Der BGH klärte in vier Entscheidungen offene zivilrechtliche Fragen des VW-Dieselskandals. Das Bundesverfassungsgericht äußerte sich erneut zum Recht auf Vergessenwerden. BFH-Präsident Rudolf Mellinghoff geht in den Ruhestand.
Thema des Tages
BGH zu VW-Dieselskandal: Der Bundesgerichtshof hat über mehrere noch ausstehende zivilrechtliche Fragen des Dieselskandals entschieden. Zum einen stellte der BGH klar, dass Käufer eines VW nach Bekanntwerden des Abgasskandals im Herbst 2015 nicht mehr damit rechnen konnten, dass die Abgastechnik den Vorgaben entspreche. Eine Täuschung und vorsätzliche sittenwidrige Schädigung von Käufern sei ab diesem Zeitpunkt nicht mehr feststellbar. Außerdem ging es um die Höhe des Schadens bei den betroffenen VW-Kunden. Der BGH kam hier zu dem Ergebnis, dass die gezogenen Nutzungen, die VW-Käufer sich anrechnen lassen müssen, den Schadensersatzanspruch gegenüber dem Konzern sogar übersteigen können. Deliktszinsen ab Zahlung des Kaufpreises erhalten die Käufer von Pkw mit unzulässigen Abschalteinrichtungen nicht. Derzeit sind nach Angaben des Autobauers noch ca. 60.000 Verfahren anhängig. Eine ausführliche Darstellung der Urteile findet sich bei LTO (Pia Lorenz). Die FAZ (Carsten Germis/Marcus Jung), taz (Christian Rath), das Hbl (Frank M. Drost) und tagesschau.de berichten ebenso.
Für Pia Lorenz (LTO) habe der BGH "auf der Grundlage geltenden Rechts nachvollziehbare Urteile gefällt; mal gegen, mal für VW". Insgesamt sei jedoch "ganz klar VW der Gewinner". Die Prozessstrategie des Konzerns, Grundsatzurteile möglichst lange zu verhindern, sei aufgegangen und so habe der Konzern mit juristisch legitimen Mitteln eine "geradezu meisterhafte Schadensbegrenzung" betrieben. Je länger sich Prozesse hinzogen, desto höher wurden nämlich auch die gezogenen Nutzungen, die VW-Käufer sich anrechnen lassen müssen.
Rechtspolitik
Wahlalter: Die SPD fordert die Absenkung des aktiven und passiven Wahlalters auf 16 Jahre für alle Kommunal-, Landtags-, Bundestags- und Europawahlen, erklärte die Bundesfamilien- und Jugendministerin Franziska Giffey (SPD). Das berichtet u.a. spiegel.de. In elf Bundesländern gibt es bereits auf kommunaler Ebene ein Wahlrecht ab 16, in vier Bundesländern sogar auf Landesebene.
Markus C. Schulte von Drach (SZ) begrüßt den Vorstoß. Mit Bezug auf die Klimakrise stellt er die Frage, warum nur diejenigen das Wahlrecht haben sollten, die es zu ihrem kurzfristigen Vorteil nutzen, nicht aber diejenigen, die mit den Konsequenzen leben müssen. Ihr Stimmengewicht sei gering, könne jedoch einen entscheidenden Anstoß für die Regierung geben, "den Kampf gegen die Klimakrise ernsthaft aufzunehmen".
In einem Gastbeitrag für die FAZ stellt der Politiksoziologieprofessor Thorsten Faas eine von ihm geleitete Studie der FU Berlin vor, in der Chancen und Risiken des Absenkens des Wahlalters dargestellt werden. Ein großes Risiko sei, dass bei 16- oder 17-Jährigen, die nicht mehr zur Schule gingen oder zuhause wohnten, die klassischen "Zugriffsmöglichkeiten", die das Wählen fördern und fordern könnten, entfielen. Der darin "schlummernden" Gefahr sozialer Ungleichheit könne jedoch mit gezielten Maßnahmen entgegengewirkt werden. Die SZ (Sara Maria Behbehani) stellt die Studie ebenfalls vor. Darin haben die Autoren die Landtagswahlen 2019 in Brandenburg und Sachsen untersucht.
Feindeslisten: Die Große Koalition will die Veröffentlichung sogenannter "Feindeslisten" unter Strafe stellen. Als "Feindeslisten" werden bisher vor allem Namens- und Adresssammlungen bezeichnet, die von Rechtsextremisten angelegt werden und deren politische Gegner erfassen. In einem Vorschlag von CDU/CSU soll die Einschüchterung der Öffentlichkeit eine zentrale Rolle spielen, sodass rein interne Listen von der Strafnorm nicht umfasst wären. Die Koalition will laut taz (Christian Rath) im September konkrete Verhandlungen über die neue Strafnorm aufnehmen und bis dahin will auch das Bundesjustizministerium einen Vorschlag vorlegen.
Junge Unternehmensgründer: Das Hbl (Sebastian Späth) berichtet über verschiedene jugendliche Unternehmensgründer und die rechtlichen Hürden einer solchen Gründung. Bislang muss ein gesetzlicher Vertreter der Gründung zustimmen und das Familiengericht muss auf Antrag ebenso feststellen, dass keine Gefährdung der Jugendlichen zu erwarten sei. Christian Lindner (FDP) regte die Schaffung einer "Junior-GbR" an, die Jugendliche dann ohne gerichtliche Zustimmung gründen könnten.
Justiz
BVerfG zum Recht auf Vergessenwerden: Das Bundesverfassungsgericht betont in einem nun veröffentlichten Beschluss, dass eine zulässige Verdachtsberichterstattung grundsätzlich auch die langfristige Archivierung im Online-Archiv einer Zeitung rechtfertigt. Ein Anspruch auf spätere Klarstellung entstehe nur in Ausnahmefällen, etwa nach einem gerichtlichen Freispruch. Das Bundesverfassungsgericht bewahrt Online-Pressearchive damit vor weitgehenden Löschpflichten. LTO, FAZ (David Kampmann) und taz (Christian Rath) berichten.
BVerfG zur Waffengleichheit im Eilrechtsschutz: Die Maßstäbe zur prozessualen Waffengleichheit und des rechtlichen Gehörs im zivilrechtlichen Eilrechtsschutz gelten nicht nur im Presse- und Äußerungsrecht, sondern grundsätzlich auch im Wettbewerbsrecht. Das entschied das Bundesverfassungsgericht am Dienstag in einem noch nicht veröffentlichten Beschluss, der LTO (Pia Lorenz) vorliegt. Es ist bereits die dritte Entscheidung zum Themenkomplex der prozessualen Waffengleichheit binnen weniger Wochen.
BVerfG – Kohleausstieg: Nachdem der Betreiber von Kohlekraftwerken Steag kürzlich einen Eilantrag beim Bundesverfassungsgericht gegen das Gesetz über den Kohleausstieg eingereicht hat, trägt die FAZ (Julia Löhr u.a.) nun die eher zurückhaltenden Stimmen anderer betroffener Kraftwerksbetreiber zusammen. Eine Klagewelle sei nicht zu erwarten.
OLG Frankfurt/M. – Mord an Walter Lübcke: In einem Interview mit spiegel.de (Julia Jüttner) erläutert Rechtsanwalt Mustafa Kaplan, welche Folgen die Veröffentlichung von Ausschnitten einer Videovernehmung seines Mandanten, Stephan E., auf diesen habe. Er werde so ein Leben lang an den Pranger gestellt. Die Veröffentlichung des Videos werde noch juristische Folgen haben.
OLG Naumburg – Angriff auf Synagoge: Carolin Emcke (SZ) wirft die Frage auf, ab wann die Rekonstruktion eines Terroraktes und die Aufklärung über die Motive des Täters "komplizitär" werden und so unfreiwillig Propagandaarbeit für rassistische, antisemitische und misogyne Ideologien leiste. Zu oft kaschiere ohnehin der "Gestus der kritischen Auseinandersetzung nur […] voyeuristische Geilheit". Die Auseinandersetzung mit dem Täter im Fall des Angriffs auf die Synagoge in Halle* sei zwar eine Zumutung, jedoch laut Emcke eine notwendige, gar hilfreiche. In rechtsstaatlichen Verfahren könne die Selbstheroisierung der Täter demaskiert werden.
LG Hamburg – KZ-Wachmann Stutthof: Nach dem Urteil gegen einen früheren SS-Wachmann im KZ Stutthof haben nicht nur zwei Vertreter der Nebenklage Revision eingelegt, sondern jetzt auch die Verteidiger des 93-Jährigen, so LTO und spiegel.de.
LG Berlin – Andreas Kalbitz: Laut faz.net hat Ex-AfD-Landeschef Andreas Kalbitz beim Landgericht Berlin einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die Bestätigung der Annulierung seiner AfD-Mitgliedschaft durch das Bundesschiedsgericht der AfD eingereicht.
Nachfolge BFH-Präsident: Der derzeitige Präsident des Bundesfinanzhofs, Rudolf Mellinghoff, erreicht am heutigen Freitag die gesetzliche Altersgrenze und scheidet aus dem aktiven Dienst aus. Eine Nachfolge wurde noch nicht bestimmt, sodass das Bundesgericht vorerst von seiner Stellvertreterin Christine Meßbacher-Hönsch geleitet wird. Der BFH teilte laut LTO mit, dass der offizielle Amtswechsel wegen der Corona-Pandemie voraussichtlich erst Ende dieses oder Anfang kommenden Jahres stattfinden könne.
StA Frankfurt/M. – bestechlicher Staatsanwalt: Über den Korruptionsverdacht gegen einen Oberstaatsanwalt der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt berichtet nun auch die FAZ (Anna-Sophia Lang/Helmut Schwan). Zu der Art der Gutachtertätigkeit, die er gegen sogenannte Kick-back-Zahlungen immer wieder einer bestimmten Firma übertrug, äußert sich die Staatsanwaltschaft weiterhin nicht. Nach Informationen der FAZ gehe es um die Überprüfung von Abrechnungen mit der Kassenärztlichen Vereinigung. Die hessische SPD hat laut LTO (Markus Sehl) für die kommende Woche eine Sondersitzung des Rechtsausschusses im hessischen Landtag beantragt.
CAS zu Manchester City: spiegel.de (Rafael Buschmann/Christoph Winterbach) lässt anhand der nun veröffentlichten Urteilsgründe des Internationalen Sportgerichtshofs (CAS) das Verfahren gegen Manchester City Revue passieren und vergleicht zudem die im Urteil verwendeten Beweise mit neuen Dokumenten, die die Enthüllungsplattform Football-Leaks veröffentlicht hat.
Recht in der Welt
Schweiz – Gianni Infantino: Die Schweizer Staatsanwaltschaft eröffnete am Donnerstag ein Strafverfahren gegen den Chef des Fußball-Weltverbands Gianni Infantino. In dem Verfahren geht es um geheime Treffen zwischen Infantino und dem Leiter der Bundesanwaltschaft, Michael Lauber, wie u.a. SZ (Thomas Kistner), FAZ (Michael Ashelm/Johannes Ritter) und LTO berichten.
Italien – Salvinis Immunität: Der Senat in Rom hat die Immunität des Ex-Innenministers Matteo Salvini aufgehoben, so dass die Vorwürfe gegen ihn, gerettete Flüchtlinge nicht an Land gelassen zu haben, nun justiziabel sind. SZ (Andrea Bachstein) und faz.net berichten.
Ägypten – Tanzvideos auf TikTok: netzpolitik.org (Charlotte Pekel) berichtet über die Entscheidungen eines Kairoer Gerichts, das innerhalb einer Woche insgesamt sechs Influencerinnen zu mehrjährigen Haft- und hohen Geldstrafen verurteilt hat. Im sozialen Netzwerk TikTok hätten sie mit ihren Videos gegen die öffentliche Moral verstoßen.
Polen – Istanbul-Konvention: Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hat laut FAZ angekündigt, vom polnischen Verfassungsgericht überprüfen zu lassen, ob die Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen mit der polnischen Verfassung vereinbar ist. Kürzlich waren Pläne bekannt geworden, die 2015 durch Polen ratifizierte Konvention des Europarats wieder zu verlassen.
Sonstiges
Corona – Strafverfolgung mit Gästelisten: Angesichts der wiederholten Verwendung von Gästelisten für die Strafverfolgung durch die Polizei forderte nun der Gaststättenverband Dehoga eine Klarstellung der 16 Landesregierungen, ob und wie die Polizei die Corona-Gästelisten auswertet. Eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums erklärte, die Strafverfolgungsbehörden dürften nach der Strafprozessordnung auf die Kontaktdaten der Gäste zugreifen, "wenn die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen". LTO berichtet.
Flüchtlingsaufnahme: Bundesinnenminister Horst Seehofer verweigerte laut LTO und Welt (Kaja Klapsa/Sebastian Beug) seine Zustimmung zu einem Berliner Landesprogramm, bis zu 300 Migranten aus überfüllten griechischen Lagern aufzunehmen.
Druckkündigung: Im Expertenforum Arbeitsrecht erklärt Rechtsprofessor Arnd Diringer, dass die Grundsätze der Druckkündigung auch anwendbar sind, wenn ein Shitstorm in sozialen Netzwerken die Kündigung eines Mitarbeiters wegen privaten Verhaltens verlangt. Allerdings würden in solchen Fällen kaum die Voraussetzungen für eine Kündigung des Mitarbeiters vorliegen.
Das Letzte zum Schluss
Sünden: Zwei Männer hatten versucht, in einer katholischen Kirche mit einer Leine Geldscheine aus dem Opferstock zu angeln. Der Pfarrer der Gemeinde Wesseling im Erzbistum Köln hat die beiden Männer jedoch auf frischer Tat ertappt und konfrontiert. Anschließend flohen sie laut focus.de ohne die erhoffte Beute.
*Verwechslung korrigert am Tag der Veröffentlichung, 14.45 Uhr.
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Am Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.
lto/jpw
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Die juristische Presseschau vom 31. Juli 2020: . In: Legal Tribune Online, 31.07.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42367 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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