Die juristische Presseschau vom 7. Juli 2023: Eil­be­schluss des BVerfG ist ums­tritten / Keine Neu­re­ge­lung der Sui­zid­hilfe / Umbe­nen­nung der Moh­ren­straße

07.07.2023

Die Eil-Entscheidung des BVerfG zum Heizungsgesetz wird unterschiedlich analysiert und bewertet. Der Bundestag konnte sich auf keine Neuregelung der Suizidhilfe einigen. Die Berliner Mohrenstraße darf umbenannt werden.

Thema des Tages

BVerfG – Heizungsgesetz/Abgeordnetenrechte: tagesschau.de (Frank Bräutigam/Kolja Schwarz) erklärt die einstweilige Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom späten Mittwochabend, die dem Bundestag die 2./3. Lesung des Gebäudeenergiegesetzes (auch Heizungsgesetz genannt) in dieser Woche verbot. Die taz (Christian Rath) erläutert, dass die eA die Rechte des Bundestags und insbesondere der Opposition noch nicht verbessere, dass es aber wohl in der Hauptsacheentscheidung Vorgaben für die Parlamentsmehrheit zum Ablauf von Gesetzgebungsverfahren geben werde. Die Richter:innen hätten ausdrücklich betont, dass die Abgeordneten nicht nur abstimmen dürften, sondern auch ein Recht auf Beratung hätten – und genügend Zeit bräuchten, damit sie die erhaltenen Informationen "auch verarbeiten können". Die SZ (Wolfgang Janisch) analysiert, dass das BVerfG mit seinem Beschluss eine geradezu erratische Kehrtwende vollzogen habe. Denn bisher habe gegolten: Wie der Bundestag seine parlamentarischen Abläufe organisiert, wie schnell oder wie langsam er einen Gesetzentwurf durchs Verfahren treibt - all das ist seine Sache. 

Dass die Parlamentsmehrheit bei der Gestaltung der Verfahrensabläufe im Bundestag einen weiten Gestaltungsspielraum hat, entbinde sie nicht von der Pflicht, die Minderheit angemessen zu beteiligen, kommentiert Thorsten Jungholt (Welt). Nikolas Richter (SZ) erinnert daran, dass Bundestag und Bundesrat die Ampel-Koalition schon mehrfach daran erinnerten, dass die Gesetzgebungsorgane nicht nur zum Abnicken da seien. "So gesehen war es dringend notwendig, dass die Verfassungsrichter einschritten". Reinhard Müller (FAZ) fordert, die Entscheidung zur Stärkung der Abgeordneten müsse nun auch über den konkreten Fall hinaus Folgen haben. Es gehe keinesfalls nur um die jetzige Opposition und die Rechte ihrer Parlamentarier, sondern um Grundfragen der Demokratie und des Parlamentarismus. Hasso Suliak (LTO) kritisiert den Eilbeschluss des BVerfG heftig und sieht darin eine bemerkenswerte Respektlosigkeit gegenüber dem Verfassungsorgan Deutscher Bundestag. Das Gericht, das in der Vergangenheit immer den "weiten verfassungsrechtlich garantierten Gestaltungspielraum" des Parlaments geschützt habe, greife nun selbst in diesen Spielraum ein. Rechtsprofessor Julian Krüper nimmt auf LTO das Gericht gegen diesen Vorwurf in Schutz. Der Senat habe an die ebenso simple wie richtige Tatsache erinnert, dass trotz aller politischen Natur des Organisationsverfassungsrechts die Beteiligungsrechte von Abgeordneten keine zu vernachlässigende Größe seien, er habe dadurch die Demokratie gestärkt.

Im Interview mit spiegel.de (Timo Lehmann) findet Rechtsprofessor Joachim Wieland die Entscheidung zwar nicht überraschend, hält sie aber für einen bemerkenswerten Eingriff in die Autonomie des Bundestages. Wenn das Bundesverfassungsgericht jetzt nach Auslegung der Verfassung Bedenken gegen die Geschäftsordnung des Bundestags erhebe, müsse diese womöglich geändert werden. Die FAZ (Eckart Lohse) stellt den CDU-Abgeordneten Thomas Heilmann vor, der den Eilantrag gestellt hatte. Der frühere Berliner Justizsenator "wandert und mäandert" durch Politik und Wirtschaftswelt und sei seit Mittwochabend der Mann, der dem Kanzler die Sommerpause verdarb.

Rechtspolitik

Suizidhilfe: Im Bundestag hat keiner der beiden Gesetzentwürfe für eine Regelung der Suizidhilfe eine Mehrheit erhalten. Gegen den Entwurf der Gruppe Castellucci stimmten 362 Abgeordnete, dafür 302. Der Gesetzentwurf der Gruppe Helling-Plahr/Künast erhielt
375 Nein-Stimmen und 286 Ja-Stimmen. Damit bleibt die Suizidhilfe weithin ungeregelt. Das Bundesverfassungsgericht hatte im Februar 2020 das strafrechtliche Verbot der "geschäftsmäßigen Suizidhilfe" für nichtig erklärt. FAZ (Heike Schmoll), SZ (Sina-Maria Schweikle/Annette Zoch), taz (Barbara Dribbusch), Welt (Matthias Kamann), spiegel.de (Dietmar Hipp), zeit.de (Ingo Arzt/Tom Kattwinkel) berichten über die Debatte, die Abstimmung und die Reaktionen.

Im Interview mit der taz (Anne Diekhoff) beklagt der Medizinethiker Ralf Jox, dass der Bundestag sich "davor gedrückt" habe, die Sterbehilfe endlich verfassungskonform zu regeln. Er sei eingeknickt vor dem Chor der Stimmen aus der Fundamentalopposition, die auf Zeit spielen wollten.

Die Abgeordneten haben richtig gehandelt, findet Annette Zoch (SZ). Fragen über den Wert des Lebens und über den gesellschaftlichen Umgang mit Tod und Sterben eigneten sich nicht dazu, vor der Sommerpause durchgepeitscht zu werden. Daniel Deckers (FAZ) weist darauf hin, dass Deutschland nach dem Karlsruher Richterspruch auch ohne ein Gesetz eine der liberalsten und bewährtesten Regelungen weltweit habe. Viel wichtiger sei die Suizidprävention. Um diese sei es bislang nicht schlecht bestellt, aber Länder wie Österreich seien der Bundesrepublik weit voraus. Der Zugang zur Suizidhilfe bleibe im Graubereich und privilegiert, stellt Barbara Dribbusch (taz) kritisch fest. Man müsse im Bedarfsfall Ärzt:innen kennen, die unterstützten, oder Mitglied in einem der Vereine sein und auch ein bisschen Geld haben. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Anne Baldauf kritisiert auf LTO, dass das Abstimmungsergebnis zu einem "untragbaren Zustand" geführt hat. In dreieinhalb Jahren müsse es doch möglich sein, eine mehrheitsfähige Lösung zu finden.

Cannabis: LTO (Hasso Suliak) stellt exklusiv den 163-seitigen Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums zur Cannabis-Entkriminalisierung vor. Personen, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, soll der Besitz von bis zu 25 Gramm Cannabis zum Eigenkonsum künftig erlaubt werden. Erwachsene sollen "an ihrem Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes bis zu drei Cannabispflanzen zum Zweck des Eigenkonsums" züchten dürfen. Der Entwurf enthält keine Verordnungsermächtigung, mit der die Länder strengere Regelungen beschließen können. Der Gesetzentwurf ist im Text verlinkt. 

Geschlechtliche Selbstbestimmung: Das Gesetzgebungsverfahren zum geplanten Selbstbestimmungsgesetz komme nicht voran, weil das Bundesinnenministerium befürchte, dass Kriminelle das Gesetz ausnutzen könnten, um sich Strafverfolgern zu entziehen, so spiegel.de (Sophie Garbe/Wolf Wiedmann-Schmidt). Die Entscheidung im Kabinett, die eigentlich für Juni vorgesehen war, wurde deshalb auf unbestimmte Zeit vertagt.

Justiz

VG Berlin zu Mohrenstraße: Die Berliner Mohrenstraße, in der sich auch das Bundesjustizministerium befindet, darf umbenannt werden. Das Verwaltungsgericht Berlin wies die Klagen von Anwohnern, unter ihnen der Historiker Götz Aly, ab. Die Bezirksverordnetenversammlung hatte im August 2020 beschlossen, dass die Straße den Namen von Anton Wilhelm Amo, dem ersten namhaften Philosophen schwarzer Hautfarbe in Deutschland, tragen soll. Wie das Gericht jetzt feststellte, hat der Bezirk bei Entscheidungen dieser Art ein weites Ermessen, eine Straßenumbenennung könne daher gerichtlich nur darauf überprüft werden, ob die Behörde in willkürlicher Weise gehandelt habe. Das sei hier nicht der Fall gewesen. FAZ (Markus Wehner), taz (Marie Frank),  spiegel.de, zeit.de und LTO berichten.

EGMR – Oury Jalloh: Wie LTO meldet, hat die Familie des 2005 in Polizeigewahrsam in Dessau-Roßlau unter weithin ungeklärten Umständen bei einem Brand ums Leben gekommenen Oury Jalloh Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Der Beschwerdeführer – der Bruder des Verstorbenen - berufe sich auf das Recht auf Leben aus Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), auf das Verbot der Folter aus Art. 3 EMRK und das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK.

EuGH zu straffälligen Flüchtlingen: Dass Flüchtlinge, die wegen einer besonders schweren Straftat verurteilt wurden, ihren Flüchtlingsstatus verlieren können, wenn sie zugleich eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellen, hat der Europäische Gerichtshof entschieden. Die Verurteilung müsse sich auf eine Tat beziehen, die eine "außerordentliche Schwere aufweist" und "zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen", so das Gericht. Mehrere weniger gewichtige Straftaten dürfen nicht zu einer schweren aufaddiert werden; vielmehr müsse mindestens eine Tat vorliegen, die als solche außerordentlich schwer wiegt. SZ (Andrea Bachstein), tagesschau.de (Max Bauer) und LTO berichten über die Entscheidung.

LG Frankfurt/M zum Misgendern: Das Landgericht Frankfurt/M. hat eine Eilentscheidung gegen die Redaktion eines Blogs, den der ehemalige Bild-Chefredakteur Julian Reichelt betreibt, bestätigt, weil auf der Plattform die Journalistin Janka Kluge zunächst als "Transfrau", dann als "biologischer Mann" und später als "Mann" bezeichnet wurde. Kluge sah sich dadurch verletzt, auch ihr Anwalt sieht insbesondere in der Abfolge der Begriffe eine herabsetzende Absicht. Eine scharfe, aggressive Sprache sei zwar prinzipiell erlaubt, so die Pressekammer, die hier genannten Äußerungen seien in dem Kontext aber bewusst verunglimpfend und persönlichkeitsrechtsverletzend. Die SZ (Simon Sales Prado) berichtet.

Recht in der Welt

USA - Antidiskriminierungsgesetz Colorado : Die SZ (Peter Burghardt) befasst sich noch einmal mit der Entscheidung des US-Supreme Court, mit der einer Webdesignerin recht gegeben wurde, die sich aus Glaubensgründen weigert, Webseiten für homosexuelle Paare zu erstellen. Nachdem die Webdesignerin gegen das Antidiskriminierungsgesetz von Colorado geklagt hatte, meldete sich bei ihr ein vermeintliches schwules Paar, was aber - wie sich erst jetzt herausstellte - eine Fake-Email war. In den USA wird nun diskutiert, ob der Supreme Court nur über ein hypothetisches Problem entschieden hat.

Sonstiges

Cum-Ex-U-Ausschuss Bundestag: Der frühere Parlamentsjurist Paul J. Glauben kritisiert auf dem Verfassungsblog die Ablehnung des von der CDU/CSU im Bundestag beantragten Untersuchungsausschusses zum Verhalten von Olaf Scholz gegenüber der Hamburger Cum-Ex-Bank Warburg. Der Bundestag sei nicht generell gehindert, sich mit Themen der Landesverwaltung zu beschäftigen, insbesondere wenn es um mögliche Einnahmeverluste für den Bund geht. Bei der Bewertung der politischen Integrität von Bundeskanzler Olaf Scholz dürfe auch dessen Agieren auf Landesebene eine Rolle spielen. 

Rechtsfeminismus: Über die Sommerakademie Feministische Rechtswissenschaft, die im Juni in Köln stattfand, berichtet auf dem JuWisBlog die Assessorin Sabrina Prem, Mitglied des Organisationsteams. Thema waren in diesem Jahr "Feministische Perspektiven auf Sicherheit und Gewalt". Leitfrage war dabei: Vermögen es das (aktuelle) Recht und die Sicherheitsbehörden, marginalisierte Menschen zu schützen?

 

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LTO/pf/chr

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 7. Juli 2023: Eilbeschluss des BVerfG ist umstritten / Keine Neuregelung der Suizidhilfe / Umbenennung der Mohrenstraße . In: Legal Tribune Online, 07.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52176/ (abgerufen am: 30.06.2024 )

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