung einer Einführung aber bei den Universitäten, wird er in der FAZ (Stephan Klenner) zitiert.
Sonstiges
Sanktionen gegen Russland/Russisches Haus in Berlin: Obwohl das "Russische Haus der Wissenschaft und Kultur" in Berlin von einer sanktionsbetroffenen russischen Agentur betrieben wird, sind Berliner Behörden bislang nicht gegen die kommerzielle Weiternutzung eingeschritten. Für LTO erläutert Rechtsanwalt Patrick Heinemann die rechtlichen Grundlagen der Sanktionsdurchsetzung und sieht hier bei der Frage der Zuständigkeit einen Fall des Beamtenmikados ("Wer sich zuerst bewegt, verliert").
Klimaproteste/Notwehr: In der Zeit legen die Rechtsprofessor:innen Frauke Rostalski, Thomas Weigend und Elisa Hoven dar, weshalb sie das Wegtragen bzw. behutsame Ablösen von der Straße von Klimaktivist:innen durch betroffene Autofahrer:innen als vom Notwehrecht umfasst ansehen. Sie verweisen dabei insbesondere darauf, dass für die Notwehrlage ein rechtswidriger Angriff ausreiche, ohne dass der Tatbestand einer Nötigung (insbesondere die Verwerflichkeit) vorliegen müsse.
Das Letzte zum Schluss
Wird "Brad Pitt" eingeschläfert? Halb Los Angeles bangt um "Brad Pitt", der in den letzten Wochen wiederholt auf Privatgrundstücke eingedrungen ist und dabei u.a. zwei Chihuahuas angriff. Dem Kult-Puma, der eigentlich "P-22" heißt und im Griffith Park in Los Angeles lebt, scheint es nämlich gesundheitlich nicht gut zu gehen, sodass nach einer Untersuchung nun ein Einschläfern in Erwägung gezogen wird. Seinen Spitznamen erhielt er übrigens nicht nur wegen seines guten Aussehens, sondern auch wegen seines Pechs in der Liebe, schreibt die SZ (Jürgen Schmieder).
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LTO/jpw/chr
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Die juristische Presseschau vom 15. Dezember 2022: . In: Legal Tribune Online, 15.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50476 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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