Die juristische Presseschau vom 28. Juni 2023: Bewäh­rungs­strafe für Rupert Stadler / Razzia im Erz­bistum Köln / Bernd Rüthers ist tot

28.06.2023

Das erste Strafurteil im Diesel-Skandal brachte Bewährungsstrafen für Audi-Manager. Bei ihren Ermittlungen gegen Kardinal Woelki ließ die StA Köln Gebäude des Erzbistums durchsuchen. Rechtsprofessor Bernd Rüthers ist gestorben.

Thema des Tages

LG München II – Ex-Audi-Chef Stadler: Am Landgericht München II ist der frühere Audi-Chef Rupert Stadler nach 172 Verhandlungstagen wegen Betruges zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt worden. Die mitangeklagten Motorenentwickler Wolfgang Hatz sowie Giovanni P. erhielten Bewährungsstrafen in ähnlicher Höhe. Alle Angeklagten müssen zudem Geldauflagen leisten und die Kosten des Verfahrens tragen. Bei Stadler betragen die Geldauflagen 1,1 Millionen Euro, bei Hatz 400.000 Euro und bei P. 50.000 Euro. Stadler hatte zunächst vehement seine Unschuld beteuert und verbrachte wegen Verdunkelungsgefahr auch vier Monate in Untersuchungshaft. Das jetzt verkündete Urteil entspricht im Wesentlichen der zwischen den Beteiligten erzielten Verständigung von Mai. Lediglich im Fall Hatz hatte die Staatsanwaltschaft eine Gefängnisstrafe gefordert. Über die Entscheidung berichten SZ (Stephan Radomsky), FAZ (Henning Peitsmeier), Hbl (Volker Votsmeier) und LTO.

Angesichts einer von Stadler mitverantworteten Schadenssumme von mehr als 40 Millionen Euro spricht Klaus Ott (SZ) im Leitartikel von "Klassenjustiz". Nicht allein die Bewährungsstrafe, vor allem die Stadler nicht zum "armen Mann" machende Geldauflage belege, dass "gleicher" ist, wer "viel Geld hat und sich erfahrene, paragrafensichere und wortgewandte Anwälte leisten kann." Nur solcherart Privilegierte seien in der Lage, verfahrensabkürzende Verständigungen mit Gerichten aushandeln zu können. Nach Meinung von Volker Votsmeier (Hbl) stellen die "taktischen Geständnisse" der Angeklagten und hiernach verkündeten Urteile dem Rechtsstaat ein "Armutszeugnis" aus. Es bleibe unverständlich, warum dem Gericht "nach einem derartigen Verhandlungsmarathon" der Mut gefehlt habe, "ein klares Urteil zu fällen."

Rechtspolitik

Geschlechtliche Selbstbestimmung: Im Leitartikel macht Heike Schmoll (FAZ) darauf aufmerksam, dass sich das geplante Selbstbestimmungsgesetz offenbar wegen "Einwänden verschiedener Ministerien" noch immer in der Ressortabstimmung befinde. Der Entwurf unternehme "den Versuch, die Kategorie 'Geschlecht' juristisch abzuschaffen, obwohl sie biologisch wie sozial Realität" bleibe. Die eigene Geschlechtszugehörigkeit selbst definieren zu wollen, entspringe "der Vorstellung, über das Körperliche, Psychische und Soziale vollständig selbst" zu verfügen.

Gesetzgebung: Die SZ (Robert Roßmann) greift die Kritik an Tempo und Ablauf von Gesetzgebungsverfahren auf. In ihrem Koalitionsvertrag habe die Ampel vereinbart, die Qualität der Gesetzgebung zu verbessern. Mit kurzen Anhörungsfristen und vielfach auf den letzten Drücker erfolgenden Änderungen sei dies bislang nicht gelungen.

Verpackungsmüll: Über eine Novellierung des Verpackungsgesetzes will Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) ein größeres Mehrwegangebot sicherstellen. So sollten z.B. Supermärkte Getränke auch immer in mindestens einer Mehrwegverpackung anbieten müssen. Die Pläne werden von FAZ (Katja Gelinsky) und SZ (Kassian Stroh) vorgestellt.

Sozialisierung von Wohnungsunternehmen: An ihrem heutigen 79. Geburtstag wird die frühere Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) den Bericht der von ihr geleiteten Berliner Expertenkommission zur Vergesellschaftung großer Wohnungsunternehmen vorstellen. Die FAZ (Markus Wehner) widmet der Juristin aus diesem Grund ein Porträt und mutmaßt, dass die Mehrheit der Kommission, deren Arbeit von Beginn an "unter keinem guten Stern" gestanden habe, für die Umsetzung des Berliner Volksentscheids vom September 2021 keine wesentlichenen rechtlichen Hürde feststellen werde.

Das wahrscheinliche Ergebnis der Kommissionsarbeit entlarve die gegen die Initiative vorgebrachten Argumente, schreibt Erik Peters (taz) im Leitartikel. Auch bei einer Entschädigungspflicht "käme die Stadt deutlich günstiger weg als bei der aktuellen Ankaufpolitik". Sie würde hiermit den sozialen Frieden fördern.

EP-Wahlrecht: in Luxemburg haben sich nach Darstellung der FAZ (Thomas Gutschker) die Europaminister auf einen Termin für die nächste Wahl des Europaparlaments verständigen können, darüber hinaus gehende Änderungen des Wahlrechts jedoch abgelehnt. Die nächste Wahl finde daher vom 6. bis zum 9. Juni 2024 nach dem bislang geltenden Recht statt. Es wird damit weder institutionalisierte Spitzenkandidat:innen geben noch transnationale Listen.

Justiz

StA Köln – Kardinal Woelki/Meineid: Im Auftrag der Staatsanwaltschaft Köln hat die Polizei Räumlichkeiten des Erzbistums Köln durchsucht. Die Razzia diene der Erkenntnisgewinnung bei den Ermittlungen gegen Kardinal Rainer Maria Woelki, berichten SZ (Christian Wernicke/Annette Zoch), zeit.de (Georg Löwisch) und LTO. Gegen ihn werde wegen des Verdachts des Meineids und falscher eidesstattlicher Versicherung ermittelt. Im Rahmen einer presserechtlichen Auseinandersetzung hatte der Kleriker am Landgericht Köln angegeben, sich erst im Juni 2022 mit Missbrauchsvorwürfen gegen einen mittlerweile verstorbenen Kirchenfunktionär befasst zu haben. Konkret seien ihm Dokumente zu diesem sowie einem weiteren Missbrauchsfall nicht bekannt. Journalistische Recherchen hatten daraufhin ergeben, dass Woelki bei anderen Gelegenheiten einen ihm angeblich unbekannten Brief durchaus erwähnte.

Nach dem Eindruck von Reinhard Müller (FAZ) soll die jetzige Härte der Ermittler:innen "auch die Sünden der Vergangenheit" kompensieren. Obwohl heutzutage viel gutzumachen sei, bleibe doch "Augenmaß" weiterhin nötig. "Anders als ihre Opfer" können die Kirche und ihre Amtsträger "auf rechtsstaatliche Verfahren hoffen."

BGH – Amazon gegen BKartA: Die 2021 im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen erweiterten Kontrollbefugnisse des Bundeskartellamts gegenüber Digitalkonzernen (§ 19a GWB) verstoßen wohl weder gegen das Grundgesetz noch gegen die EU-DMA-Verordnung. Dies zeichnete sich in der Verhandlung des Bundesgerichtshofs zu einer Klage von Amazon ab. Das Bundeskartellamt hatte den Online-Händler als Unternehmen mit "überragender marktübergreifender Bedeutung" eingestuft – Voraussetzung für die erweiterte Missbrauchsaufsicht des BKartA. Gegen diesen Bescheid klagte Amazon. Zunächst ging es am erstinstanzlich zuständigen Kartellsenat des BGH nur um die Rechtmäßigkeit von § 19a GWB. Der BGH wird dem Europäischen Gerichtshof wohl die Frage vorlegen, ob die GWB-Änderung damals hätte notifiziert werden müssen. Die taz (Christian Rath) berichtet.

BGH zu Fluggastrechten/Corona: Vorbehaltlich freier Plätze dürfen Reisende, deren Flug annuliert worden ist, selber bestimmen, wann sie einen kostenlosen Ersatzflug antreten möchten. Dies entschied laut LTO der Bundesgerichtshof im Falle coronabedingter Flugannulierungen der Lufthansa. Die Airline hatte von betroffenen Fluggästen bei Umbuchungen einen Aufpreis verlangt.

BGH zu Thermofenstern: Das am Montag verkündete Urteil des Bundesgerichtshofs zu Schadensersatzansprüchen gegenüber Herstellern von Diesel-PKWs mit sogenannten Thermofenstern wird im SWR-RadioReportRecht (Klaus Hempel/Max Bauer) ausführlich besprochen.

OLG Hamm zu Online-Hetze: Das Oberlandesgericht Hamm hat als Revisionsinstanz die gegen einen Corona-Leugner verhängte Geldstrafe bestätigt, die diesbezügliche Begründung durch die Vorinstanz jedoch verworfen. Eine auf Facebook veröffentlichte Fotomontage, die den Pressesprecher der Hamburger Polizei und einen hohen SS-Funktionär zeigt, stelle nicht lediglich einen Verstoß gegen das Kunsturhebergesetz dar. Strafbar sei auch die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, so die rechtskräftige Entscheidung, über die LTO berichtet.

VG Berlin – Klimaprotest/Polizeilicher Schmerzgriff: Darf die Polizei Klimakleber der Letzten Generation unter Anwendung eines sogenanntes Schmerzgriffs von der Straße bringen? Mit dieser Frage beschäftigt sich das Verwaltungsgericht Berlin aufgrund einer LTO (Max Kolter) vorliegenden Feststellungsklage. Einen Eilantrag hatte das Gericht bereits Anfang Mai wegen Erledigung abgewiesen. Der Kläger legte nun dar, dass der Schmerzgriff unverhältnismäßig und auch nicht von Normen zum unmittelbaren Zwang gedeckt gewesen sei. Auch seien Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit und Versammlungsfreiheit sowie das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention verletzt. Ein Verhandlungstermin sei noch nicht bekannt.

VG Köln – Junge Alternative: Im FAZ-Einspruch schreiben nun auch Rechtsprofessor Markus Ogorek und Referent Luca Manns über die vor zwei Wochen bekannt gewordene Stillhalteerklärung des Bundesamts für Verfassungsschutz im Eilverfahren am Verwaltungsgericht Köln zur Einstufung der AfD-Nachwuchsorganisation Junge Alternative. Nach dieser Erklärung werde die amtliche Einstufung der JA als "gesichert extremistische Bestrebung" vorläufig nicht angewandt. Die Erklärung folge allein prozessualen Erwägungen. Materiell sprächen "viele gute Gründe für die Einstufung", wie die Autoren vertieft darlegen.

AG München – Letzte Generation als kriminelle Vereinigung: Der SZ (Ronen Steinke) liegt interner Schriftverkehr mehrerer Ermittlungsbehörden vor, der zeigt, dass die Staatsanwaltschaften (inklusive Generalbundesanwalt) bis in den letzten Herbst die Einstufung der "Letzten Generation" als kriminelle Vereinigung ablehnten. Erst die Generalstaatsanwaltschaft München habe dann ein entsprechendes Ermittlungsverfahren eingeleitet. Eine in diesem Zusammenhang veranlasste Überwachung des Pressestelefons der Gruppe sei indes im April nicht mehr verlängert worden. Dies beruhe auf einer veränderten Einschätzung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme.  Über letzteres berichtet auch LTO. Im Interview mit der taz (Adenfunmi Olanigan) erklärt Rechtsanwältin Renate Schmid die Voraussetzungen der Abhörmaßnahme und deren grundrechtliche Problematik.

Recht in der Welt

USA – Gerrymandering: Der US-Supreme Court hat mit 6 zu 3 Stimmen klargestellt, dass Gerichte der Bundesstaaten die Befugnis besitzen, die jeweiligen verfasssungsrechtlichen Vorschriften durchzusetzen. Hiernach konnte das Oberste Gericht des Bundesstaats North Carolina eine im vergangenen Jahr von der dortigen republikanisch bestimmten Legislative beschlossene manipulative Neuzuschneidung von Wahlkreisen aufheben. Der US-Supreme Court hat damit der sogenannten "Independent State Legislature"-Doktrin eine Absage erklärt, wonach über Wahlregeln nur die Gesetzgeber der Staaten (nicht aber Gerichte) entscheiden können. spiegel.de.

Fabian Fellmann (SZ) findet es beruhigend, "dass die einzelnen Richter und das Gremium nicht blind parteipolitischen Linien folgen". Gelegenheit hierfür bestünde auch so genug.

Juristische Ausbildung

OVG Koblenz zu Examensbewertung: Eine Regelung der rheinland-pfälzischen Juristischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung, nach der die Zulassung zum mündlichen Teil des Ersten Staatsexamens voraussetzt, drei Aufsichtsarbeiten aus zwei verschiedenen Pflichtfächern zu bestehen, ist nach einem nun veröffentlichten Urteil des Oberverwaltungsgerichts Koblenz von Ende Mai rechtens. Dass die vor Gericht unterlegene Klägerin trotz mehrerer nicht bestandener Klausuren auf einen Notendurchschnitt von über vier Punkten gekommen ist, ändere hieran ebenso wenig wie abweichende Regeln in anderen Bundesländern. Diese Abweichungen verstießen nur dann gegen den Grundsatz der Einheitlichkeit von Prüfungsanforderungen, wenn sie "gravierend" seien. Über die Entscheidung berichtet LTO-Karriere.

Sonstiges

Bernd Rüthers: Am vergangenen Donnerstag verstarb 92-jährig Rechtsprofessor Bernd Rüthers. Über sein ursprünglich als Habilitationsschrift gedachtes Grundlagenwerk "Die unbegrenzte Auslegung" habe Rüthers als "prominenter Arbeitsrechtler der Bonner Republik" gewirkt und mit seinen Forderungen nach richterlicher Methodenehrlichkeit "das Weltbild mehrerer Generationen deutscher Jurastudenten" geprägt. Dies schreibt die FAZ (Milos Vec) in einem ausführlichen Porträt in ihrem Feuilleton.

AfD-Landrat: Das zuständige Landesverwaltungsamt Thüringen hat gegenüber LTO (Markus Sehl) bestätigt, eine Prüfung der Eignung des Sonneberger Landrats Robert Sesselmann (AfD) vornehmen zu wollen. Offenbar habe sich der zuständige Kreiswahlleiter vor der Wahl auf reine formelle Aspekte beschränkt. Das vom Landrat eingenommene Beamtenverhältnis auf Zeit erfordere darüber hinaus aber auch die Gewähr für das Eintreten für die freiheitliche demokratische Grundordnung. Die für Mitte Juli avisierte Entscheidung könnte den demokratischen "Super-GAU" der Ungültigkeitskeitserklärung der Wahl nach sich ziehen.

Im Leitartikel stellt Thomas Schmid (Welt) grundsätzliche Überlegungen zum adäquaten Umgang mit der AfD an. Wie andere rechtspopulistische Parteien strebe sie an, "die Demokratie mit demokratischen Mitteln auszuhöhlen". Dies abzuwehren, erfordere mehr als die fortwährende Brandmarkung als "Nazi, Nazi". Eine "klügere" Alternative sei z.B. das "Thüringen-Projekt" des Verfassungsblogs, bei dem ergründet werden solle, wie auf "institutionellem Wege Vorkehrungen" gegen eine schleichende Usurpation der Staatsmacht durch die AfD getroffen werden könnten.

Rammstein: Die vom Rammstein-Sänger Till Lindemann mandatierte Kanzlei Schertz Bergmann hat ein rechtsmedizinisches Gutachten in Auftrag gegeben, nach dem die von der Nordirin Shelby Lynn veröffentlichten Bilder von Verletzungen "ein Unfallgeschehen ohne Fremdeinwirkung als wahrscheinlichste Ursache" hätten. Die Kanzlei veröffentlichte das Gutachten in Teilen und teilte gleichzeitig mit, auch weiterhin gegen "unzulässige Berichterstattung und unwahre Tatsachenbehauptungen in den Medien bzw. den sozialen Netzwerken" vorgehen zu wollen. Dies berichtet die FAZ (Julia Anton).

Das Letzte zum Schluss

Übereifrig: Wohl weil sie der Signalton eines Kühlschranks störte, hat eine Reinigungskraft am renommierten Rensselaer Polytechnic Institute in den USA den Stecker des Geräts gezogen. Hierdurch wurden Zellkulturen vernichtet, die zur Erforschung der Photosynthese angelegt wurden. Die Vernichtung kostete 20 Jahre Forschungsarbeit, ihr Wert wurde mit einer Million Dollar geschätzt. Eben diesen Betrag will das Labor nun vom Arbeitgeber der Reinigungskraft wieder zurückholen. Es berichtet spiegel.de.

 

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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/mpi/chr

(Hinweis für Journalisten und Journalistinnen)

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 28. Juni 2023: . In: Legal Tribune Online, 28.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52101 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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