Justiz- und Umweltministerium streiten um Ausgestaltung von Verbraucherschutz-Verbandsklagen. Berliner Gericht zweifelt an Verwertbarkeit von Encrochat-Daten und legt dem EuGH vor. Der US-Supreme Court verhandelte über Affirmative Actions.
Thema des Tages
Verbraucherschutz-Verbandsklagen: Laut Welt (Constantin van Lijnden) ist fraglich, ob Deutschland die "EU-Richtlinie über Verbandsklagen zum Schutz von kollektiven Verbraucherinteressen" rechtzeitig, d.h. bis Ende dieses Jahres umsetzen kann. Grund seien anhaltende Meinungsverschiedenheiten von Justiz- und Verbraucherschutzministerium bei der Frage, bis wann sich Verbraucher:innen einer solchen Verbandsklage anschließen können. Der Referentenentwurf von Justizminister Marco Buschmann (FDP) sieht einen Beitritt nur bis zum ersten Gerichtstermin vor, damit beklagte Unternehmen die möglicherweise auf sie zukommenden Prozesskosten besser abschätzen und in Vergleichsverhandlungen berücksichtigen können. Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne), die auch für Verbraucherschutz zuständig ist, sieht hier jedoch die Gefahr einer künstlichen Hürde, die viele Verbraucher:innen letztlich doch zwingen könnte, selbst zu klagen und somit mögliche Effizienzgewinne zunichte mache. Beide Positionen werden inzwischen durch Rechtsgutachten bestärkt.
Rechtspolitik
Jumiko - Kinderpornografie: Die Bundesländer Brandenburg und Hamburg möchten die im letzten Jahr beschlossene Verschärfung von § 184b Strafgesetzbuch (StGB) rückgängig machen. Damals war Besitz und Verbreitung von Kinderpornographie zum Verbrechen heraufgestuft worden, ohne zugleich einen minderschweren Fall einzuführen. Inzwischen zeigt sich, dass häufig Eltern und Lehrer verfolgt werden müssen, die bei ihren Schützlingen Kinderpornografie entdecken und/oder andere Eltern informieren. In solchen Fällen können derzeit Strafverfahren nicht mehr eingestellt werden. Die Beschlussvorlage der beiden Länder für die am 10. November anstehende Herbstkonferenz der Justizminister:innen (Jumiko) wird auch von Bayern und Nordrhein-Westfalen unterstützt, ebenso vom Deutschen Anwaltverein und vom Deutschen Richterbund. LTO (Hasso Suliak) berichtet.
Wahlprüfung: In der Diskussion um eine mögliche Reform des Wahlprüfungsverfahrens plädiert der Vertretungsprofessor Alexander Brade auf dem Verfassungsblog für ein Beibehalten des zweistufigen Verfahrens mit dem Bundesverfassungsgericht als Kontrollinstanz. Ob in erster Instanz statt dem Bundestag ein Wahlprüfungsgericht entscheiden könnte, hält er für nicht so entscheidend wie einfachgesetzliche Änderungen hin zu kürzeren Einspruchsfristen und zur Einführung von festen Entscheidungsfristen.
Volksverhetzung: Auf Libra fordert Rechtsprofessorin Elisa Hoven eine Beschränkung des kürzlich reformierten § 130 Abs. 5 Strafgesetzbuch (StGB) auf Völkerrechtsverbrechen, die bereits von internationalen Gerichten festgestellt wurden. Nur so könne einer zu erwartenden Überforderung der Justiz begegnet werden. In der aktuellen Fassung des Tatbestandes obliege es sonst den (Amts-)Gerichten, das Vorliegen von Kriegsverbrechen festzustellen, deren Billigung, Leugnung oder Verharmlosung nunmehr unter Strafe gestellt worden ist.
Umweltkriminalität: Die FAZ (Katja Gelinsky) berichtet über die Kritik des Bundesjustizministeriums an den Plänen der EU zur Verschärfung des Umweltstrafrechts. Insbesondere bei Sanktionen wie der geplanten Veröffentlichung von Verurteilungen, dem Verlust des passiven Wahlrechts oder der Auflösung von Unternehmen habe Justizminister Marco Buschmann (FDP) für eine optionale Ausgestaltung geworben. Umweltschützer:innen befürchten, dass gerade auch wegen des Widerstands der Bundesregierung das geplante Sanktionsregime am Ende deutlich schwächer ausfallen könne als von der EU-Kommission geplant.
Digitale Märkte: Auf dem Handelsblatt-Rechtsboard erklärt Rechtsanwalt René Galle die wichtigsten Mechanismen der EU-Verordnung "Digital Markets Act", die am gestrigen Dienstag in Kraft trat und sechs Monate später, ab dem 2. Mai 2023, anwendbar sein wird.
Justiz
LG Berlin – Encrochat: Die 25. Große Strafkammer des Berliner Landgerichts hat die Verhandlung in einem Encrochat-Verfahren ausgesetzt und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) Fragen zur Zulässigkeit der Datenerhebung und Verwertung von Encrochat-Daten zur Vorabentscheidung vorgelegt. Konkret geht es um 14 Fragen zur Auslegung der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen. So wollen die Richter:innen z.B. wissen, ob Daten von Frankreich nach Deutschland übermittelt werden dürfen, auch wenn die Datenerhebung in Deutschland unzulässig wäre. Der Bundesgerichtshof hatte im März eine Verwertbarkeit der Daten von in Frankreich gehackten Encrochat-Kryptohandys bejaht. Der Spruchkörper des Berliner Landgerichts hatte schon 2021 gegen die Nutzung der Daten geurteilt. LTO berichtet.
LG Wiesbaden zu Cum-Ex/Hypovereinsbank: Das Landgericht Wiesbaden hat die beiden ehemaligen Mitarbeiter der Hypovereinsbank Andreas B. und Michael G. für ihre Beteiligung an Aktiengeschäften rund um den Cum-Ex-Skandal jeweils zu Bewährungsstrafen verurteilt. Dass trotz dieses Urteils viele Fragen offengeblieben seien, führt die Vorsitzende Richterin darauf zurück, dass viele Zeugen mittlerweile selbst Beschuldigte seien. Es berichten FAZ (Marcus Jung), Hbl (René Bender u.a.) und zeit.de.
BVerwG zur isolierten Anfechtung von Nebenbestimmungen: Der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat sich in einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung vom März dieses Jahres gegen die Rechtsprechung des 8. Senats zur isolierten Anfechtung von Nebenbestimmungen eines Verwaltungsaktes gestellt. Der 4. Senat entschied, dass eine isolierte Anfechtung von Nebenbestimmungen auch dann begründet sein kann, wenn der verbleibende Verwaltungsakt rechtswidrig ist, der Wegfall der rechtswidrigen Nebenbestimmung hierfür aber nicht kausal war. Auf dem JuWissBlog stellt Lennart Kokott, wissenschaftlicher Mitarbeiter, die Entscheidung vor. Es könnte zu einer Entscheidung durch den Großen Senat beim BVerwG kommen.
BVerwG – U-Ausschuss Hanau/Aktenschwärzungen: Der parlamentarische Untersuchungsausschusses des hessischen Landtags zu den rassistisch motivierten Morden von Hanau geht beim Bundesverwaltungsgericht mit einem Eilantrag gegen den Generalbundesanwalt vor und verlangt die Lieferung ungeschwärzter Akten. Das Arbeiten mit geschwärzten Akten behindere die Arbeit des Ausschusses, der etwaiges Versagen der Behörden aufklären soll. zeit.de (Lisa-Marie Eckardt) berichtet.
VG Berlin zu Feuerwehrbewerber mit HIV: Nun berichtet auch die taz-berlin (Hanna Fath) über eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin vom 19. Oktober. Das Gericht hat einem Bewerber für den feuerwehrtechnischen Dienst eine Entschädigung in Höhe von 2.500 Euro zugesprochen, weil ihn die Ablehnung allein aufgrund eines positiven HIV-Testes diskriminiert habe. Entscheidend war dabei, dass er als "dauerhaft feuerwehrdienstuntauglich" eingestuft wurde, obwohl dies nicht dem aktuellen medizinischen Kenntnisstand entspreche.
LG Frankfurt/M. – Sommermärchen und Steuerhinterziehung: Die Staatsanwaltschaft Frankfurt/M. hat laut SZ (Johannes Aumüller) sofortige Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens gegen die drei früheren DFB-Funktionäre Wolfgang Niersbach, Horst R. Schmidt und Theo Zwanziger eingelegt. Das Landgericht Frankfurt/M. hatte das Steuerhinterziehungs-Verfahren vorige Woche eingestellt, weil ein Schweizer Gericht ein paralleles Verfahren gegen die drei im Zusammenhang mit Millionenzahlungen rund um die Vergabe der WM 2006 wegen Verjährung eingestellt hatte und diese Entscheidung auch in Deutschland einen Strafklageverbrauch zur Folge habe.
Für Johannes Aumüller (SZ) sind die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels "überschaubar". Vielmehr ist die Geschichte der Ermittlungen für ihn "auch die Geschichte eines Justizversagens – insbesondere der Schweizer Bundesanwaltschaft". Die aus seiner Sicht zentralen Figuren - der deutsche WM-Organisationschef Franz Beckenbauer und der katarische Fifa-Funktionär und Geldempfänger Mohamed bin Hamman - seien von der Justiz weitgehend in Ruhe gelassen worden.
StA Berlin - Klimaproteste: Weil bei den Klimaprotesten auf der Berliner Autobahn ein Rettungseinsatz verzögert worden sein soll, ermittelt die Berliner Polizei nunmehr auch wegen Behinderung von hilfeleistenden Personen nach § 323c Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB). Dies berichtet u.a. LTO. Für Rechtsprofessor Michael Kubiciel kommt laut SZ auch der Vorwurf einer fahrlässigen Körperverletzung in Betracht, wenn nachgewiesen werden könne, dass es eine durch die Sitzblockade ausgelöste Verzögerung gegeben habe, die die Schmerzen des betroffenen Unfallopfers gesteigert habe.
Gunnar Schupelius (bild.de) ruft die Strafjustiz dazu auf, zumindest Wiederholungstäter "abschreckend" zu bestrafen. Außerdem sollen Autofahrer:innen die Klimaaktivist:innen zivilrechtlich auf Schadensersatz für im Stau verlorene Zeit, Aufträge und Geld verklagen.
KI in der Justiz: Auf Libra stellen die Richter:innen Christina-Maria Leeb, Simon J. Heetkamp und Christian Schlicht verschiedene Projekte von Bund und Ländern für den Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Justiz vor. So soll z.B. das Mahnverfahren und die Erteilung von Erbscheinen durch Chatbots unterstützt werden und der Einsatz von Spracherkennungssoftware künftig die aufwendige eigenständige Protokollierung von Zivilrichter:innen ersetzen.
Recht in der Welt
USA – Affirmative Action/Harvard: Der US-Supreme Court der Vereinigten Staaten verhandelt derzeit über eine Regelung, die es amerikanischen Universitäten vorschreibt, bei der Zulassung zum Studium unterrepräsentierte Minderheiten zu bevorzugen ("Affirmative Action"). Die Gruppe "Studenten für faire Zulassungen" hatte unter gegen die Praxis an der Elite-Uni Harvard geklagt, weil die Regelung Weiße und Menschen mit asiatischen Wurzeln benachteilige. Die jüngst ernannte Verfassungsrichterin Ketanji Brown äußerte sich in der Anhörung irritiert darüber, dass weiterhin bei der Zulassung Faktoren wie Elternschaft, ein Veteranenstatus oder eine Behinderung berücksichtigt werden sollen, nicht aber die Zugehörigkeit zu einer Minderheit. Die konservative Mehrheit der Obersten Richterinnen und Richter zeigte sich hingegen kritisch gegenüber der bestehenden Regelung. Laut FAZ (Sofia Dreisbach) ist mit einer Entscheidung erst im Juni zu rechnen.
USA – Trump/Steuerunterlagen: Auf Antrag des früheren US-Präsidenten Donald Trump hat der US-Supreme Court die Herausgabe von Steuerunterlagen an einen Ausschuss des Repräsentantenhauses vorerst gestoppt. Eigentlich hätten Trumps Steuerunterlagen ab diesem Donnerstag übergeben werden sollen. Der Kongress-Ausschuss hat laut LTO nun bis zum 10. November Zeit für eine Reaktion auf den Antrag.
Großbritannien – Julian Assange: Anlässlich der anstehenden letztinstanzlichen Entscheidung des High Court of England and Wales zur Auslieferung von Wikileaks-Gründer Julian Assange an die USA hat sich Rechtsreferendar Henning Goeke auf dem Verfassungsblog Gedanken über den weiteren (juristischen) Verlauf des Verfahrens gemacht. Denkbar sei eine Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dem Erlass einer den Vollzug der Auslieferung hindernden vorläufigen Maßnahme könnten jedoch die diplomatischen Zusicherungen der US-Regierung entgegenstehen, Assange keiner menschenrechtswidriger Behandlung auszusetzen.
Sonstiges
Parlamentarische Monarchien: Im FAZ-Einspruch spricht sich Philosophieprofessor Dietmar von der Pfordten gegen die Abschaffung parlamentarischer Monarchien aus. Insbesondere die Stabilisierungsfunktion eines Monarchen oder einer Monarchin im Hinblick auf nationale Spannungen zwischen einzelnen Gruppen spreche für eine Aufrechterhaltung.
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LTO/jpw
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Die juristische Presseschau vom 2. November 2022: . In: Legal Tribune Online, 02.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50044 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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