Die juristische Presseschau vom 2. Februar 2023: MV-Poli­zei­ge­setz in Teilen ver­fas­sungs­widrig / BGH hält Stealt­hing für strafbar / BGH zu über­langer Ver­fah­rens­dauer

02.02.2023

Das BVerfG kippt Teile des Polizeigesetzes von Mecklenburg-Vorpommern. Stealthing ist laut BGH zumindest ein sexueller Übergriff. Der BGH präzisiert die Voraussetzungen für Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer.

Thema des Tages

BVerfG zu Polizeigesetz MV: Mit einem nun veröffentlichten Beschluss vom 9. Dezember hat das Bundesverfassungsgericht Teile des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern (SOG MV) für verfassungswidrig erklärt und damit einer Verfassungsbeschwerde von fünf Privatpersonen stattgegeben, die von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und dem Bündnis "SOGenannte Sicherheit" unterstützt wurden. Beanstandet wurden sechs Normen mit präventiven Ermittlungsbefugnissen im Bereich der Datenerhebung, der Wohnraum- und Telekommunikationsüberwachung, der Verdeckten Ermittler:innen und V-Personen, der polizeilichen Beobachtung sowie der Rasterfahndung, die 2020 in Kraft traten. Unzulässig ist der Einsatz heimlicher präventiver Ermittlungen, wenn nur die Begehung einer Vorfeldstraftat (zB. gem § 89a und § 129a StGB) droht. Hier verlangt das BVerfG das Vorliegen einer "konkretisierten Gefahr" im Einzelfall. Besonders umstritten war der Einsatz von Staatstrojanern, für deren Installation die Polizei nach dem SOG MV sogar heimlich Wohnungen betreten darf. Sofern hier aber eine konkretisierte Gefahr für ein Rechtsgut von sehr hohem Gewicht und eine richterliche Anordnung vorliegen, sei dieses Vorgehen zulässig. Außerdem konstatierte das Gericht Grundrechtsverletzungen bei Regelungen zum Einsatz von Vertrauenspersonen und verdeckten Ermittler:innen, wobei es den Kernbereichsschutz erstmals näher konturierte. So sei es zum Beispiel ausgeschlossen, dass Ermittler:innen intime Beziehungen zum Zweck der Informationsgewinnung eingehen. Es berichten SZ (Wolfgang Janisch), FAZ (Stephan Klenner), taz (Christian Rath), Welt, tsp.de (Jost Müller-Neuhof), tagesschau.de (Klaus Hempel), netzpolitik.org (Anna Biselli), spiegel.de und LTO.

Reinhard Müller (FAZ) kommentiert, dass die Entscheidung ein Gespür für die Nöte der Ermittler:innen erkennen lasse. Der Gesetzgeber müsse nun aber klarmachen, was die vom BVerfG angemahnten "Anforderungen an die Konkretisierung des zur befürchteten Rechtsgutsbeeinträchtigung führenden Geschehensverlaufs" sind. Schließlich stünden an der Front der Kriminalitätsbekämpfung Polizist:innen und keine Abgeordneten oder Professor:innen.

Rechtspolitik

Rechtsextreme Schöff:innen: Die SZ (Ronen Steinke) bringt eine Seite-3-Reportage über die Akquise von Schöff:innen und beschreibt dabei eine Infoveranstaltung in einer Schule in Brandenburg. In diesen Wochen müsse von den Kommunen über die Besetzung von rund 60.000 Posten entschieden werden. Gefragt werde nur nach Name, Anschrift und Beruf. Es bestehe die Gefahr einer Unterwanderung durch Rechtsextremist:innen, die aktiv für das Schöffenamt werben. Für eine Amtsenthebung brauche man eine schwer nachweisbare "gröbliche Amtspflichtverletzung". Außerdem wird über bisherige Problemfälle berichtet. Justizminister Marco Buschmann (FDP) wolle das Deutsche Richtergesetz mit einem Passus gegen extremistische Schöff:innen ändern, "möglichst schnell, bevor die neuen Schöffen überall im Land vereidigt werden".

Justiz

BGH zu Stealthing: Nach einem nun veröffentlichten Beschluss des Bundesgerichtshofs aus dem Dezember erfüllt das heimliche Weglassen eines Kondoms (Stealthing) den Straftatbestand des sexuellen Übergriffs nach § 177 Abs. 1 Strafgesetzbuch (StGB). Ohne weitere Ausführungen merkte der BGH als Revisionsinstanz an, dass sogar eine Verurteilung wegen Vergewaltigung in Frage komme. Das wurde dem Angeklagten jedoch in der Vorinstanz vom LG Düsseldorf nicht zur Last gelegt. Hinsichtlich des sexuellen Übergriffs bestätigte der BGH jedoch die LG-Entscheidung, bei der ein Mann vortäuschte, ein Kondom zu benutzen und es dann aber doch nicht überstreifte, als die Frau sich umdrehte. Die ohne Präservativ vorgenommenen sexuellen Handlungen hätten dem erkennbaren Willen der Frau entgegengestanden. Es berichten zeit.de und LTO.

BGH zu überlanger Verfahrensdauer: Mit einer nun veröffentlichten Leitentscheidung aus dem Dezember hat der Bundesgerichtshof die Voraussetzungen für Entschädigungsverfahren gegen Gerichte wegen überlanger Verfahrensdauer gemäß § 198 GVG konkretisiert, wie Rechtsanwalt Martin W. Huff auf LTO berichtet. Insbesondere habe der BGH klargestellt, dass nicht geprüft werde, ob das Gericht sachlich alles richtig gemacht habe, sondern lediglich, ob die Verzögerung durch das Gericht in den jeweiligen Verfahrensschritten noch vertretbar sei. Eine Vertretbarkeit dürfe dabei nur verneint werden, wenn das richterliche Verhalten bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege dazu führt, dass das richterliche Verhalten nicht mehr verständlich sei. Es seien auch äußere Einflüsse zu beachten, wobei insbesondere Verzögerungen bei der Erstellung von Sachverständigengutachten nicht dem Gericht zuzurechnen seien. Mit diesem Urteil seien Entschädigungsansprüche laut Huff nur noch mit erheblichem Aufwand zu begründen.

BVerfG zu Kopftuchverbot/Berlin: Wie nun bekannt wurde, hat das Bundesverfassungsgericht bereits am 17. Januar eine Verfassungsbeschwerde des Landes Berlin gegen ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts nicht zur Entscheidung angenommen, bei der einer Muslimin, die wegen ihres Kopftuches nicht in den Schuldienst übernommen worden war, im August 2020 eine Entschädigung von rund 5000 Euro zugesprochen wurde. Hintergrund ist das umstrittene Berliner Neutralitätsgesetz, das Pädagog:innen an öffentlichen Schulen das Tragen religiöser Symbole im Dienst verbietet. spiegel.de berichtet.

BAG zu Urlaubsabgeltung: Zu der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, dass finanzielle Abgeltungsansprüche für nicht genommenen Urlaub nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses der allgemeinen Verjährung unterliegen, bringt spiegel.de (Florian Gontek) ein Interview mit der Rechtsanwältin Nicole Mutschke. Sie betont, dass die Entscheidung nur für bereits beendete Arbeitsverhältnisse gelte. Es handele sich nicht um eine Abkehr von der zuletzt eher arbeitnehmerfreundlichen Urlaubs-Rechtsprechung des BAG.

OLG Karlsruhe zu Sparbuchauszahlung: In einem nun veröffentlichten Urteil aus dem Dezember hat das Oberlandesgericht Karlsruhe einer Bank das Recht zugesprochen, gegenüber einer Kundin trotz Vorlage des Sparbuches die Auszahlung zu verweigern, wenn das Sparbuch bereits aufgelöst wurde und die Bank dies beweisen kann. Im konkreten Fall hatte die Bank bereits 1998 über 70.000 Euro an den bevollmächtigten Ehemann ausgezahlt. LTO berichtet.

OLG Frankfurt/M. zu Wiederaufnahme: Oliver Garcia (De legibus-Blog) kommentiert ausführlich einen Beschluss des Oberlandesgerichts Frankfurt/M. aus dem Juli 2022, mit dem es den Wiederaufnahmeantrag einer Frau ablehnte, die ihre Verurteilung wegen Mordes angriff. Der Beschluss sei ein Beispiel dafür, dass Wiederaufnahmeanträge bei Strafrichter:innen rational nicht mehr zu erklärende und überschießende Abwehrreflexe aktivierten.

OVG RP zu Online-Glücksspiel: Laut einem Eil-Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz hat die Gemeinsame Glücksspielbehörde der Länder gegenüber dem Telekommunikationsanbieter 1&1 zu Unrecht angeordnet, Internetseiten mit illegalem Glücksspiel zu sperren. Es fehle an einer Rechtsgrundlage, wobei der von der Aufsicht angeführte § 9 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 des Glücksspielstaatsvertrages (GlüStV) unpassend sei, weil 1&1 kein verantwortlicher Diensteanbieter sei. LTO berichtet.

LG Neuruppin zu Drogendealer/Rückführung: Die Zeit (Stefan Willeke) bringt eine ausführliche Reportage über einen 44-jährigen Drogendealer, der vom Landgericht Neuruppin wegen bandenmäßigen Drogenhandels zu fünf Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt wurde. Der Mann sei in Tansania verhaftet und von der Bundesrepublik bei der Rückführung im Stich gelassen worden. Er habe in Daressalam unter traumatisierenden Umständen fünf Monate im Gefängnis verbracht, was mit 20 Monaten auf seine Haftstrafe in Deutschland angerechnet worden sei.

LG Berlin zu "Seebrücke des Bundes": Youtube darf das Video "Seebrücke des Bundes" nicht mehr verbreiten, wenn dabei das Logo des Bundesinnenministeriums eingeblendet wird. Das entschied das Landgericht Berlin, eine Begründung liegt noch nicht vor. Das Bundesinnenministerium hatte zivilrechtlich wegen Verletzung seines Namensrechts geklagt. Das Video stammt von dem Künstlerkollektiv Peng! und verspricht Flüchtlingen im Namen der Bundesregierung die Aufnahme in Deutschland. taz.de (Christian Rath) berichtet. 

VG Berlin zu befristetem Visum: Nach einem nun veröffentlichten Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin aus dem Dezember ist eine Anstellung in einem Döner-Imbiss nicht als Beschäftigung in einem Spezialitätenrestaurant zu qualifizieren, was zur Folge hat, dass die Anstellung nicht als Grund für ein befristetes Visum angeführt werden kann. Ein Restaurant sei nach allgemeinem Sprachempfinden eine Gaststätte, in der Essen serviert werde und in der Gäste eine gewisse Zeit verweilten. Diese Voraussetzungen erfülle ein Döner-Schnellimbiss mit Selbstbedienung nicht. Es berichten taz-Berlin, spiegel.de und LTO.

AG Berlin-Tiergarten – Corona-Hilfen/Rechtsextremer Blogger: Wie spiegel.de berichtet, hat die Staatsanwaltschaft Berlin Anklage gegen den rechtsextremen Videoblogger Nikolai Nerling (bekannt als "Volkslehrer") erhoben, weil er beim Bezug von Corona-Soforthilfen betrogen haben soll.

GBA – Spion im BND: spiegel.de (Maik Baumgärtner/Jan Friedmann u.a.) und zeit.de berichten über Aussagen von Arthur E., der im Verdacht steht, Komplize des BND-Mitarbeiters Carsten L. zu sein, dem Spionagetätigkeiten für Russland vorgeworfen werden. E. ist nach eigenen Angaben zwei Mal in Moskau gewesen, um Dokumente von L. an den russischen Geheimdienst FSB zu übergeben. Bis zu seinem zweiten Besuch sei er davon ausgegangen, in geheimer Mission für den BND und nicht für einen Maulwurf tätig zu sein. Bei den überbrachten Informationen habe es sich unter anderem um russische Opferzahlen im Ukrainekrieg gehandelt, mithilfe derer der FSB mögliche BND-Quellen in Russland trockenlegen könnte. Zudem sei E. von einem weiteren BND-Mitarbeiter unterstützt worden, der ihn mit vom FSB erhaltenen Bargeld am Zoll vorbeigeschleust haben soll.

Recht in der Welt

EU/Großbritannien – Brexit/Nordirland-Protokoll: Bei den Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien zum Nordirland-Protokoll soll nach Informationen der Zeitschrift "The Times" ein Durchbruch bevorstehen. Im Bereich der Justiz soll der Europäische Gerichtshof als Klärungsinstanz erst dann auf den Plan treten, wenn ein Streitfall von nordirischen Gerichten überwiesen wird. Bisher wurde in Brüssel darauf gedrungen, dass die EU-Kommission Streitfälle sofort vor den EuGH bringen kann. Beim Außenhandel sei der stellvertretende EU-Kommissionspräsident Maroš Šefčovič bereit, auf Kontrollen für Güter zu verzichten, die aus Großbritannien kommen und nur für Nordirland bestimmt sind. Es berichten FAZ (Jochen Buchsteiner) und spiegel.de.

Großbritannien – Klimaprotest: In London hat der Westminster Magistrates Court eine 20-Jährige und einen 29-Jährigen wegen Sachbeschädigung zu einer Entschädigungszahlung von knapp 4.000 Euro verurteilt, weil sie im Oktober ein Abbild von König Charles III. im Londoner Wachsfigurenkabinett Madame Tussauds mit Kuchen beworfen haben. LTO berichtet.

Iran – Protesttanz: Ein junges Paar, das im Iran mit einem Tanzvideo gegen das Regime protestiert hatte, wurde nach staatlichen iranischen Angaben zu jeweils fünf Jahren Haft verurteilt (und nicht zu mehr als zehn Jahren Haft, wie iranische Aktivist:innen zunächst mitteilten). Dies berichteten zeit.de und spiegel.de.

USA – Alec Baldwin: Wie die Welt berichtet, ist der Schauspieler Alec Baldwin wegen des tödlichen Schusses auf eine Kamerafrau wegen fahrlässiger Tötung angeklagt worden. spiegel.de gibt anlässlich der Anklage noch einmal einen Überblick über den gesamten Fall.

USA – Haftverkürzung/Organspende: Im US-Bundesstaat Massachusetts haben Abgeordnete einen Gesetzesvorschlag ausgearbeitet, der Gefängnisinsassen die Möglichkeit geben soll, ihre Organe gegen eine verkürzte Haft einzutauschen. Im Wortlaut sollen sie "nicht weniger als 60 und nicht mehr als 365 Tage Verringerung ihrer Haftdauer" erhalten, wenn sie Knochenmark oder ein Organ spenden. spiegel.de berichtet.

Sonstiges

BKartA – Paypal: Auf LTO legen die Anwält:innen Jochen Bernhard und Eliana Koch-Heintzeler dar, warum das in der vergangenen Woche durch das Bundeskartellamt eingeleitete Verfahren gegen Paypal kein Selbstläufer wird. So liege etwa der Marktanteil von Paypal nach Angaben des Marktforschungsunternehmens EHI Retail bei 28,2 Prozent, was nach der Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (Vertikal-GVO) wohl dazu führen würde, dass die gerügten Klauseln vom Kartellverbot freigestellt wären.

Messerangriff im Zug: zeit.de (Christoph Heinemann/Tom Kroll) berichtet ausführlich über die bisherigen Straftaten von Ibrahim A., der letzte Woche in einem Zug bei Brokstedt zwei Menschen erstochen hat. Es wird auch erörtert, warum er nicht abgeschoben werden konnte und warum er vorzeitig aus der Untersuchungshaft entlassen wurde.

Uwe Wesel: Die FAZ (Milos Vec) gibt anlässlich des 90. Geburtstag des Rechtshistorikers Uwe Wesel einen Überblick über sein Leben und Schaffen. Wesel sei eine linke Staatsskepsis eigen gewesen, die mit einer bürgerlichen Lebensform koexistierte. In seiner rechtshistorischen Arbeit habe er seine erzählerische Fähigkeit damit kombiniert, große Linien zu ziehen und sich über das Spezialistentum zu erheben.

Das Letzte zum Schluss

Aktivist:innen auf Bali statt vor Gericht: Die Klimaaktivist:innen Yannik S. und Luisa S. waren am Montag als Angeklagter bzw. als Zeugin vor dem Amtsgericht Bad Cannstatt geladen, weil sie sich im September in Stuttgart gemeinsam mit anderen Mitgliedern der "Letzten Generation" auf einer Bundesstraße festgeklebt haben und den Berufsverkehr blockierten. Den Gerichtstermin ließen sie jedoch für eine Urlaubsreise auf Bali sausen, wie der Richter durch Nachfragen in Erfahrung brachte. Ein Sprecher der Letzten Generation ließ verlauten: "Sie haben den Flug als Privatleute gebucht, nicht als Klimaschützer. Das muss man auseinanderhalten." bild.de (Hagen Stegmüller) berichtet.


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LTO/tr/chr

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Zitiervorschlag

Die juristische Presseschau vom 2. Februar 2023: . In: Legal Tribune Online, 02.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50954 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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