Die juristische Presseschau vom 2. Juni 2023: EP für Kon­trolle von Lie­fer­ketten / EP gegen Ungarns Rats­vor­sitz / VG Dresden zu ext­re­mis­ti­schem Refe­rendar

02.06.2023

Das EU-Parlament hat der Lieferketten-Richtlinie grundsätzlich zugestimmt. Außerdem wandte sich das EP gegen die Rats-Präsidentschaft Ungarns 2024. Das VG Dresden begründete, warum ein Rechtsextremist in Sachsen Referendar werden darf.

Thema des Tages

Lieferketten und Menschenrechte: Das EU-Parlament hat mit klarer Mehrheit (366 Ja- und 225 Nein-Stimmen) für eine EU-Richtlinie zur Kontrolle von Lieferketten gestimmt, wonach Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden und einem weltweiten Umsatz von mehr als 40 Millionen Euro künftig ihre ganze Lieferkette hinsichtlich etwaiger Verstöße gegen Umwelt- und Menschenrechte überprüfen müssen. Auch Unternehmen, die ihren Sitz nicht in der EU haben und die mehr als 150 Millionen Euro jährlich umsetzen und davon mindestens 40 Millionen Euro in der EU, fallen in den Anwendungsbereich. Je nach Unternehmensgröße sind gestaffelte Übergangsfristen von bis zu fünf Jahren vorgesehen. Die konservative EVP-Fraktion hatte sich zwar kurzfristig überwiegend gegen das Vorhaben gestellt, aber letztlich stimmte die Fraktion nicht geschlossen dagegen. Bevor die Richtlinie in Kraft treten kann, muss sich das Parlament noch mit dem Ministerrat im Trilog auf eine gemeinsame Position einigen. Es berichten SZ (Jan Diesteldorf), FAZ (Hendrik Kafsack), taz (Leila van Rinsum), zeit.de und spiegel.de.

Björn Finke (SZ) kommentiert, dass Unternehmen keine Weltpolizei seien und dass die Richtlinie insbesondere den Mittelstand überlaste, der gegenüber Lieferanten wenig Verhandlungsmacht habe. Auch Heike Göbel (FAZ) befürchtet eine Überforderung der Unternehmen und schreibt, dass sich die Abgeordneten für ein reines Gewissen und gegen wirtschaftliche Vernunft entschieden hätten. Hannes Koch (taz) kommentiert hingegen, dass die EU damit einen Standard setzte, der international Schule machen werde und dass davon auszugehen sei, dass die "Auswüchse der Billigglobalisierung" etwas zurückdrängt werden.

Rechtspolitik

EU-Ratsvorsitz/Ungarn: Das EU-Parlament hat die Regierungen der EU-Staaten in einer Resolution mit großer Mehrheit (442 dafür, 144 dagegen) aufgefordert, Ungarn im zweiten Halbjahr 2024 nicht die Präsidentschaft im Rat der EU zu überlassen. Turnusgemäß wäre Ungarn dann für sechs Monate dafür verantwortlich, die politische und legislative Agenda der Union zu koordinieren. Der Vorsitz wird zwar vom Rat bestimmt, aber das EU-Parlament fordert dessen Mitglieder dazu auf, "so schnell wie möglich eine gute Lösung" für das Problem der ungarischen Präsidentschaft zu finden. Andernfalls "könnte das Parlament angemessene Maßnahmen ergreifen". Wie die konkreten Maßnahmen aussehen könnten, blieb offen. Denkbar wäre ein Redeverbot für Ungarns Regierungschef Viktor Orbán im EU-Parlament oder ein Boykott der Zusammenarbeit mit der Ratspräsidentschaft. Es berichten SZ (Hubert Wetzel), taz (Eric Bonse), Welt und spiegel.de.

Die niederländischen Rechtsprofessoren Kees Groenendijk und John Morijn und die Exekutivsekretärin der Meijers-Kommission, Barbara Safradin, zeigen auf dem Verfassungsblog drei Handlungsmöglichkeiten für den Rat und für die Mitgliedsstaaten auf: Erstens könne man den Vorsitz unter Berufung auf Interessenkonflikte im Rat auf Troika-Mitgliedsstaaten übertragen. Zweitens könne man versuchen, Ungarns Vorsitz wegen der laufenden rechtsstaatlichen Haushaltsauflagen zu verschieben. Und drittens könne der Europäische Rat Bedingungen dafür formulieren, wann ein Mitgliedstaat, der unter der Kontrolle von Artikel 7 EUV steht oder rechtsstaatlichen Haushaltsauflagen unterliegt, wieder die Ratspräsidentschaft übernehmen darf.

Istanbul-Konvention: Die Europäische Union tritt der Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen bei. Nach dem EU-Parlament stimmte nun auch der EU-Ministerrat für die Ratifizierung der Konvention, die 2011 vom Europarat ausgearbeitet worden war. Einige Länder wie Bulgarien, Tschechien und Ungarn hatten die Konvention bisher noch nicht ratifiziert. In Deutschland ist sie am 1. Februar 2018 in Kraft getreten. zeit.de berichtet.  

Epidemien: Im Interview mit beck-aktuell (Monika Spiekermann) stellen die Rechtsprofessorin Andrea Kießling, die Habilitandin Anna-Lena Hollo und der wissenschaftliche Mitarbeiter Johannes Gallon ihren Gesetzesentwurf zur Neuordnung der Rechtsgrundlagen der Epidemiebekämpfung vor. Grundlegend unterscheide dieser auf der Tatbestandsseite drei Stufen, die auf der Rechtsfolgenseite zu unterschiedlich eingriffsintensiven Bekämpfungsmaßnahmen ermächtigen.

Justiz

BGH – "Metall auf Metall": Die SZ (Wolfgang Janisch) berichtet über die erneute Verhandlung des Bundesgerichtshofs zur Auseinandersetzung zwischen der Band Kraftwerk und dem Musikproduzenten Moses Pelham um die Verwendung eines zweisekündigen Kraftwerk-Samples. Das Verfahren läuft bereits über zwanzig Jahre, auch BVerfG und EuGH waren bereits damit befasst. Der BGH steht dieses Mal vor der Frage, ob das Sample ein "Pastiche" nach § 51a UrhG ist. Weil diese Norm auf die EU-InfoSoc-Richtlinie zurückzuführen ist, sei es möglich, dass der Fall per Vorabentscheidungsersuchen ein weiteres Mal beim EuGH landet.

BFH zu Kindergeld und Opferrente: Nach einem Urteil des Bundesfinanzhofs haben Eltern, deren Kind Opfer einer Gewalttat wird und infolgedessen nicht für den eigenen Lebensunterhalt aufkommen kann, einen vollen Anspruch auf Kindergeld. Die Grundrente, die das Kind als Geschädigter nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) erhält, wird nicht angerechnet. LTO berichtet.

OLG Dresden zu militanter Antifa/Lina E.: Nach der Verurteilung der Linksextremistin Lina E. haben ihre Verteidiger Revision beantragt. Die FAZ (Stefan Locke) berichtet. Die FAZ (Stephan Klenner) erörtert zudem, warum das Gericht keine Fluchtgefahr sah und den Haftbefehl außer Vollzug setzte. Bild erwägt, ob hier eine "Liebesfalle" vorliegt, um Lina E.s untergetauchten Lebensgefährten Johann Guntermann verhaften zu können.

Lennart Pfahler (Welt) erachtet die Außer-Vollzug-Setzung des Haftbefehls als riskant, da die Gefahr bestehe, dass Lina E. sich Guntermann anschließt und ebenfalls untertaucht.

LG Hamburg zu Betrug/Coronahilfen: Das Landgericht Hamburg hat vier Personen wegen Subventionsbetrugs mit staatlichen Coronahilfen zu Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jahren verurteilt. Die Hamburger hatten ein ausgeklügeltes Netz aus diversen Scheinfirmen ohne echte Geschäftstätigkeit aufgebaut, für die sie insgesamt 12,5 Millionen Euro Coronahilfen beantragten, wovon drei Millionen ausgezahlt wurden. spiegel.de berichtet.

LG Leipzig zu Online-Drogenshop Candylove: LTO (Linda Pfleger) fasst noch einmal den Prozess um den als Kinderzimmer-Dealer bekannt gewordenen Maximilian Schmidt zusammen, der wegen seines zweiten Drogen-Online-Shops "Candylove" am 17. Mai zu viereinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden ist. Der Prozess gleiche einem Drehbuch mit kleinen Überraschungen und allerlei Emotionen. Inzwischen haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch Schmidt Revision eingelegt.

VG Frankfurt/O. zu Essen in Kita: Das Verwaltungsgericht Frankfurt/O. hat im Eilverfahren entschieden, dass ein Kind keinen Anspruch auf ein erbsenfreies Mittagessen in der Kindertagesstätte hat – auch wenn es unter einer ärztlich bescheinigten Erbsen-Unverträglichkeit leidet. Eine Versorgung des Kindes mit einer erbsenfreien Sonderkost sei nicht möglich, da Erbsen in vielen Gerichten als Zusatzstoff oder Aroma verwendet werden und es keine gesetzliche (lebensmittelrechtliche) Kennzeichnungspflicht für Erbsen gebe. LTO berichtet.

Wahlprüfungsgericht Bremen - verschwundene Stimmzettel: Nachdem am 14. Mai bei der Bürgerschaftswahl in Bremen rund 280 Wahlzettel mit 1400 Stimmen in vier Bezirken abhandengekommen sind, wird der Landeswahlleiter für die betroffenen Bezirke Einspruch beim Bremer Wahlprüfungsgericht einreichen. Wegen der fehlenden Stimmen könnten innerhalb der Parteilisten Verschiebungen entstehen, sodass Nachrücker:innen ins Landesparlament einziehen oder Abgeordnete ihr Mandat verlieren könnten. Auf die Sitzverteilung habe der Fehler aber keinen Einfluss. zeit.de berichtet.

AG München – Klimaprotest: Nach einer Protestaktion bei einem Fußballspiel in der Allianz Arena im August 2022 sind drei Klimaaktivist:innen der Letzten Generation vom Amtsgericht München wegen Hausfriedensbruchs zu Geldstrafen verurteilt worden. Sie hatten versucht, sich mit Kleber und Kabelbindern an den Fußballtoren festzubinden. Zwei Aktivistinnen erhielten jeweils zehn Tagessätzen zu je 15 Euro und der Aktivist 15 Tagessätzen zu je 15 Euro. LTO berichtet.

AG Berlin-Tiergarten – Angriffe auf Einsatzkräfte: Nach den Silvester-Krawallen mit massiven Angriffen auf Rettungskräfte und Polizisten kommt es am Dienstag am Amtsgericht Tiergarten zu einem ersten öffentlichen Prozess gegen einen 23-Jährigen, der wegen einem tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte und wegen einer versuchten gefährlichen Körperverletzung angeklagt ist. Bisher wurden in 18 Fällen Anklagen erhoben und sechs Strafbefehle beantragt. Es berichten taz-Berlin und zeit.de.

Betriebsratsvergütung: Die Rechtsanwältin Johanna Gerstung gibt im Expertenforum Arbeitsrecht einen Überblick über die aktuelle BAG- und BGH-Rechtsprechung zur Vergütung von Betriebsratsmitgliedern nach § 37 IV BetrVG.

Recht in der Welt

Simbabwe – Meinungsfreiheit: Das Parlament in Simbabwe hat einen umstrittenen Gesetzentwurf verabschiedet, der die "vorsätzliche Schädigung der Souveränität und nationaler Interessen" unter Strafe stellt. Bei Verstößen durch "unpatriotische" Bürger:innen sieht das Gesetz Gefängnisstrafen von bis zu 20 Jahren vor. Die Opposition sieht darin ein Mittel zur Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im August. zeit.de und spiegel.de berichten.

Australien – Elitesoldat/Kriegsverbrechen: Ein Bundesgericht in Sydney hat die Verleumdungsklage des ehemaligen Elitesoldaten Ben Roberts-Smith zurückgewiesen, mit der er sich gegen die Behauptungen von Zeitungen wehren wollte, er habe in Afghanistan sechs Menschen ermordet. Vier Morde sah der Richter jedoch als bewiesen an und bezeichnete Roberts-Smith als "gefühllos und unmenschlich". Es berichten FAZ (Till Fähnders) und spiegel.de.

USA – Danny Masterson: In Los Angeles hat ein Gericht den US-Schauspieler Danny Masterson für schuldig befunden, zwei Frauen im Jahr 2003 vergewaltigt zu haben. Ihm droht nach Angaben der Staatsanwaltschaft eine lebenslange Haftstrafe. spiegel.de berichtet.

Juristische Ausbildung

VG Dresden zu rechtsextremem Referendar: LTO (Markus Sehl) berichtet über die nun veröffentlichten Urteilsgründe des Verwaltungsgerichts Dresden, das die Ablehnung der Bewerbung des rechtsextremen Matthias B. zum Referendariat in Sachsen Anfang April für rechtswidrig erklärt hatte. Das Gericht orientiere sich an der vorausgegangenen Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs Sachsen, der M. Ende 2021 im Eilverfahren und 2022 in der Hauptsache Recht gab und eine Verletzung der Ausbildungs- und Berufswahlfreiheit festgestellte. Dabei übernahm das VG die enge Auslegung des VerfGH hinsichtlich der 2021 neu eingeführten Zugangshürde in § 8 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 Juristenausbildungsgesetz (JAG) Sachsen, wonach eine Einstellung nicht erfolgen darf, wenn Bewerber:innen die freiheitlich demokratische Grundordnung in strafbarer Weise bekämpfen. Auch wenn M. in der rechtsextremistischen Partei "Der III. Weg" aktiv ist, fehle es hier an der Verknüpfung der verfassungsfeindlichen Einstellung mit konkreten Straftaten, die er 2005 bis 2013 begangen hatte. Zuvor hatte M. sich schon in Bayern und Thüringen beworben und dort erfolglos geklagt. 

Sonstiges

Nötigung: Mit Blick auf die Klebeaktionen der Letzten-Generation zeichnet Wolfgang Janisch in der SZ die rechtshistorische Entwicklung des Gewaltbegriffs als Tatbestandsmerkmal der Nötigung bis hin zur Zweite-Reihe-Rechtsprechung nach. Man müsse sich von dem Gedanken trennen, dass demokratische Auseinandersetzung allein in den engen Bahnen des Strafrechts möglich sei. Auch mit "Gewalt" im Sinne der Nötigung könne man "friedlich" im Sinne der Versammlungsfreiheit agieren. Die Frage sei, ob dieser zivile Ungehorsam legitim sei. Janisch erinnert nach vorherigen Vergleichen mit Mahatma Gandhi und Martin Luther King daran, dass es auch bei der Klimakrise um einen Kampf um Freiheit gehe, nämlich der Freiheit der jungen Generation – was das BVerfG exakt so entschieden habe.

Ransomware-Erpressung: Jonathan Eggen und Lorenz Bode untersuchen auf dem JuWissBlog die einschlägigen Straftatbestände bei Erpressungsversuchen mit sogenannter Ransomware. Bei solchen Lösegeldzahlungen konstatieren sie dass das Strafgesetzbuch veraltet sei, weil die Zahlung an eine kriminelle Hackervereinigung mitunter strafbar sein könne, während die Zahlung an einen Einzeltäter straffrei sei. Diesen Widerspruch könne man jedoch in § 129 Abs. 1 S. 2 Var. 1 StGB (Unterstützung einer kriminellen Vereinigung) auf der Rechtfertigungsebene beheben.

beA: Rechtsanwalt Wendt Nassall kritisiert auf beck-aktuell die technische Anfälligkeit des besonderen elektronischen Anwaltspostfachs (beA), dessen Störungsarchiv von Januar 2022 bis April 2023 allein 65 Seiten verzeichne. Es obliege im Zweifel den Anwält:innen, eine Störung unverzüglich glaubhaft zu machen, was mit rechtlichen Risiken verbunden sei. Das System müsse überarbeitet werden.

Rechtswissenschaft: In der FAZ bespricht Rechtsprofessor Milos Vec zum achtzigsten Geburtstag von Rechtsprofessor Jan Schröder dessen neuen zweiten Band "Rechtswissenschaft in der Neuzeit". Er zeichne die Entwicklung von Naturrecht und Rechtspositivismus in der Neuzeit mit Originalität und Feinheit nach.

Das Letzte zum Schluss

Das falsche Auto überholt: In Berlin hat ein 18-Jähriger auf der A 115 das Tempolimit von 100 km/h um 180 km/h überschritten. Zuvor hatte er eine Zivilstreife überholt und dann lautstark bis auf 280 km/h beschleunigt. Der sechs Monate alte Führerschein wurde beschlagnahmt. spiegel.de berichtet.

 

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Montag erscheint eine neue LTO-Presseschau.

LTO/tr/chr

(Hinweis für Journalist:innen

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 2. Juni 2023: . In: Legal Tribune Online, 02.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51901 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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