Muss sich das Bundesamt für Verfassungsschutz mit Äußerungen zu Parteien, die unter Extremismus-Verdacht stehen, zurückhalten, wenn Wahlen anstehen? Die Staatsrechtler sind sich in dieser Frage nicht einig.
Der Berliner Staatsrechtler Ulrich Battis sieht in der vorgezogenen Bundestagswahl keinen Grund, eine ursprünglich zur Veröffentlichung in diesem Jahr angekündigte Neubewertung der AfD zurückzuhalten. "Das Bundesamt für Verfassungsschutz muss seine Einschätzung der AfD zeitnah öffentlich machen", sagte der Jurist der Deutschen Presse-Agentur. Auf Nachfrage erklärte er, damit sei durchaus ein Termin noch vor der für den 23. Februar 2025 geplanten Neuwahl gemeint.
Aus Sicherheitskreisen hieß es in der vergangenen Woche, aufgrund der vorgezogenen Neuwahl werde die angekündigte Neubewertung der AfD durch den Verfassungsschutz erst nach der Bundestagswahl im kommenden Jahr abgeschlossen werden, LTO berichtete hier. Begründet wurde dies damit, dass im zeitlichen Umfeld von Wahlen insoweit Zurückhaltung geboten sei. Die Beobachtung der Partei als rechtsextremistischer Verdachtsfall werde aber fortgesetzt.
Staatsrechtler: “Veröffentlichung könnte erhebliche Auswirkungen auf Wahlausgang haben”
Auch der Berliner Staatsrechtsprofessor Alexander Thiele äußerte gegenüber LTO, dass es "aus rechtlicher Sicht kein Gebot" gebe, die Neubewertung "aufgrund externer Ereignisse wie der Bundestagswahl zurückzuhalten". Es lasse sich aber nicht bestreiten, so Thiele weiter, "dass eine entsprechende Veröffentlichung in einer solchen Situation erhebliche Auswirkungen auf den Wahlausgang haben könnte" und erinnert diesbezüglich auch an die Email-Affäre um Hillary Clinton vor der US-Präsidentschaftswahl 2016. Deshalb hält Thiele es für zulässig, die Neubewertung um einige Monate zu verschieben.
Rechtspolitiker und Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, Till Steffen, bezeichnete hingegen die Begründung der Verzögerung mit einer Neutralitätspflicht gegenber der FAZ als "absurd". Das BfV habe die Pflicht, meint Steffen weiter, "seine Aufgaben nach Recht und Gesetz zu erfüllen ohne Rücksicht auf wahltaktische Überlegungen."
In dem FAZ-Bericht kommt auch der Göttinger Staatsrechtler Florian Meinel zu Wort, der die Zurückhaltung des Gutachtens ebenfalls kritisch bewertet. Es gehe um "öffentliches Handeln des Bundeamtes für Verfassungsschutz, das dem gesetzlichen Auftrag entspricht". Dass andere daraus möglicherweise im Wahlkampf Kapital schlagen könnten, entbinde nicht von den rechtlichen Aufgaben. Zwar äußert Meinel auch Verständnis für die Entscheidung des BfV aufgrund der aktuellen Lage mit Verweis auf das Neutralitätsgebot, betont aber zugleich, dass auch eine Nichtintervention eine Intervention darstellen könnte. Allein die Markierung einer Partei als verfassungsfeindlich mache behördliches Handeln noch nicht politisch, heißt es in dem FAZ-Bericht*.
Haldenwang hatte Informationen noch vor Jahresende in Aussicht gestellt
Der scheidende Präsident des BfV, Thomas Haldenwang, hatte am vergangenen Wochenende im Interview mit der taz geäußerrt: "Die Verkündung dieses Prüfergebnis noch in diesem Jahr war mit der vorgezogenen Neuwahl obsolet – das wäre zu nah an den Wahltermin gerückt. Weiter möchte ich mich dazu, jetzt da ich mein Amt niedergelegt habe, nicht mehr äußern".
Im Oktober hatte Haldenwang noch angekündigt: "Mit einer Entscheidung wird noch in diesem Jahr zu rechnen sein." Damals war man allerdings noch von einem Wahltermin nicht im Februar 2025, sondern erst im September ausgegangen. Inzwischen führt Haldenwang die Amtsgeschäfte nicht mehr. Grund dafür ist seine überraschende Bundestagskandidatur für die CDU.
Im Mai hatte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Nordrhein-Westfalen in Münster entschieden, dass der Verfassungsschutz die AfD zu Recht als rechtsextremistischen Verdachtsfall eingestuft hat, was den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel wie Observation erlaubt. Der Rechtsstreit geht noch weiter, der Fall liegt derzeit beim Bundesverwaltungsgericht. Theoretisch sind drei Szenarien denkbar: Entweder hat sich der Verdacht der Verfassungsschützer nicht bestätigt, dann würde der Inlandsnachrichtendienst die Beobachtung der AfD als Verdachtsfall beenden. "Ich halte diese Variante für äußerst unwahrscheinlich", sagte Haldenwang im Oktober.
Oder der Verdacht bestätigt sich. Das hätte dann eine Einstufung der Gesamtpartei als gesichert extremistische Bestrebung zur Folge. Möglich wäre aber auch eine weitere Beobachtung als Verdachtsfall mit einer entsprechenden Begründung - etwa falls sich aufgrund noch nicht abgeschlossener interner Vorgänge in der Partei nicht klar sagen lässt, in welche Richtung sich die AfD entwickelt.
Bei der anstehenden Neubewertung gehe es nicht um Öffentlichkeitsarbeit der Regierung im Wahlkampf, sondern um den gesetzlichen Auftrag des Verfassungsschutzes, betont auch Battis. Teil dieses Auftrages sei es, die Öffentlichkeit über extremistische Bestrebungen und Tätigkeiten zu informieren. "Das Gesetz räumt der Behörde bei der Erfüllung des gesetzlichen Auftrages kein Ermessen ein", fügte er hinzu.
jb/hs/LTO-Redaktion
Mit Materialien der dpa
* Anm. d. Red.: Ergänzt am Tag der Veröffentlichung, 11:35 Uhr
Staatsrechtler uneins über Neutralitätspflicht: . In: Legal Tribune Online, 19.11.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55895 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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