BVerfG: Inhaftierungsanordnung für ausländischen Strafverfolgten verfassungswidrig

von hho/LTO-Redaktion

05.10.2010

Ein Amtsgericht ist in Evidenzfällen verpflichtet, das Vorliegen eines Haftgrundes und die weiteren Haftvoraussetzungen im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung des § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG in seine Prüfung mit einzubeziehen. Dies entschied das BVerfG in einem am Dienstag veröffentlichten Beschluss.

Es sei unverzichtbare Voraussetzung rechtsstaatlicher Verfahren, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf ausreichender richterlicher Sachaufklärung beruhen. Auch müssten sie eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspreche, so die Richter.

Der Beschwerdeführer, ein türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit war aufgrund eines türkischen Festnahmeersuchens in Deutschland festgenommen und dem Amtsgericht (AG) vorgeführt worden. Ein dort eingeholter Bericht des Landeskriminalamtes ergab, dass er an einem posttraumatischen Psychosyndrom leidet, das im Falle eines längeren Haftaufenthalts zu schweren psychischen Krisen führen kann. Eine Fluchtgefahr könne nicht angenommen werden.

Das AG ersuchte dennoch - mit nicht unterzeichnetem formularmäßigem Schreiben ohne Begründung - die Justizvollzugsanstalt um Aufnahme des Beschwerdeführers zum Vollzug und ordnete mit Beschluss die ärztliche Begutachtung zur Feststellung seiner Haftfähigkeit an. Nach Feststellung seiner Haftunfähigkeit wurde der Beschwerdeführer sechs Tage später aus der Haft entlassen. Seine Anträge auf Gewährung einer Haftentschädigung und Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung lehnte das Kammergericht ab.

Durch die Inhaftierungsanordnung des AG und den ablehnenden Beschluss
des Kammergerichts sieht sich der Beschwerdefüher in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 bis 3 GG verletzt. Darüber hinaus sei die Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) als Ermächtigungsgrundlage für den Erlass einer Festhalteanordnung verfassungswidrig, da sie keine richterliche Sachaufklärung für die Freiheitsentziehung voraussetze.

Die 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gab dem Beschwerdeführer im Hinblick auf die Grundrechtsverletzung Recht und verwies die Sache an das Kammergericht zur erneuten Entscheidung zurück.

Bezüglich der Regelung des § 22 Abs. 3 Satz 2 IRG hatte die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg. Die Vorschrift setze ihrem Wortlaut nach lediglich die richterliche Prüfung der Identität des Festgenommenen voraus, nicht aber eine Sachaufklärung des Amtsgerichts zur Prüfung der materiellen Voraussetzungen für die Freiheitsentziehung, so das BVerfG. Diese sei nach § 17 IRG erst dem Oberlandesgericht vorbehalten, dem dabei keine Entscheidungsfrist gesetzt ist.

Es bedürfe jedoch zur Ausräumung der sich daraus ergebenden verfassungsrechtlichen Bedenken einer verfassungskonformen Auslegung der Vorschrift. Das Amtsgericht sei zumindest in Evidenzfällen verpflichtet, in summarischer Weise auch das Vorliegen eines Haftgrundes und die weiteren Haftvoraussetzungen nach dem IRG in seine Prüfung einzubeziehen. Liege danach ein Haftgrund offensichtlich nicht vor oder ist die Auslieferung von vornherein unzulässig, müsse das Amtsgericht vor seiner Entscheidung  zunächst versuchen, die Sach- und Rechtslage mit der Generalstaatsanwaltschaft zu erörtern, damit diese entweder die umgehende Freilassung des Festgenommenen verfügen oder aber sachliche oder rechtliche Erkenntnisse einbringen kann. Bleiben durchgreifende Bedenken gegen die Zulässigkeit der Haft, über die das Oberlandesgericht nicht fristgerecht entscheiden kann, so muss das Amtgericht in erweiternder, verfassungskonformer Auslegung des § 22 Abs. 3 IRG eine Freilassungsanordnung erlassen.

Zitiervorschlag

BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 05.10.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1642 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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