Die juristische Presseschau vom 19. Oktober 2022: Ungül­tige RAK-Wahl / EuGH zu Mit­be­stim­mung / OB auf der Ankla­ge­bank

19.10.2022

BGH kassiert die Vorstandswahl der RAK München. Die Umwandlung in eine Europäische Gesellschaft (SE) darf nicht zur Beschränkung von Mitbestimmungsrechten führen. Start im Korruptionsverfahren gegen den Frankfurter OB Peter Feldmann.

Thema des Tages

BGH zu RAK-Vorstandswahl: Die im Mai 2020 stattgefundene Neuwahl von elf Vorstandsmitgliedern der Rechtsanwaltskammer München ist vom Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs für rechtswidrig befunden worden. Dass Ex-Hauptgeschäftsführer Stephan Kopp, der zuvor seinen RAK-Vorstandsposten im Streit um eine Immobilie der Kammer niedergelegt hatte, für die Wahl nicht als Kandidat zugelassen wurde, begründe einen erheblichen Wahlfehler, der zur Ungültigkeit der Wahl führe. Kopp hätte zwar von der Nachwahl für den Posten, den er niedergelegt hatte, ausgeschlossen werden dürfen, nicht aber von der Neuwahl von elf anderen Vorstandsposten. Auch die Verbindung von Nachwahl und Neuwahl in einem gemeinsamen Wahlgang wurde vom BGH beanstandet. LTO (Martin W. Huff) stellt die Begründung des nun zugestellten BGH-Urteils vom 12. September vor. Der BGH bestätigte weitgehend die Entscheidung des Bayerischen Anwaltsgerichtshofs und wies die Argumente der RAK zurück. Als Konsequenz der BGH-Entscheidung verliert u.a. der Präsident der Kammer, Michael Then, unmittelbar seinen Posten. Er sei damit auch nicht mehr befugt, sein Amt als Schatzmeister der Bundesrechtsanwaltskammer auszuüben.

Rechtspolitik

Richtlinienkompetenz/AKW-Streckbetrieb: Die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers in Sachen AKW-Laufzeitverlängerung analysiert Rechtsanwalt Patrick Heinemann auf LTO. Das vermeintliche Spannungsverhältnis  der Richtlinienkompetenz zum Ressortprinzip, aber auch zum freien Mandat der Abgeordneten, besitze eine ähnliche praktische Relevanz wie die alte theologische Frage, "wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz haben." Es sei anzunehmen, dass Scholz' Entscheidung und ihre konkrete Kommunikation "eine politische Finte der Ampel" sei, die sich aus einer verfahrenen Situation unter Gesichtswahrung der Beteiligten retten wollte. Auf diesen Aspekt verweist auch zeit.de (Lenz Jacobsen/Hannah Bethke) in einer Analyse. Anders als noch zu Zeiten Adenauers habe die Richtlinienkompetenz ihre Wirkung in den vergangenen Jahrzehnten vor allem in ihrer Androhung entfaltet. Nach Einschätzung der FAZ (Reinhard Müller) drückt die Richtlinienkompetenz lediglich "Selbstverständliches" aus. Ihr Inhaber bleibe dem Bundestag gegenüber verantwortlich. Rechtliche und tatsächliche Aspekte fasst die SZ (Ronen Steinke) in Frage-und-Antwort-Form zusammen.

Whistleblowing: Wenig angetan zeigt sich Rechtsanwalt Alexander Möller auf Libra vom aktuellen Regierungsentwurf des geplanten Hinweisgeberschutzgesetzes. Die verspätete Umsetzung der EU-Whistleblower-Richtlinie sei "inkonsistentes Stückwerk", das "Nachteile sowohl für Unternehmen als auch für die Belegschaft mit sich bringt". Es sei nicht gelungen, "die Vorteile einer gerechten und fairen Wirtschaft" aufzuzeigen. Dies sei aber Voraussetzung dafür, eine breite gesellschaftliche Akzeptanz für das "Verpfeifen" zu schaffen.

Erbrecht/Pflichtteil: Im Recht und Steuern-Teil der FAZ bedauern Reinhard Zimmermann und Ben Köhler, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht und dortiger wissenschaftlicher Referent, dass die Diskussion über eine Reform des erbrechtlichen Pflichtteilsrechts infolge einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2005 weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Um der "unerbittlichen Gleichbehandlung von wesentlich ungleichen Sachverhalten" im Erbrecht vorzubeugen, schlagen die Autoren daher eine Orientierung an den "nachvollziehbaren und erprobten Kriterien" des Unterhaltsrechts bei gleichzeitiger Abschaffung des Pflichtteils vor.

EU-Wahlrecht: Die im Mai vom EU-Parlament beschlossene Initiative für eine Änderung des Wahlrechts zur Wahl des EU-Parlaments stößt auf große Bedenken der EU-Mitgliedsstaaten. In einer Debatte hätten alle Staaten Einwände gegen verschiedene Punkte der angedachten Reform angemeldet, schreibt die FAZ (Thomas Gutschker). Transnationale Listen als Kern der Reform lehnten zehn Mitgliedstaaten ab. Es sei nahezu ausgeschlossen, dass die nächste Europawahl im Mai 2024 unter dem reformierten Recht stattfinde.

Sanktionen gegen Russland/Rechtsberatung: In einem Gastbeitrag für den Recht und Steuern-Teil der FAZ behauptet Michael Thelen, Mitglied der Geschäftsführung der Bundesnotarkammer, dass die EU mit ihrem jüngsten, gegen Russland gerichteten Sanktionspaket den Rechtsstaat schwäche. Die Untersagung von Rechtsberatung betroffener Unternehmen oder Institutionen außerhalb streitiger Verfahren sei ein "Offenbarungseid der EU". Die "vorsorgende, zur Vermeidung von Streitigkeiten" dringend erforderliche Rechtsberatung sei keine Dienstleistung "zweiter Klasse", sondern diene "ganz wesentlich dem Schaffen rechtmäßiger Zustände."

Justiz

EuGH zu Mitbestimmung: Die Umwandlung in eine Europäische Gesellschaft (SE) darf nach Feststellung des Europäischen Gerichtshofs nicht zur Beschränkung von Mitbestimmungsrechten der Beschäftigten führen. Sofern das nationale Recht des betreffenden Unternehmens einen getrennten Wahlgang für die von der Arbeitnehmerseite zu besetzenden Aufsichtsratsposten vorsehe, müsse dieser beibehalten werden. Über die auf Vorlage des Bundesarbeitsgerichts nun ergangene Entscheidung und ihre Hintergründe berichten LTO (Stefan Schmidbauer), beck-aktuell (Joachim Jahn) und tagesschau.de (Gigi Deppe).

LG Frankfurt/M. – OB Peter Feldmann: Mit Verlesung der gut 50-seitigen Anklageschrift hat am Landgericht Frankfurt/M. der Strafprozess gegen den Frankfurter Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) begonnen. Dieser ließ verlauten, dass er sich eine "faire und unvoreingenommene Klärung" der gegen ihn erhobenen Vorwürfe wünsche. Vor der für den 27. Oktober geplanten Fortsetzung müsse noch über einen von der Verteidigung erhobenen Befangenheitsantrag befunden werden, schreiben u.a. FAZ (Anna-Sophia Lang), spiegel.de (Matthias Bartsch) und Welt (Constantin van Lijnden). Am 6. November und damit vor dem geplanten Abschluss des Verfahrens muss die Frankfurter Wählerschaft über einen Verbleib Feldmanns in seinem Amt entscheiden.

EGMR – Klimaschutz: Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte versuchen neun junge Deutsche mit Unterstützung der Deutschen Umwelthilfe eine Verschärfung des deutschen Klimaschutzgesetzes durchzusetzen. Eine entsprechende Verfassungsbeschwerde war im Juni vom Bundesverfassungsgericht ohne Begründung verworfen worden. Am EGMR sind bereits vergleichbare Klagen portugiesischer Jugendlicher (gegen 33 Staaten) und Schweizer Seniorinnen (gegen die Schweiz) anhängig. Diese beiden Klagen werden vom EGMR priorisiert und wurden bereits an die Große Kammer des EGMR verwiesen. Die taz (Christian Rath) berichtet.

EGMR zu Racial Profiling: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte Deutschland auf Klage eines Deutschen mit nicht-weißer Hautfarbe. Dieser war 2012 in einem Zug in Grenznähe von der Polizei kontrolliert worden, während weiße Mitreisende unbehelligt blieben. Seine Beschwerde über unzulässiges Racial Profiling war nur polizeiintern untersucht worden und seine Klage war vor Gericht abgewiesen worden, weil es vermeintlich kein ausreichendes Interesse an einer Entscheidung in der Sache gegeben habe. Durch die mangelhafte Untersuchung habe Deutschland die Rechte des Betroffenen verletzt, entschied nun der EGMR. LTO berichtet.

EuG – Taxonomie: In der vergangenen Woche erhob der deutsche Europaparlamentarier Rene Repasi (SPD) Klage beim Gericht der Europäischen Union gegen den von der Kommission beschlossenen Taxonomie-Rechtsakt. Der wissenschaftliche Mitarbeiter Christoph Krenn beschreibt auf dem Verfassungsblog (in englischer Sprache) die potentielle Sprengkraft des Verfahrens und seine nicht von vornherein auszuschließenden Erfolgsaussichten. Sollte das EuG eine Klagebefugnis bejahen, würde hierdurch ein von einzelnen Abgeordneten in Gang zu setzendes Organstreitverfahren etabliert.

BVerfG – Illegalen-Meldepflicht von Sozialbehörden: Der SWR-RadioReportRecht (Claudia Kornmeier u.a.) befasst sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die gesetzliche Pflicht von Sozialbehörden, Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus den Ausländerbehörden melden zu müssen und spricht zu diesem Zweck mit Betroffenen und der im Auftrag der Gesellschaft für Freiheitsrechte tätigen Rechtsanwältin Sarah Lincoln.

OLG Braunschweig zur Verwendung eines Hakenkreuzes: Das Oberlandesgericht Braunschweig hob nach Bericht von LTO den landgerichtlichen Freispruch einer Frau auf, die in einem Facebook-Post einen Gesundheitspass aus dem 3. Reich (zusammen mit dem Muster eines EU-Gesundheitspasses) veröffentlichte. Die Vorinstanz habe hinsichtlich des auf Ersterem erkennbaren Hakenkreuzes unzulässigerweise eine einschränkende Auslegung von § 86a Strafgesetzbuch vorgenommen. Die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen sei aber nur dann straflos, wenn sie in offenkundiger Kritik der Organisation oder ihrer Ideologie erfolge.

OLG Stuttgart zu Kindesentführung aus Ukraine: Die Rückführung eines Kindes in die Ukraine setze dieses der schwerwiegenden Gefahr körperlicher und seelischer Schäden aus, weil das gesamte Land ein Kriegsgebiet sei. Die Rückführung hat daher nach einem von LTO berichteten Beschluss des Oberlandesgerichts Stuttgart aus der vergangenen Woche zu unterbleiben, auch wenn die Flucht der Mutter mit dem Kind als Kindesentführung einzustufen sei.

LG Darmstadt – Goldhandel: Seit Dezember 2020 muss sich ein Goldhändler am Landgericht Darmstadt gegen den Vorwurf des schweren Betruges verteidigen. Nun sagte ein ehemaliger Geschäftspartner und späterer Konkurrent als Zeuge über die von ihm und dem Angeklagten erdachten "Goldsparpläne" aus, die nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Schneeballsystemen ähnelten. Über den Prozess, der sich auf der "Zielgerade" befinde, berichtet das Hbl (Jakob Blume/Lars-Marten Nagel).

AG Beckum zu vorgetäuschtem Mordanschlag: Wegen Vortäuschens einer Straftat und Betrugs zum Nachteil des Weißen Rings musste sich ein 59-Jähriger vor dem Amtsgericht Beckum verantworten. Der Angeklagte hatte angegeben, er sei vor vier Jahren bei der Fahrt unter einer Brücke mit einem schweren Bakenfuß beworfen worden. Nachdem ein Gutachten die Unmöglichkeit des behaupteten Geschehensablaufs ergeben hatte, konzentrierte die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen auf das vermeintliche Opfer, ließ dabei aber bestehende Zweifel außer Acht. Wie die FAZ (Reiner Burger) schreibt, erging daher nun bereits am ersten Verhandlungstag ein Freispruch.

StA Berlin – Attila Hildmann: Die Staatsanwaltschaft Berlin hat offenbar erst kürzlich geprüft, ob der seit Januar 2021 flüchtige Verschwörungserzähler Attila Hildmann neben der deutschen auch die türkische Staatsangehörigkeit besitzt. Weil der frühere Kochbuchautor dies selbst behauptet hatte, sei von einem an die Türkei gerichtetes Auslieferungsersuchen zunächst abgesehen worden. Wie die SZ (Ronen Steinke) in einer ausführlichen Darstellung dieser und anderer Pannen schreibt, sei allerdings keineswegs sicher, dass es Hildmanns Festsetzung vorausgesetzt – tatsächlich zu einer Auslieferung komme. Volksverhetzung und andere in Frage kommenden Äußerungsdelikte hätten "teils keine Entsprechung im türkischen Strafrecht."

Recht in der Welt

EU/Polen – Justizreform und EU-Gelder: Die Auszahlung von Geldern aus dem EU-Kohäsionsfonds an Polen bleibt weiterhin blockiert. Offenbar haben Regierungsvertreter aus Warschau in einer technischen Sitzung im Juli eingestanden, dass das Land die für die Auszahlung der Gelder erforderlichen Anforderungen der EU-Grundrechte-Charta nicht erfülle, berichtet die FAZ (Thomas Gutschker/Gerhard Gnauck). Die von der polnischen Regierung als Abhilfe präsentierte Reform der Disziplinargerichtsbarkeit gegenüber Richter:innen wurde jedoch von der EU-Kommission nicht als ausreichend akzeptiert.

Nikolas Busse (FAZ) erinnert in einem Kommentar daran, dass die EU-Grundrechte-Charta aufgrund eines polnischen Vorbehalts für polnische Bürger:innen kein einklagbares Recht ist. Dies ändere aber nichts daran, dass die Grundrechte-Charta für die EU-Kommission verpflichtend sei. Der mögliche Verlust von 76 Mrd. Euro aus dem Kohäsionsfonds-Mittel könnte vor allem den ländlichen Raum Polens treffen, indem die Regierungspartei PiS besonders verankert ist. Mittlerweile verursache der "nationalistisch aufgeladene Feldzug" der Regierungspartei "reale Kosten" für die Bürger:innen, bei denen "die EU-Mitgliedschaft aber weiterhin populär" sei.

Rumänien – Justizreform: Das rumänische Oberhaus hat drei Gesetze beschlossen, mit denen wesentliche Justizbelange neu geregelt werden sollen, schreibt LTO. Die Neuregelungen stünden in der Erwartung eines baldigen Beitritt des Landes zum europäischen Schengen-System. Die Opposition bemängele jedoch, dass die Regierung vor der Verabschiedung kein Gutachten der Venedig-Kommission des Europarats eingeholt habe. Eben dies habe EU-Justizkommissar Didier Reynders erst kürzlich empfohlen.

Griechenland – Richterentlassungen: Ein Gremium für Disziplinarverfahren am Obersten Gerichtshof zog nach einem Bericht von spiegel.de Konsequenzen aus überlangen Gerichtsverfahren, indem es in den verganganen zehn Monaten 20 Richter und Staatsanwälte wegen mangelnder Arbeitsleistung sowie "Faulheit, Inkompetenz und Abwesenheit" entließ.

Japan – Sexuelle Übergriffe: Die SZ (Thomas Hahn) berichtet über die Bemühungen der japanischen Anwältin Chieko Aoki, die offenbar weitverbreiteten Grapschereien in den chronisch überfüllten U- und S-Bahnen Tokios einer strafrechtlichen Sanktionierung zuzuführen.

Juristische Ausbildung

Zweitkorrektur: Rechtsanwalt Malte May plädiert auf Libra für "ein echtes Vier-Augen-Prinzip bei der Bewertung von Examensklausuren." Zu häufig erschöpften sich die Aussagen des Zweitvotums in nichtssagenden Phrasen. Dies trage zu einem Vertrauensverlust in die juristische Ausbildung bei. Um dem kognitionspsychologischen Phänomen des sogenannten Confirmation Bias vorzubeugen, sollte die Zweitkorrektur ohne Kenntnis des Erstvotums vorgenommen werden. Hierbei denkbaren organisatorischen Schwierigkeiten lasse sich durch die absehbare Einführung des digitalen Staatsexamens begegnen.

Sonstiges

YoungLawyersCamp: LTO-Karriere (Franziska Kring) berichtet über das erste YoungLawyersCamp, das in der vergangenen Woche in Berlin stattfand. Teilnehmende erhielten Tipps für die eigene Kanzleigründung, den nutzbringenden Umgang mit Social Media-Plattformen und die Mitarbeiterführung.

 

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LTO/mpi

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 19. Oktober 2022: . In: Legal Tribune Online, 19.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49925 (abgerufen am: 24.11.2024 )

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