Die juristische Presseschau vom 16. Februar 2023: Klage wegen Whist­le­b­lowing / Gesetz­ent­wurf für Dis­zi­p­li­nar­ver­fü­gungen / Ände­rungen nach Mes­ser­an­griff im Zug

16.02.2023

EU-Kommission verklagt Deutschland vor dem EuGH wegen Nicht-Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie. Bundeskabinett beschließt Entwurf für beschleunigte Disziplinarverfahren. Hamburg kündigt Maßnahmenpaket nach Messerangriff in Brokstedt an.

Thema des Tages

EuGH/Deutschland – Whistleblowing: Die EU-Kommission hat gegen Deutschland wegen des unzureichenden Schutzes von Hinweisgeber:innen (Whistleblowern) vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt. Deutschland hat die 2019 beschlossene EU-Whistleblower-Richtlinie immer noch nicht umgesetzt, obwohl die Frist bereits Ende 2021 endete. In der vergangenen Woche hatte ein entsprechendes Gesetz nicht die benötigte Zustimmung im Bundesrat erhalten. Die CDU/CSU-mitregierten Länder begründeten dies u.a. damit, dass das Gesetz weit über die EU-Richtlinie hinausgehe. Die EU-Richtlinie schützt Whistleblower nur, wenn sie Verstöße gegen EU-Recht aufdecken. Neben Deutschland werden sieben weitere EU-Staaten verklagt. FAZ (Marcus Jung/Hendrik Kafsack), SZ und LTO.

EGMR/Luxemburg - Lux Leaks-Whistleblower: Nun berichtet auch LTO, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Verurteilung des Whistleblowers Raphael Halet im Zusammenhang mit den sogenannten "Luxemburg Leaks" beanstandet hat. 

Rechtspolitik

Disziplinarrecht/Extremismus: Das Bundeskabinett hat einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung von statusrelevanten Disziplinarverfahren beschlossen. Bundesbeamt:innen können künftig per Disziplinarverfügung der Behörde aus dem Beamtenverhältnis entfernt werden. Eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts ist nicht mehr erforderlich. Zudem soll der Verlust des Beamtenstatus bereits ab einer Verurteilung wegen Volksverhetzung zu sechs Monaten Freiheitsstrafe eintreten. Der Beamtenbund kritisierte, dass neben dem bewährten behördlichen Disziplinarverfahren und einem bis zu dreistufigem gerichtlichem Instanzenzug noch ein behördliches Widerspruchsverfahren hinzukäme. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) monierte unter anderem, dass der Entwurf nichts zur Rehabilitation von fälschlich beschuldigten Beamt:innen regele. Es berichten SZ (erweiterte sueddeutsche.de-Fassung/Robert Roßmann) und LTO.

Sexuelle Selbstbestimmung: Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) möchte ermöglichen, dass der Staat auch nach Inkrafttreten des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes Regelungen aufgrund des biologischen Geschlechts treffen darf. Auch nach einer Änderung des Personenstands soll etwa für schulische Sportprüfungen weiter an das biologische Geschlecht angeknüpft werden. Eine personenstandsrechtliche Erfassung des biologischen Geschlechts sei dabei nicht vorgesehen. "Die Frage des biologischen Geschlechts offenbart sich in bestimmten Kontexten von ganz alleine. Da brauche ich kein Ausweisdokument", sagte Buschmann. Die FAZ (Stephan Klenner/Reinhard Müller) berichtet.

Dokumentation der Hauptverhandlung: Der Deutsche Anwaltverein (DAV) bezeichnete den von Justizminister Marco Buschmann (FDP) vorgelegten Gesetzentwurf zur audiovisuellen Aufzeichnung der strafgerichtlichen Hauptverhandlung als Schritt in die richtige Richtung. Eine objektive und transparente Dokumentation sei überfällig und in anderen europäischen Ländern längst üblich. LTO berichtet.

Maßregelvollzug/Drogenentzug: Die Zeit (Johanna Jürgens) bringt eine Reportage über den überlasteten Maßregelvollzug, wozu die Ampel-Regierung bereits einen Reformvorschlag zu § 64 StGB vorgelegt hat. Das System sei vor allem durch nicht wirklich suchtkranke Gefangene "verstopft", was dazu führe, dass einige Straftäter ohne jede Kontrolle auf freien Fuß kommen. Findige Anwält:innen wüssten diesen Systemfehler für sich zu nutzen.

Chatkontrolle: netzpolitik.org (Sebastian Meineck) berichtet über den Entwurf einer Stellungnahme des (nicht federführenden) Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz des Europäischen Parlaments zum Vorschlag der EU-Kommission zum Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch im Netz. Danach soll die umstrittene Chatkontrolle nicht für verschlüsselte Chats gelten. Außerdem sollen Upload-Filter nur nach bekannten Missbrauchsdarstellungen suchen, nicht nach bisher unbekannten Darstellungen, weil hier die Verwechslungsgefahr zu groß wäre.

Justiz

BGH zu beA: Auf LTO berichtet Rechtsanwalt Martin W. Huff über die nun veröffentlichten Beschlussgründe der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum besonderen elektronischen Anwaltspostfach (beA) vom 11. Januar. Der BGH diktiere der Anwaltschaft sehr deutlich die Anforderungen an die Schulung und Anweisung der Mitarbeitenden in Bezug auf die Versandkontrolle von Schriftsätzen, die über das beA übermittelt werden. Ausgangspunkt seien die für das Telefax entwickelten Grundsätze.

BGH zu Widerspruchsrecht bei Versicherungen: Nicht jeder Fehler bei der Belehrung über das Widerspruchsrecht bei Abschluss eines Versicherungsvertrags führt dazu, dass der Widerspruch noch Jahre später eingelegt werden kann. Dies entschied jetzt der Bundesgerichtshof in einem Prozess, in dem eine Lebensversicherung einen Kunden fälschlich darüber belehrt hatte, dass der Widerspruch in Schriftform zu erfolgen habe. Hierbei handele es sich um einen geringfügigen Fehler, so der BGH, weshalb ein Jahre später darauf gestützter Widerspruch gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoße. tagesschau.de (Max Bauer) berichtet.

BAG – Equal Pay: An diesem Donnerstag verhandelt das Bundesarbeitsgericht über die Frage, ob eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung vorliegt, wenn ein Mann beim Jobeinstieg ein höheres Gehalt ausgehandelt hat und in der Folge mehr verdient als eine Frau in der gleichen Position. Die Klägerin Susanen Dumas verdiente bei einem Gehalt von 3.500 Euro rund 1.000 Euro weniger und klagt mithilfe der Gesellschaft für Freiheitsrecht (GFF) auf Zahlung der Differenzbeträge. Das BAG wird an diesem Donnerstag entweder entscheiden oder das Verfahren dem EuGH vorlegen. Im Fall einer negativen Entscheidung kündigte die GFF bereits eine Verfassungsbeschwerde an. LTO (Tanja Podolski) berichtet.

LG Bonn – Cum-Ex/Duet Group: Das Landgericht Bonn verhandelt ab dem 20. März in einem weiteren Cum-Ex-Verfahren über die Anklage gegen einen Mitarbeiter des Londoner Hedgefonds und Asset-Managers Duet Group wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung. Bis Mitte Mai sind 14 Verhandlungstermine angesetzt. Danach soll in einem abgetrennten Verfahren auch noch gegen drei Partner der Duet Group verhandelt werden. Der Schaden für den Fiskus belaufe sich auf 94 Millionen Euro. Es berichten Hbl und FAZ (Marcus Jung).

Im Interview mit beck-aktuell (Tobias Freudenberg/Monika Spiekermann) berichtet der Präsident des LG Bonn, Stefan Weismann, wie sich das Gericht personell und infrastrukturell auf die Prozesswelle rund um den Cum-Ex-Komplex eingestellt hat. Es seien zehn Strafkammern geplant, mit insgesamt zehn Stellen für Vorsitzende und 20 Stellen für Beisitzer. Zudem wird extra ein neues Gerichtsgebäude gebaut.

LG München I – Ex-Wirecard-Chef Braun: Die Zeit (Ingo Malcher) bringt einen ausführlichen Bericht zum Strafprozess gegen den ehemaligen Wirecard-Vorstandschef Markus Braun vor dem Landgericht München I, in dem Braun am Montag das erste Mal aussagte und seine Unschuld beteuerte.

LG Dortmund – tödlicher Polizeieinsatz: Nun berichten auch FAZ (Reiner Burger), taz (Dariusch Rimkus), spiegel.de und LTO über die Anklagen gegen fünf Polizisten wegen der Tötung eines 16-jährigen Flüchtlings im vergangenen August. Sie sollen sich wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung vor dem Landgericht Dortmund verantworten. Dazu erklärte der Leitende Oberstaatsanwalt Carsten Dombert, dass seine Behörde keine Notwehr- oder Nothilfelage habe feststellen können.

SG Berlin – Gesundheitsdaten: Das Sozialgericht Berlin stellte das Verfahren im Zusammenhang mit der zentralen Speicherung von Gesundheitsdaten aller gesetzlich Versicherten ruhend. Das im Aufbau befindliche Forschungsdatenzentrum habe noch kein endgültiges Sicherheitskonzept, da es gerade seine Dienstleister wechsele. Deshalb könne die Tatsachenermittlung noch nicht abgeschlossen werden. Der Prozess, in dem unter anderem die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) geklagt hatte, soll in der zweiten Hälfte von 2023 oder 2024 fortgesetzt werden. netzpolitik.org (Anna Seikel/Tim Wurster) berichtet.

VG Düsseldorf zu Informationsfreiheit/Nachtflüge: Nachdem das Verwaltungsgericht Düsseldorf im Dezember 2022 das Landesverkehrsministerium NRW dazu verpflichtet hatte, einem Verein Auskunft über die Arbeit des "Slot Performance Monitoring Committee" (SPMC) zu erteilen, setzte es nach weiterhin nicht erfolgter Auskunftserteilung nun ein Zwangsgeld in Höhe von 10.000 Euro gegen das Land NRW fest. Das SPMC ist ein Kontrollgremium für Nachtflugbestimmungen und soll Verletzungen durch Airlines feststellen und ahnden. LTO berichtet.

AG München – Raserunfall: In München hat der Prozess gegen einen 26-Jährigen wegen einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung begonnen. Er soll 2019 mit einem gemieteten Sportwagen bei mindestens 305 km/h einen Unfall verursacht haben, bei dem sein Beifahrer starb. spiegel.de berichtet.

Polzist:innen als Zeug:innen: Ex-Bundesrichter Thomas Fischer benennt auf LTO Risiken für die Wahrheitsermittlung in Gerichten, wenn Polizist:innen als Zeug:innen aussagen. Polizist:innen seien mit den Abläufen in Verhandlungen vertraut, sodass der "Einschüchterungseffekt" und gewisse Vernehmungsmethoden weniger funktionierten. Das größte Risiko bestehe, wenn Polizist:innen in Verfahren aussagen, in denen sie selbst oder Kolleg:innen beteiligt sind.

Geldauflagen: Nun berichtet auch LTO (Paula Binder) über eine Datenbank der Rechercheplattform correctiv.org zur Verteilung der Summen, die die Justiz als Geldauflagen verhängte. In den letzten 15 Jahren seien das über eine Milliarde Euro gewesen. Häufig seien die Kriterien undurchsichtig.

BVerfG-Richterin Susanne Baer: Im Interview mit dem SWR-RadioReportRecht (Gigi Deppe) gibt die Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer anlässlich des Endes ihrer Amtszeit am 20. Februar Einblicke in das Innenleben des BVerfG und berichtet über ihre arbeitsintensivsten Entscheidungen. Zudem spricht die weltweit erste sich als lesbisch bekennende Verfassungsrichterin über den Einfluss ihrer Homosexualität auf die Arbeit des Gerichts.  

Recht in der Welt

EuGH/Polen – Vorrang des Unionsrechts: Die EU-Kommission hat angekündigt, vor dem Europäischen Gerichtshof gegen Polen wegen Urteilen des polnischen Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2021 zu klagen. Das Gericht habe die Autonomie, den Vorrang und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts sowie die verbindliche Wirkung von Urteilen des EuGH missachtet. Wegen Unregelmäßigkeiten beim Ernennungsverfahren für drei Richter im Dezember 2015 und bei der Auswahl seines Präsidenten im Dezember 2016 habe das Verfassungsgericht zudem die Anforderungen an ein unabhängiges und unparteiisches Gericht nicht mehr erfüllt. Es berichten das Hbl (Christoph Herwartz), zeit.de und spiegel.de.

Italien – Silvio Berlusconi: Ein Gericht in Mailand hat den früheren Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi und 28 weitere Angeklagte in einem Prozess rund um seine sogenannten "Bunga-Bunga"-Partys mit jungen Frauen vom Vorwurf der Zeugenbestechung freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft hatte dem 86-Jährigen vorgeworfen, Frauen bezahlt zu haben, damit sie in vorherigen Prozessen wegen Amtsmissbrauchs und Förderung von Prostitution Minderjähriger die Unwahrheit sagen. Die Verteidigung räumte Zahlungen ein, die aber ergangen seien, um den Frauen in Notlagen zu helfen. Es berichten SZ (Marc Beise), zeit.de und spiegel.de.

Russland – Haft für Journalistin: Ein Gericht in Südsibirien hat die russische Journalistin Marija Ponomarenko wegen falschen Nachrichten über die russische Armee zu sechs Jahren Straflager und einem fünfjährigen Berufsverbot im Anschluss verurteilt. Es berichten FAZ (Friedrich Schmidt) und spiegel.de.

Sonstiges

Maßnahmen nach Messerangriff im Zug: Als Konsequenz aus der tödlichen Messerattacke von Brokstedt haben der Hamburger Innensenator Andy Grote (SPD) und die Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) ein Maßnahmenpaket vorgelegt. Ab sofort sollen wegen eines Gewaltdelikts inhaftierte Untersuchungsgefangene, die aggressive Verhaltensauffälligkeiten zeigen oder drogenabhängig sind, stärker hinsichtlich möglicher Gefahren nach ihrer Entlassung in den Blick genommen werden. Dabei sollen Justizvollzug, Sicherheitsbehörden, Staatsanwaltschaft und Ausländerbehörde zusammenarbeiten und alle Hinweise auf extremistische Haltungen oder Gefährdungspotenziale sollen an den Verfassungsschutz und den polizeilichen Staatsschutz weitergeleitet werden. Zudem soll im  Regional- und Fernverkehr die Videoüberwachung als "Standard" eingeführt werden, wobei IT-Systeme bei "auffälligen Bewegungsmustern" oder "bestimmten Körperhaltungen" Warnhinweise geben sollen. Es berichten FAZ (Julian Staib), Welt (Ulrich Exner) und LTO.

Anlässlich der Messerattacke von Brokstedt berichtet der Leiter der JVA Regensburg, Marcus Hegele, im Interview mit der FAZ (Karin Truscheit) über den alltäglichen Umgang mit auffälligen Äußerungen und Verhaltensweisen im Gefängnis. Für die Einschätzung möglicher Gefahren sei die Beobachtung durch die Mitarbeiter:innen entscheidend und die Dokumentation von Auffälligkeiten im Vollzugsplan und in der Personalakte.   

Libra: Wie die FAZ (Jochen Zenthöfer) berichtet, hat das Bundesjustizministerium bereits vor dem Ergebnis des Gutachtens von Rechtsprofessor Christoph Möllers zur Frage der Staatsferne des Onlineangebots Libra vorläufige Einschränkungen angekündigt. So werde Libra künftig nur noch an juris-Kunden und Interessenten mit Abschluss eines Testvertrages für juris-Module verschickt. Außerdem würden die über die Libra-Website zugänglichen Archivinformationen eingeschränkt. In den letzten Tagen deuteten Hinweise auf der Homepage auf eine Paywall hin, was laut Libra jedoch ein Irrtum war.  

ChatGP und DSGVO: In einer ausführlichen rechtlichen Einordnung von ChatGP geht Rechtsprofessor Rolf Schwartmann in der FAZ unter anderem davon aus, dass die von ChatGP vorgenommene Verarbeitung personenbezogener Daten der DSGVO unterfällt. Wenn die KI Unwahrheiten oder gar diskreditierende Inhalte über Personen verbreitet, könnten Betroffene somit Auskunftsansprüche über die vom Bot verarbeiteten Daten oder Berichtigungs- und Löschansprüche geltend machen.

 

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LTO/tr/chr

(Hinweis für Journalist:innen

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 16. Februar 2023: . In: Legal Tribune Online, 16.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51079 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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