Hauptverdächtiger meldet sich von unterwegs: Mar­salek-Brief sorgt für Zoff im Wire­card-Pro­zess

19.07.2023

Nicht dass es dem Prozess zur Wirecard-Insolvenz an Spannungselementen gemangelt hätte. Ein Schreiben des untergetauchten ehemaligen Vertriebsvorstands Jan Marsalek zieht nun ein intensives Wortgefecht im Gerichtssaal nach sich.

Im Wirecard-Prozess vor dem Landgericht München I wird ein Abwesender zur Hauptfigur: Der seit drei Jahren untergetauchte Vertriebsvorstand Jan Marsalek hat mit einem Brief an das Gericht einen Streit zwischen der Verteidigung des früheren Vorstandschefs Markus Braun und den Richtern ausgelöst.

Brauns Anwalt Alfred Dierlamm sieht in dem Schreiben, das, wie inzwischen bekannt wurde, auf den 6. Juli datiert ist, einen maßgeblichen Beleg für die Unglaubwürdigkeit des Kronzeugen der Staatsanwaltschaft. Dierlamm forderte die Kammer daher am Mittwoch auf, den Brief in die Hauptverhandlung einzuführen. "Wollen Sie den Brief in der Schublade verschwinden lassen?", fragte Dierlamm in Richtung Richterbank. Er äußert auch den Vorwurf, das Gericht habe den Anwälten das Schriftstück erst vor wenigen Tagen zugeleitet, obwohl es bereits seit vorletzter Woche vorliege. 

Richter, Staatsanwältin und Verteidiger liefern sich ein Wortgefecht

Über das von Marsaleks Verteidiger Frank Eckstein aufgesetzte Schreiben hatte am Dienstag zuerst die Wirtschaftswoche berichtet. Dem Vernehmen nach widerspricht der Anwalt darin einerseits Aussagen des Kronzeugen Oliver Bellenhaus und andererseits der Einschätzung des Insolvenzverwalters Michael Jaffé, wonach ein Großteil der Wirecard-Geschäfte erfunden gewesen sei. Sofern die Mutmaßungen bezüglich des Inhalts des Briefes zutreffen, würde dies die Verteidigung Brauns stützen. 

Angaben der Bild zufolge, die auch die Frage nach dessen Echtheit aufwirft, hat das Schreiben einen Umfang von acht Seiten. Es zeichne ein "verheerendes Bild" von der Glaubwürdigkeit des Kronzeugen, enthalte aber weder Details zu Zahlungsflüssen, noch konkrete Eigen- oder Firmennamen. Staatsanwältin Inga Lemmers attestierte dem Schreiben, dass es "nicht vor harten Fakten strotzt". 

Eine Verlesung des Briefes lehnte der Vorsitzende Richter Markus Födisch am Mittwoch zunächst mit dem Hinweis ab, dass er kaum Möglichkeiten sehe, diesen in die Verhandlung einzuführen. Nach dem Protest der Anwälte von Markus Braun, der in ein mehrminütiges Wortgefecht mündete, wurde die Sitzung unterbrochen. Födisch stellte den Verteidigern später die Möglichkeit in Aussicht, einen Beweisantrag zu stellen. Dieser folgte, zusammen mit einer Erklärung von Brauns Anwalt Nico Werning, am frühen Mittwochabend. Eine Entscheidung des Gerichts steht noch aus. 

Auch der Insolvenzverwalter zweifelt an Existenz verschollener Einnahmen

Laut Anklage bildeten der seit Sommer 2020 in Untersuchungshaft sitzende Vorstandschef und seine Komplizen eine kriminelle Betrügerbande. Sie sollen Banken und Investoren nicht vorhandene Geschäfte vorgegaukelt haben, um mit Hilfe von Krediten in Milliardenhöhe ihr defizitäres Unternehmen über Wasser zu halten. Die Münchner Staatsanwaltschaft beziffert den Schaden für die Kreditgeber auf über drei Milliarden Euro. Die Anklage stützt sich ganz wesentlich auf die Aussage des Kronzeugen Bellenhaus, ehedem Leiter der Wirecard-Tochtergesellschaft in Dubai.

Braun und seinen Verteidigern zufolge war das Tatbild ein ganz anderes: Demnach waren die Wirecard-Geschäfte echt, Drahtzieher Marsalek und seine Mittäter sollen jedoch den Konzern ausgenommen und rund zwei Milliarden Euro auf eigene Konten umgelenkt haben. Ein ebenso ahnungsloser wie unschuldiger Ex-Vorstandschef Braun wäre demnach selbst getäuscht worden und weder Täter noch Mitwisser gewesen. Brauns Verteidiger haben den Kronzeugen Bellenhaus mehrfach der Lüge beschuldigt.

Diese Argumentation steht im Widerspruch nicht nur zur Anklage, sondern auch zur Einschätzung des Insolvenzverwalters. Dieser hatte kürzlich in einem neuen Sachstandsbericht bekräftigt, keine Spur der vermissten Milliarden gefunden zu haben. Sollte das Gericht am Ende Dierlamms Argumenten folgen, würde das sowohl für die Münchner Staatsanwaltschaft als auch den Insolvenzverwalter einen großen Rufschaden bedeuten.

Produktvorständin hatte angeblich keinen Zugang zu TPA-Transaktionen

Der Prozess läuft seit Anfang Dezember, der Mittwoch war der 53. Prozesstag. Bisher haben jedoch nur Zeugen ausgesagt, die von den Ermittlern nicht zur Wirecard-Bande gezählt werden, und nach Auffassung Dierlamms kein Insiderwissen zum größten Betrugsfall der deutschen Nachkriegsgeschichte haben. Marsalek soll seine Geschäfte sogar vor dem übrigen Vorstand abgeschottet haben, wie die frühere Produktvorständin Susanne Steidl als Zeugin erläuterte. "Ich habe keine Passwörter gehabt", sagte die 52-jährige Managerin. 

Marsalek verantwortete als Vertriebsvorstand das Geschäft mit sogenannten Drittpartnerfirmen (TPA). Externe Zahlungsdienstleister wickelten im Wirecard-Auftrag - echte oder erfundene - Kreditkartenzahlungen überwiegend in Asien ab. Im Sommer 2020 war der einstige Dax-Konzern zusammengebrochen, weil 1,9 Milliarden Euro angeblicher Erlöse aus diesem TPA-Geschäft nicht auffindbar waren. Marsalek floh ins Ausland und wird in Russland vermutet, Braun stellte sich der Justiz.

Marsaleks Drittpartnergeschäft war nach Steidls Worten auch für sie als Mitglied der Konzernspitze unzugänglich, die Transaktionen auf externen Computersystemen abgespeichert: "Auf den Wirecard-Servern war das nicht", sagte sie. "Ich hatte keine Vorstellung, wo das war." Steidl hatte eigenen Worten zufolge auch keine Ahnung davon, dass es bei dem Konzern kriminell zuging: "In meiner Wahrnehmung war Wirecard erfolgreich." Zweifel hatte sie jedoch sowohl an Braun als auch an Marsalek: Steidl war in den Monaten vor dem Zusammenbruch des Konzerns der Meinung, dass beide "weg müssten", bestätigte sie eine Frage des Richters.

sts/LTO-Redaktion mit Material der dpa

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Hauptverdächtiger meldet sich von unterwegs: . In: Legal Tribune Online, 19.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52292 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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