Das Bundeskabinett wartet bei der Cannabis-Legalisierung auf grünes Licht der EU-Kommission. Deutschland schlägt BGH-Richterin Ute Hohoff für den IStGH vor. Das BVerfG sichert die Artikel 23-Parlamentsrechte auch bei der EU-Militärpolitik.
Thema des Tages
Cannabis: Das Bundeskabinett hat das erwartete Eckpunktepapier für eine Cannabis-Legalisierung verabschiedet. Cannabis und der Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) sollen nicht mehr als Betäubungsmittel eingestuft werden und Erwachsene sollen bis zu 30 Gramm Cannabis straffrei kaufen und besitzen dürfen. Der Verkauf soll in "lizenzierten Fachgeschäften" erlaubt sein, möglicherweise auch in Apotheken. Zudem soll auch der Eigenanbau in begrenztem Umfang möglich sein. Werbung und Versandhandel soll es nicht geben. Für 18- bis 21-Jährige steht eine Begrenzung des erlaubten THC-Anteils im Raum. Damit sind die Eckpunkte ein ganzes Stück liberaler als ein Entwurf, der in der vergangenen Woche bekannt geworden war. Einen Gesetzesentwurf soll es laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) jedoch erst geben, wenn eine europarechtliche Vorabprüfung durch die EU-Kommission positiv ausfällt. Im Wege einer "Interpretationserklärung" soll die Kommission davon überzeugt werden, dass die Eckpunkte mit EU-Recht und internationalen Abkommen nicht nur im Einklang stehen, sondern diesen sogar förderlich sind. Es berichten FAZ (Julia Löhr), SZ (Angelika Slavik), taz (Bernd Pickert/Tanja Tricarico), zeit.de (Fabian Albrecht), spiegel.de und LTO (Hasso Suliak).
Daniel Deckers (FAZ) kommentiert, dass die Bundesregierung mit ihrer Maxime "weil die einen saufen, sollen die anderen kiffen dürfen" sämtliche Nachbarländer vor den Kopf stoße und Deutschland im Erfolgsfall zum "Mekka eines europaweiten Rauschgifttourismus" mache. Bernd Pickert (taz) begrüßt das Streichen von Cannabis aus dem Betäubungsmittelgesetz, was einen vernünftigen Gesundheits- und Jugendschutz überhaupt erst möglich mache. Die Vorab-Überprüfung durch die EU sei jedoch "Hochrisikopolitik".
Im Interview mit der taz (Tanja Tricarico) bezeichnet Rechtsanwalt Peter Homberg den Entwurf als "Revolution" und begrüßt die frühe Einbeziehung der EU-Kommission zur Vermeidung von Vertragsverletzungsverfahren. Nun müsse die Bundesregierung auf EU-Ebene Lobbyarbeit leisten, wobei mit Unterstützung aus Portugal, Malta, Luxemburg und den Niederlanden zu rechnen sei.
Rechtspolitik
IStGH-Richterwahl: Die Bundesregierung hat die BGH-Richterin Ute Hohoff förmlich als Kandidatin für eine ab 2024 freiwerdende Richterstelle am Internationalen Strafgerichtshof vorgeschlagen. Über die Personalie entscheidet im Dezember 2023 die Vertragsstaatenversammlung des IStGH. Am IStGH gibt es 18 Richterstellen mit einer Amtszeit von jeweils neun Jahren. Bisher ist die Bundesrepublik am IStGH durch Bertram Schmitt vertreten, der ebenfalls BGH-Richter war. Die FAZ (Stephan Klenner) berichtet.
Volksverhetzung: Ronen Steinke (SZ) kritisiert am neuen § 130 Abs. 5 Strafgesetzbuch, der u.a. die Leugnung und Verharmlosung von Völkermorden und Kriegsverbrechen unter Strafe stellt, dass eine offene Debatte im Bundestag gefehlt habe. Das Justizministerium habe das Gesetz in der vergangenen Woche heimlich, still und leise und somit "demokratisch unlauter" durchgebracht. Inhaltlich kritisiert er, dass die Norm die Strafjustiz zur Richterin über die Historie mache, indem nun Gerichte festlegen müssten, welcher Vorgang überhaupt als Völkermord oder als Kriegsverbrechen einzustufen ist.
Das sieht die Rechtsprofessorin Elisa Hoven in ihrem Kommentar in der Welt ganz ähnlich. Sie weist darauf hin, dass Völkermorde und Kriegsverbrechen in einem komplexen Verfahren am Internationalen Strafgerichtshof festgestellt werden, das Amtsgerichte schlicht überfordere. Zudem fragt sie, warum man ein gerichtlich nicht festgestelltes Kriegsverbrechen nicht leugnen dürfen sollte.
Wahlprüfung: Vor dem Hintergrund der Wahlpannen in Berlin kritisiert die Rechtsprofessorin Sophie Schönberger auf dem Verfassungsblog die Regeln der Wahlprüfung bei der Bundestagswahl. Es sei ein rechtsstaatlich und demokratisch problematisches Überbleibsel aus dem Konstitutionalismus, dass über die Wahlprüfung zunächst der Bundestag selbst entscheidet, bevor das Bundesverfassungsgericht damit betraut wird. Zudem erfolge eine Korrektur durch das Gericht nur dann, wenn sich ein Fehler tatsächlich auf die konkrete Zusammensetzung des Parlaments auswirkte (Mandatsrelevanz). Dadurch werde eine allgemeine Folgenabwägung anstelle einer Rechtsmäßigkeitsprüfung vorgenommen. Ganz ähnlich sieht das Rechtsprofessor Winfried Kluth auf dem Verfassungsblog. Die aktuelle Wahlprüfung schütze einseitig die Interessen der etablierten und bei der zu überprüfenden Wahl erfolgreichen Parteien, was er mit einer Kritik an der Zuständigkeit, dem Verfahren und den Prüfungsmaßstäben nachzeichnet.
Richtlinienkompetenz/AKW-Streckbetrieb: Auf dem JuWissBlog arbeitet der wissenschaftliche Mitarbeiter Christoph Schröder anlässlich des von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vorgegebenen Weiterbetriebs der drei verbliebenen deutschen Atomkraftwerke die Bedeutung der Richtlinienkompetenz heraus, die nicht so sehr eine rechtliche wie eine politische sei.
Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben: Auf dem Handelsblatt-Rechtsboard kritisiert Rechtsanwalt Hans-Peter Löw den im September von der Bundesregierung beschlossenen Gesetzesentwurf zur Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Mit dem eher defensiven Entwurf habe man verpasst, eine Diskussion über die Rollenverteilung anzustoßen und über die Regelungen, die eine gerechtere Verteilung der Erziehungs- und Pflegeaufgaben zwischen Vätern und Müttern behindern.
Justiz
BVerfG zu Parlamentsrechten/EU-Operation Sophia: Die Bundesregierung muss den Bundestag auch bei Angelegenheiten der EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik gemäß Artikel 23 Grundgesetz frühzeitig und umfassend informieren. Das entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen von Organstreitverfahren der damals oppositionellen Fraktionen von Grünen und Linken. Das BVerfG stellte klar, dass bei der EU-Außenpolitik im Vergleich zur nationalen Außenpolitik eine stärkere Einbindung des Parlaments geboten sei, um Kompetenzverluste auszugleichen. Auch militärische Aktionen, die von Gremien der EU vorbereitet und von EU-Staaten durchgeführt werden, seien "EU-Angelegenheiten", obwohl die Teilnahme der EU-Staaten freiwillig ist. Hintergrund der Verfahren war die EU-Operation "Sophia", die 2015 zur Bekämpfung von Menschenschmuggel sowie zur Rettung von schiffbrüchigen Migrant:innen im Mittelmeer startete. Die Verletzung der parlamentarischen Informationsrechte lag darin, dass die Bundesregierung den Abgeordneten erst nach der EU-Beschlussfassung und auch nur in der Geheimschutzstelle des Bundestags Einblick in das zugrundeliegende Konzeptpapier gewährte, obwohl es ihr bereits im Vorfeld vorlag. Die frühzeitige Information des Parlaments solle dessen Möglichkeit sichern, auf EU-Verfahren Einfluss zu nehmen und auch eine rechtzeitige öffentliche Debatte ermöglichen. Es berichten FAZ (Marlene Grunert), SZ (Wolfgang Janisch), taz (Christian Rath), Tsp (Jost Müller-Neuhof), welt.de (Constantin van Lijnden), zeit.de, tagesschau.de (Gigi Deppe), LTO (Annelie Kaufmann).
EuGH – Kartellrecht/Towercast: Auf LTO stellen Anwalt Marcel Nuys und der wissenschaftliche Mitarbeiter Shayan Mokrami das Verfahren am Europäischen Gerichtshof zur französischen Gesellschaft Towercast vor. Streitfrage ist, ob die kartellrechtliche Missbrauchskontrolle auch dann noch als Maßstab herangezogen werden kann, wenn eine Unternehmenstransaktion ohne vorhergehende fusionskontrollrechtliche Freigabe vollzogen werden durfte. Generalanwältin Juliane Kokott hat dies in ihren Schlussanträgen bejaht.
BGH zu Fernabschaltung: Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs dürfen Vermieter:innen von Batterien für Elektroautos diese nach einer Vertragskündigung nicht einfach per digitalem Fernzugriff abschalten. Eine entsprechende Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) sei unzulässig. Zwar hätten Vermieter:innen ein Interesse an der Sicherung gegen den mit der Abnutzung der Batterie nach Vertragsbeendigung verbundenen Vermögensschaden. Dieses Interesse sei jedoch durch den Anspruch auf Nutzungsentschädigung nach § 546a BGB hinreichend geschützt. Daher sei es nicht gerechtfertigt, wenn durch das Abschalten der Batterie das gesamte Auto nicht mehr genutzt werden kann. LTO berichtet.
OVG RhPf zu Bestattung auf Privatgrundstück: Nach einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz hat ein Mann keinen Anspruch auf Erteilung einer Genehmigung zur Anlage eines privaten Bestattungsplatzes in der auf seinem Grundstück gelegenen Hofkapelle. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz stelle der besondere persönliche Bezug kein berechtigtes Interesse i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 1 Bestattungsgesetz RhPf dar. LTO berichtet.
VG Berlin zu Liebesbeziehung in JVA: Nach einem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin kann eine Justizvollzugsbeamtin auf Probe entlassen werden, wenn sie eine heimliche Liebesbeziehung mit einem Strafgefangenen eingeht und ihn nach der Haft in ihre Wohnung aufnimmt. Die Beamtin habe dienstliche Kernpflichten verletzt und damit das Vertrauensverhältnis nachhaltig gestört. spiegel.de und LTO berichten.
Recht auf Suizid vor Gericht: Der ehemalige BGH-Richter Rolf Raum schreibt in der Zeit über die Bedeutung des BVerfG-Urteils zum Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für den Alltag deutscher Gerichte. Er schildert verschiedene, nicht auf einer Linie liegende Gerichtsfälle zu Suiziden und assistierten Suiziden und kommt zu dem Ergebnis, dass das BVerfG-Urteil vom 2020 einen Paradigmenwechsel bedeute, der klarstelle, dass der Freitod Ausdruck einer autonomen Willensentscheidung sei, die sich einer Bewertung entziehe.
StA Berlin – Attila Hildmann: Der von der Staatsanwaltschaft Berlin mit Haftbefehl gesuchte Verschwörungserzähler Attila Hildmann ist von Reporter:innen des Sterns und von Hobby-Detektiven mit dem Gruppennamen "Hildbusters" in der Stadt Kartepe, rund 100 Kilometer östlich von Istanbul, aufgespürt worden. Ermittelt wird gegen den rechten Verschwörungstheoretiker wegen Volksverhetzung, des Verdachts der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten und des Widerstands gegen die Polizei. Es berichten FAZ (Rainer Hermann/Johanna Schwanitz) und LTO.
Brand am AG Freiburg: Der Eingangsbereich des Amtsgerichts Freiburg wurde von einer Frau mit Hilfe von Benzin angezündet. Die Frau ist in ein familiengerichtliches Verfahren involviert und floh nach der Tat, stellte sich aber später der Polizei. Durch den starken Rauch sind zwei Justizmitarbeiter verletzt worden und ein weiterer Mitarbeiter erlitt einen Schock. LTO berichtet.
Recht in der Welt
Iran – Staatsorganisation: Auf LTO gibt die Rechtsprofessorin Nadjma Yassari einen Überblick über die iranische Verfassung und das dortige Staatsorganisationsrecht. Die Verfassung, die aus der Revolution von 1979 hervorging, konstituiere eine hybride Staatsform mit demokratisch-republikanischen und theokratisch-autoritären Elementen. An der Spitze stehe ein religiös legitimierter Rechtsgelehrter, der Rahbar. Er stehe über dem Präsidenten und dem Parlament und bestimme beispielsweise die Reichweite der Versammlungsfreiheit. Ausgehend von der Verfassung gebe es ein durchaus umfassend kodifiziertes und am europäischen Recht orientiertes materielles Recht, das allerdings eine auf patriarchalischen Geschlechterrollen basierende Ordnung verwirkliche.
Finnland – Schwangerschaftsabbruch: Finnland lockert ab 2023 sein Abtreibungsrecht, sodass künftig nur noch ein:e Ärzt:in zustimmen muss (statt bisher zwei Ärzt:innen). Zudem soll bis zur 12. Schwangerschaftswoche der Antrag der Schwangeren auf einen Abbruch ausreichen, ohne dass – wie bisher – Gründe genannt werden müssen. In Nordeuropa hat Finnland eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze. zeit.de berichtet.
Türkei – Bootsunglück: Ein türkisches Gericht hat einen Mann zu 1033 Jahren Haft verurteilt, der für ein Bootsunglück im Juni 2020 verantwortlich gemacht wurde. Bei einer Überfahrt auf dem Van-See im Osten des Landes starben 61 Migrant:innen. spiegel.de berichtet.
Frankreich – Zugunglück: Neun Jahre nach einem schweren Zugunglück zwischen Paris und Limoges muss die die französische Staatsbahn SNCF 300.000 Euro Strafe wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung zahlen. Der SNCF-Konzern hatte seine Pflicht zur Instandhaltung des Schienennetzes nicht erfüllt. Es bestehen aber Zweifel an einer lückenlosen Aufarbeitung. Die FAZ (Niklas Záboji) berichtet.
Sonstiges
China und der Hamburger Hafen: Im Streit um den Einstieg des chinesischen Konzern Cosco bei einer Tochtergesellschaft des Hamburger Hafens hat das Bundeskabinett einen Kompromiss beschlossen. Mit Verweis auf eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit wird es zu einer Teiluntersagung des Vorhabens kommen, sodass Cosco statt der zunächst angestrebten 35 Prozent nur 24,9 Prozent der Anteile des Containerterminals Tollerort übernehmen darf. Zudem soll der Einfluss auf wichtige operative und personelle Entscheidungen verhindert werden. Es berichten FAZ (Julia Löhr), Hbl (Dana Heide/Martin Greive u.a.), taz (Gernot Knödler), LTO (Stefan Schmidbauer).
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LTO/tr
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Die juristische Presseschau vom 27. Oktober 2022: . In: Legal Tribune Online, 27.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50004 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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