Am BVerfG wurde erstmals über Art. 21 Abs. 3 GG verhandelt, die betroffene NPD blieb lieber daheim. Der Bundestag entscheidet morgen über die Regelung der Suizidhilfe. Der EuGH urteilte, dass auch das BKartA Datenschutzverstöße rügen darf.
Thema des Tages
BVerfG – NPD-Finanzierung: Zur ersten Verhandlung über einen seit 2017 möglichen Ausschluss von der staatlichen Parteienfinanzierung nach Art. 21 Abs. 3 Grundgesetz hatte das Bundesverfassungsgericht geladen. Die betroffene NPD, seit kurzem in Die Heimat unbenannt, blieb der Verhandlung jedoch fern. Kurz vor Beginn teilte sie in einem Fax mit, dass sie nicht an einer "Justiz-Simulation" teilnehmen wolle. Verhandelt wurde trotzdem. Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung begründeten ihre Anträge. Die NPD/Heimat sei - wie schon vom BVerfG 2017 im Verbotsverfahren festgestellt - weiterhin darauf ausgerichtet, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, insbesondere weil sie einen ethnisch-homogenen Volksbegriff vertritt, der Deutsche mit Migrationshintergrund ausschließt. Die Prozessvertreter der Antragsteller sahen das Rechtsschutzbedürfnis weiter gegeben, obwohl die NPD/Heimat bereits seit 2021 wegen ihrer schlechten Wahlergebnisse keine staatlichen Zuschüsse mehr erhält. Der Antrag ziele auch auf Steuervorteile wie die Befreiung von der Erbschaftsteuer ab. Artikel 21 Abs. 3 GG sei auch kein verfassungswidriges Verfassungsrecht, denn der Ausschluss von der Parteienfinanzierung sei im Vergleich zum Parteienverbot ein milderes Mittel. Ohne NPD/Heimat lief die Verhandlung unerwartet zügig; der eingeplante zweite Verhandlungstag wurde nicht benötigt. Der Zweite Senat will sein Urteil in einigen Monaten verkünden. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Marlene Grunert), Tsp (Jost Müller-Neuhof), LTO (Christian Rath) und tagesschau.de (Max Bauer).
Die Kommentare von Max Bauer (tagesschau.de) und Alexander Haneke (FAZ) betonen, dass das Verfahren über den grundgesetzlichen Ausschluss von staatlicher Finanzierung wohl eher als Testlauf in Richtung AfD verstanden werden müsse. Die Autoren ziehen hieraus unterschiedliche Schlüsse. Während Bauer meint, es sei "höchste Zeit, dass das Verfassungsgericht nun den Weg frei macht für neue Instrumente im Kampf gegen rechte Hetze", begrüßt Haneke es zwar grundsätzlich, dass der Verfassungsstaat die "Werkzeuge gegen seine Feinde" bereithalte. Wer die Demokratie schützen wolle, müsse aber "zu den Menschen gehen und sie überzeugen."
Rechtspolitik
Suizidhilfe: Vor der für den morgigen Donnerstag geplanten Bundestagsdebatte über die Regelung der Suizidhilfe referiert die FAZ (Oliver Tolmein) im Feuilleton die zur Abstimmung stehenden Entwürfe. Beide enthielten wenig Verbindliches in Sachen Suizidprävention, obgleich sich das Bundesverfassungsgericht "in einer derzeit selten zitierten, gleichwohl zentralen Passage" seines Urteils mit diesbezüglichen "sozialpolitischen Verpflichtungen" des Staates auseinandergesetzt hatte. Auf den Aspekt der Suizidprävention macht auch Daniel Deckers (FAZ) im Leitartikel aufmerksam. Nicht zuletzt "dank vielfältiger Präventionsstrategien" habe sich die Zahl vollendeter Suizide in den letzten Jahrzehnten deutlich verringert. Bedauerlich sei, dass der Bundestag und sein Rechtsausschuss in unangemessener Eile über die kurzfristig noch veränderten Gesetzentwürfe beschließen will.
Schiedsgerichtsbarkeit: Rechtsanwältin Anna Masser beklagt in einem Gastbeitrag für den Recht und Steuern-Teil der FAZ, dass der Europäische Gerichtshof und die EU-Kommission aus machtpolitischen Gründen das "relativ gut" funktionierende System der Schiedsgerichtsbarkeit zur Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten bekämpften. Dies stehe im Widerspruch zum "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts", wie er im EU-Vertrag beschrieben wird. Auch bei den Russland-Sanktionen werde die Schiedsgerichtsbarkeit benachteiligt.
Justiz
EuGH zu BKartA/Facebook: Wettbewerbsbehörden wie das Bundeskartellamt (BKartA) dürfen nach Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs ihre Untersuchungen auch auf die Einhaltung von Datenschutzbestimmungen erstrecken. Derartige Prüfungen müssten jedoch dem vorrangigen Zweck der Untersuchung einer marktbeherrschenden Stellung dienen und ggf. mit den Datenschutzbehörden abgestimmt werden. Ob die 2019 vom BKartA dem Facebook-Mutterkonzern Meta erteilte Weisung, Nutzerdaten nicht mehr ohne deren Einwilligung zusammenzuführen, diese Anforderungen erfüllte, muss nun vom Oberlandesgericht Düsseldorf geprüft werden. Die Berichte von SZ (Jannis Brühl), LTO, netzpolitik.org (Johannes Gille) und tagesschau.de (Gigi Deppe) sehen in der EuGH-Entscheidung dennoch eine deutliche Niederlage des Tech-Konzerns.
Svenja Bergt (taz) kommentiert, dass "das immer etwas nach zu trockenem Keks" anmutende Kartellrecht "tatsächlich eines der maßgeblichen Instrumente unserer Zeit" sei. Die Neigung "zu illegalen Absprachen oder Monopolen" sei auf digitalen Märkten noch größer als auf traditionellen. Es sei daher sinnvoll, die Befugnisse von Kartellbehörden zu erweitern, erforderlich sei aber auch "ausreichend Personal."
EuG – Taxonomie und EP-Rechte: Das Gericht der Europäischen Union wies im vergangenen Monat die vom Europarlamentarier Rene Repasi (SPD) erhobene Klage gegen die Taxonomie-Entscheidung der EU-Kommission als unzulässig ab. Repasi hatte argumentiert, dass die Entscheidung, ob Atomkraft und Gaskraftwerke nachhaltig seien, im normalen Gesetzgebungsverfahren durch Rat und Europäisches Parlament (EP) hätte getroffen werden müssen und nicht durch delegierten Rechtsakt der EU-Kommission. Laut EuG könnte mit diesem Argument aber nur das EP selbst klagen. Repasi sei lediglich mittelbar in seinen Rechten als Abgeordneter betroffen und damit nicht klagebefugt. Die FAZ (Katja Gelinsky) berichtet in ihrem Recht und Steuern-Teil.
BVerfG – Länderfinanzausgleich: Die von CSU und Freien Wählern gebildete bayerische Landesregierung hat beschlossen, das aktuelle System des Länderfinanzausgleichs vom Bundesverfassungsgericht prüfen zu lassen. Der Freistaat hatte einen vergleichbaren Schritt bereits 2013 unternommen, erinnert spiegel.de. Diese Klage sei jedoch nach einer Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern zurückgenommen worden. Bayern fühle sich an die Vereinbarung heute nicht mehr gebunden, weil echte Struktureformen ausgeblieben seien und sich "die Schere zwischen Geber- und Nehmerländern" vergrößert habe.
BGH zu anwaltlicher Beratungspflicht/Vergleich: beck-aktuell (Hans-Jochem Mayer) berichtet über ein im April verkündetes Urteils des Bundesgerichtshofs, das grundsätzliche Überlegungen zur Reichweite der anwaltlichen Beratungspflicht vor dem Abschluss eines Vergleichs enthält. Mandanten müssen in die Lage versetzt werden, eigenverantwortliche und sachgerechte Entscheidungen zu treffen. Art und Umfang der anwaltlichen Beratungspflicht werde dabei von Inhalt und Komplexität des Vergleichs bestimmt. Ob eine im Fall relevante Abgeltungsklausel eine besondere Beratungspflicht ausgelöst habe, müsse nun noch vom Oberlandesgericht München entschieden werden.
OLG Bamberg/LG Rottweil – Corona-Impfschäden: Über Klagen auf Schadensersatz wegen Schäden, die auf eine Corona-Schutzimpfung zurückgeführt werden, berichtet nun auch LTO. Während sich das Oberlandesgericht Bamberg mit der Berufung einer erstinstanzlich gegen den Hersteller AstraZeneca unterlegenen Klägerin befassst, verhandelt das Landgericht Rottweil über eine Schadensersatzforderung gegen Biontech. Beide Klagen stützten sich auf die grundsätzlich verschuldensunabhängige Herstellerhaftung des Arzneimittelgesetzes.
LG Ulm zu Messerangriff auf dem Schulweg: Wegen Mordes bzw. versuchten Mordes hat das Landgericht Ulm den Messerangreifer von Illerkirchberg zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Das Gericht stellte zugleich die besondere Schwere der Schuld fest, schreiben Welt (Florian Sädler) und FAZ (Rüdiger Soldt). Die sachverständige Begutachtung des aus Eritrea stammenden Angeklagten habe keine Hinweise auf psychische Krankheiten ergeben.
Max Ferstl (SZ) erinnert daran, dass der Angeklagte vor der Tat das erfüllte, "was landläufig von Geflüchteten erwartet wird, wenn von 'Integration' die Rede ist." Belege für ein "systemisches Migrationsproblem" habe das Strafverfahren nicht erbracht; leider auch keine sonstigen Erklärungen für die Tat. Somit bleibe lediglich "Ratlosigkeit."
LG München II zu Ex-Audi-Chef Stadler: Eine Woche nach Verkündung der Urteile im Strafverfahren gegen den früheren Audi-Chef Rupert Stadler und zwei weitere Ingenieure des Autobauers hat die Verteidigung der Verurteilten Revision eingelegt, obwohl die Urteile auf einer Verständigung beruhten. Die Berichte von SZ (Klaus Ott/Stephan Radomsky) und LTO erklären, dass der jederzeit zurücknehmbare Schritt wohl eher taktischen Überlegungen folgt. Solange die Entscheidung nicht in Rechtskraft erwächst, müssen die Angeklagten nicht in anderen Verfahren zum Diesel-Skandal als Zeugen aussagen. Für die Formulierung der Urteilsbegründung habe das LG nun bis zum nächsten April Zeit. Erst nach deren Zustellung beginne die Frist für die Revisionsbegründung zu laufen.
LG Hamburg – Inhaftierte Mutter: Die taz (Katharina Schipkowski) berichtet über eine Kolumbianerin, die parallel zur Verteidigung gegen eine Anklage wegen Mordes am Familiengericht um das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihren einjährigen Sohn kämpft. Die Angeklagte befinde sich seit dem vergangenen Dezember in Untersuchungshaft, zu diesem Zeitpunkt habe das Jugendamt die Betreuung des Kindes übernommen, das seine Mutter nun nur noch unregelmäßig sehe.
LG Braunschweig – Germanwings-Absturz: 32 Hinterbliebene des Germanwings-Absturzes von 2015 verklagen am Landgericht Braunschweig die Bundesrepublik auf Schmerzensgeld. Das Luftfahrtbundesamt habe turnusmäßige Gesundheitsuntersuchungen des absturzverursachenden psychisch kranken Piloten mangelhaft und unzureichend durchgeführt, zitiert die FAZ (Reiner Burger) aus der Klageschrift. Hierfür müsse die Bundesrepublik aus Amtshaftungsgrundsätzen einstehen.
LG Bonn – Michael Winterhoff: Am Landgericht Bonn hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den bekannten Kinderpsychiater Michael Winterhoff wegen gefährlicher Körperverletzung in 36 Fällen erhoben. Der mittlerweile nicht mehr praktizierende Psychiater hatte zahlreichen bei ihm in Behandlung stehenden Kindern stark sedierende Medikamente verschrieben. Laut Anklage war dies medizinisch nicht indiziert. Die SZ (Nicole Rosenbach/Rainer Stadler) berichtet.
Klimaklagen/Rechtsanwältin Roda Verheyen: Der SWR-RadioReportRecht (Klaus Hempel) widmet sich in dieser Woche ausführlich Rechtsanwältin Roda Verheyen und ihren Klagen für Umwelt- und Klimaschutz.
Recht in der Welt
Belgien – tödliches Aufnahmeritual: Am 26. Mai urteilte ein Gericht in Antwerpen, dass Mitglieder einer Studentenverbindung, die das Organversagen eines Schwarzen Neumitgliedes durch ein erniedrigendes Aufnahmeritual mitverursacht hatten, lediglich zu Geldstrafen und der Ableistung von Sozialstunden verurteilt werden. Die seidem anhaltenden Proteste beklagten "Klassenjustiz" und Rassismus, schreibt die SZ (Thomas Kirchner). Kritisiert wird auch, dass die Medien nicht die Namen der aus großbürgerlichen Kreisen stammenden Angeklagten nennen. Dies tat stattdessen der bekannte belgische Youtuber Acid, den darauf eines der von ihm benannten Verbindungsmitglieder verklagte - unter Berufung auf ein Antidiskriminierungsgesetz.
Österreich – ertrunkenes Kind Leon: bild.de (Jörg Völkerling) berichtet über eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Österreich, nach der der deutsche Vater des im vergangenen Sommer in Tirol in einem Fluss ertrunkenen sechsjährigen Leon weiterhin in Untersuchungshaft bleiben muss. Für die Fortdauer sprächen bisherige Ermittlungsergebnisse. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Vater das Kind ertränkt hat und anschließend einen Raubüberfall auf sich vortäuschte.
Russland – Alexey Moskaljow: Ein Gericht der russischen Stadt Tula hat den 54-jährigen Alexey Moskaljow wegen "Diskreditierung der Armee" zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt. Er war vor einem Jahr in das Visier der Strafverfolgungsbehörden geraten, nachdem seine Tochter im Schulunterricht ein Bild gegen den Krieg in der Ukraine gemalt hatte und daraufhin von der Schulleitung gemeldet worden war, erinnert spiegel.de.
Sonstiges
Cum-Ex-U-Ausschuss Bundestag: Die Ampel-Koalition lehnte im Geschäftsordnungsausschuss des Bundestags die Einsetzung eines von der CDU/CSU beantragten Untersuchungsausschusses ab, der die Rolle des damaligen Hamburger Ersten Bürgermeisters und jetzigen Bundeskanzlers Olaf Scholz (SPD) im Cum-Ex-Skandal um die Hamburger Warburg-Bank aufklären soll. Der Antrag der Unions-Fraktions betreffe überwiegend landespolitische Fragen, für die der Bundestag nicht zuständig sei. Die Unions-Fraktion will nun das Bundesverfassungsgericht anrufen, weil ihr Minderheitsrecht verletzt worden sei. Die SZ (Markus Balser/Georg Ismar) berichtet.
Reinhard Müller (FAZ) bedauert die Haltung der Regierungs-Koalition. Es sei wenig glaubwürdig, dass sich die Ampel bei ihrer Ablehnung auf föderale Gesichtspunkte berufe.
Cum-Ex-U-Ausschuss Hamburg: Der Hamburger Untersuchungsausschuss zu möglichen Einflussnahmen von Olaf Scholz zugunsten des Bankiers Christian Olearius wartet seit einem knappen Jahr auf Herausgabe von Ermittlungsergebnissen der Staatsanwaltschaft Köln. In der Frage habe sich ein reger Schriftverkehr zwischen Ausschuss und dem nordrhein-westfälischen Justizminister Benjamin Limbach (Grüne) entwickelt, ohne dass die angeforderten Unterlagen nach Hamburg gelangt seien, so das Hbl (Sönke Iwersen/Volker Votsmeier). Ein Treffen am heutigen Mittwoch solle die Angelegenheit beschleunigen, das Ausschuss-Mitglied Richard Seelmaecker (CDU) habe indes eine Klage angekündigt, sollte die Herausgabe weiterhin unterbleiben.
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Morgen erscheint eine neue LTO-Presseschau.
LTO/mpi/chr
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Die juristische Presseschau vom 5. Juli 2023: . In: Legal Tribune Online, 05.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52151 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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