Im laufenden Prozess gegen drei frühere Wirecard-Manager sagt der Kronzeuge Oliver Bellenhaus aus. Er erhebt schwere Vorwürfe gegen den Mitangeklagten Markus Braun und bezeichnet das Unternehmen als "Krebsgeschwür".
Kann ein Dax-Konzern Milliardenumsätze erfinden, ohne dass der Vorstandschef das merkt? Der ehemalige Wirecard-Chef Braun sieht sich selbst als Opfer krimineller Machenschaften. Der mitangeklagte Kronzeuge der Staatsanwaltschaft, Oliver Bellenhaus, rückt Braun im Zuge einer Aussage im Prozess vor dem Landgericht München I in ein ganz anderes Licht: Braun sei nicht nur Mitwisser, sondern Täter.
Bellenhaus sieht Braun als maßgebliche Figur bei dem jahrelangem Milliardenbetrug. "Wirecard war ein Krebsgeschwür", sagte der ehemalige Wirecard-Manager am Montag vor dem Landgericht München. "Es gab ein System des organisierten Betrugs." Braun sei ein "absolutistischer CEO" gewesen. "Wenn er etwas sagte, wurde es so gemacht." Braun und Bellenhaus sitzen seit zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft. Dritter Angeklagter ist der frühere Wirecard-Chefbuchhalter Stephan von Erffa.
Die Staatsanwaltschaft wirft den drei Angeklagten und weiteren Beschuldigten vor, eine kriminelle Betrügerbande gebildet und mit erfundenen Gewinnen die Kreditgeber des 2020 zusammengebrochenen Dax-Konzerns um insgesamt 3,1 Milliarden Euro geprellt zu haben. Braun bestreitet die Vorwürfe.
Bekannte Muster und blinde Loyalität
"Er sieht sich als Opfer, und das ist ein bekanntes Muster", sagte Bellenhaus über seinen früheren Chef. Braun hatte bis zum Kollaps des Bezahldienstleisters im Juni 2020 jahrelange Zweifel an den Bilanzen immer in Bausch und Bogen zurückgewiesen. "Blinde Loyalität" zu Braun und dem seit zweieinhalb Jahren flüchtigen früheren Vertriebsvorstand Jan Marsalek habe ihn das Gesetz brechen lassen und ins Gefängnis gebracht, so Bellenhaus.
Der 49-Jährige sagte am dritten Prozesstag als erster der drei Angeklagten zur Sache aus. Er ist bislang auch der einzige, der die Vorwürfe einräumt. "Ich bin erschrocken über mein eigenes Leben", sagte der Kronzeuge und betonte, wie sehr er den immensen Schaden bereue. Doch ging aus Bellenhaus' Aussage nicht hervor, wann die Betrügereien begannen und wie die Wirecard-Bande sich formiert haben soll. Brauns Verteidigung wirft ihm vor, Firmengelder in Millionenhöhe auf die Seite geschafft und veruntreut zu haben.
"Aus kleinen Lügen wurden große Lügen", ließ Bellenhaus die Anfänge der kriminellen Geschäfte im Ungefähren. Er berichtete jedoch von mehreren Besprechungen, an denen Braun und andere Beschuldigte teilgenommen und beraten haben sollen, wie die Fassade der erfundenen Geschäfte gewahrt werden könne.
Wirecard war ein Zahlungsdienstleister, der hauptsächlich Kreditkartenzahlungen im Einzelhandel und im Internet abwickelte. Über das von Bellenhaus geleitete Tochterunternehmen Cardsystems Middle East in Dubai verbuchte Wirecard laut Anklage erfundene "Drittpartner"-Umsätze in Milliardenhöhe. Diese Drittpartner waren Firmen, die im Wirecard-Auftrag Zahlungen abwickelten. Der Dax-Konzern brach im Juni 2020 nach dem Eingeständnis zusammen, dass 1,9 Milliarden angeblich auf südostasiatischen Treuhandkonten verbuchter Drittpartner-Gelder nicht auffindbar waren.
Das Drittpartner-Geschäft löste sich in Luft auf
Braun hat über seine Verteidiger erklärt, dass die vermissten Milliarden tatsächlich existierten, aber immense Summen von Bellenhaus und anderen Betrügern auf die Seite geschafft worden seien. Bellenhaus warf seinerseits Braun "Denkfehler" vor. Wenn das Drittpartner-Geschäft existiert hätte und profitabel gewesen sei, hätten sich auch nach dem Wirecard-Kollaps Spuren davon finden lassen müssen. "Nach dem 18. Juni 2020 soll all das spurlos über Nacht untergegangen sein", sagte Bellenhaus. So hätten sich über 1.000 Händler einen neuen Partner für die Zahlungsabwicklung suchen müssen. "Ein solches Processing-Vakuum hätte in der ganzen Branche zu einiger Unruhe führen müssen."
Brauns Verteidiger Alfred Dierlamm will den Prozess wegen gravierender Vorwürfe an die Adresse der Staatsanwaltschaft stoppen lassen. Dierlamm wirft den Ermittlern vor, erst viel zu spät mit der Untersuchung der tatsächlichen Zahlungsflüsse begonnen zu haben. Die Verfahrensbeteiligten würden mit neuen Unterlagen überflutet, sagte der Anwalt - kurz vor Prozessbeginn 44.000 PDF-Seiten, danach noch einmal weitere 11.000 Seiten. "Die Ermittlungen, die die Staatsanwaltschaft in zwei Jahren Verfahren versäumt hat und jetzt parallel zur laufenden Hauptverhandlung durchgeführt werden, sind ein Fass ohne Boden", sagte der Verteidiger. Dierlamms zweiter, ebenso schwerwiegender Vorwurf lautet, dass die Staatsanwaltschaft der Verteidigung wesentliche Unterlagen vorenthalten habe.
Die Staatsanwaltschaft wies die Kritik zurück. "Die Akten zu dieser Anklageerhebung sind vollständig", erklärte die Ermittlungsbehörde auf Anfrage. Die von Braun und Dierlamm angeführten Milliarden auf den Konten ehemaliger Wirecard-Geschäftspartner betreffen demnach Geschäfte, die gar nicht Teil der Anklage und somit für das Verfahren irrelevant seien. Die Kammer hat noch nicht über den Aussetzungsantrag entschieden.
dpa/sts/LTO-Redaktion
Aussage im Münchener Wirecard-Prozess: . In: Legal Tribune Online, 19.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50517 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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