Richter krank, Vertreterin mit "eigenen" Haftsachen beschäftigt: Das sind Gründe für ein überlanges Haftprüfungsverfahren, aber keine guten, stellte das BVerfG nun klar und gab einem Beschuldigten Recht, der monatelang in U-Haft saß.
Ein Beschuldigter saß knapp ein Jahr in Untersuchungshaft, bis diese das erste Mal geprüft wurde. Diese überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens hat ihn in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt, hat nun das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden. Es gab damit der Verfassungsbeschwerde des Untersuchungsgefangenen statt (Beschl. v. 23.09.2023, Az. 2 BvR 825/23).
Der Beschwerdeführer, der unter dem Verdacht steht, verschiedene Wirtschaftsstraftaten begangen zu haben, wurde im Juni 2022 aufgrund eines Haftbefehls festgenommen. Im Dezember 2022 beantragte die Staatsanwaltschaft beim zuständigen Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main die Fortdauer der Untersuchungshaft. Der Untersuchungsgefangene sollte Stellung nehmen und begehrte am 9. Januar 2023 die Aufhebung des Haftbefehls.
Die Unschuldsvermutung verlangt, dass die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft auch von Amts wegen erfolgt. Befindet sich ein Beschuldigter länger als sechs Monate in Untersuchungshaft, hat das zuständige OLG gem. §§ 121, 122 StPO zu prüfen, ob die besondere Schwierigkeit oder der Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Wird auf Grundlage dieser Prüfung die Untersuchungshaft aufrecht erhalten, muss die Haft im weiteren Verlauf alle drei Monate erneut von Amts wegen überprüft werden, § 122 Abs. 4 S. 2 StPO.
Verzögerungsgründe: Krankheit, "eigene" Haftsachen, Urlaub
Doch in diesem Fall passierte erst einmal lange nichts. Im März 2023 bat der Beschuldigte das OLG daher um Auskunft, wann mit einer Entscheidung über die Fortdauer der Untersuchungshaft zu rechnen sei. Das OLG antwortete, der Berichterstatter sei aufgrund längerfristiger krankheitsbedingter Abwesenheit verhindert. Der Fall liege daher der Unterzeichnerin zur Bearbeitung in Vertretung vor. Aber auch die vertretende Richterin konnte eine Entscheidung noch nicht absehen: Sie habe vorrangig "eigene" Haftsachen zu bearbeiten und fahre bald in den Urlaub. Kurze Zeit später fügte sie in einem Aktenvermerk als Begründung noch hinzu, es habe einen Corona-Fall in der Familie gegeben.
Eine Entscheidung des OLG ließ damit lange auf sich warten: Erst am 26. Juni 2023 ordnete das Gericht die Fortdauer der U-Haft an. Dabei waren die Akten zur Haftprüfung bereits am 28. Dezember 2022 beim OLG eingegangen, also vor Ablauf der Sechsmonatsfrist.
Der Beschwerdeführer rügte nun: Das OLG hätte sich bereits viel früher mit der Haftprüfung beschäftigen müssen. Die so lange ausbleibende Entscheidung des OLG habe ihn in seinen Freiheitsgrundrechten (Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 104 GG) und in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt (Art. 19 Abs. 4 GG).
BVerfG: "Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit" notwendig
Das BVerfG erklärte die Verfassungsbeschwerde nun für zulässig und ebenso für "offensichtlich begründet". Die Gründe, die das OLG für die Verzögerung anführte, können die übermäßige Verzögerung nach Auffassung des BVerfG nicht rechtfertigen. Die überlange Dauer des Haftprüfungsverfahrens vor dem OLG stellt demnach eine Verletzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG dar. "Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit", betonte das BVerfG. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens sei dabei eine Einzelfallentscheidung. In diesem Fall sei die Verzögerung nicht mehr angemessen gewesen.
Zudem verwies das BVerfG auf den bei einem Haftprüfungsverfahren zu berücksichtigenden Art. 5 Abs. 4 (Recht auf Freiheit und Sicherheit) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). "Bei einem anhängigen Strafverfahren muss zügig über die Rechtmäßigkeit der Haft entschieden werden, damit die festgenommene Person vollen Umfangs in den Genuss der Unschuldsvermutung kommt", so das BVerfG.
Angeführte Gründe rechtfertigen keine so lange Verzögerung
Durch die Nichtentscheidung über die Untersuchungshaft bis Juni 2023 ist das OLG den verfassungsrechtlichen Maßstäben nach Auffassung des BVerfG nicht gerecht geworden.
Mehr als fünf Monate vergingen nach Eingang der Verfahrensakten und der Stellungnahme des Beschwerdeführers beim OLG bis zur Entscheidung. Zwar sei dem Beschwerdeführer formell keine der in §§ 121, 122 StPO vorgeschriebenen Prüfungen über die Fortdauer der Haft verwehrt worden, da der Fristenlauf bis zu einer Entscheidung ruhte, so das BVerfG. Die Übersendung der Akten an das OLG war ja fristgemäß erfolgt. Doch habe das OLG dem Beschwerdeführer durch die überlange Verfahrensdauer faktisch nicht nur die gesetzlich vorgesehene Sechsmonatsprüfung nach § 121 Abs. 1 StPO, sondern auch die durch § 122 Abs. 4 StPO vorgeschriebene Nachprüfung nach neun Monaten genommen.
Die vom OLG angeführten Gründe für die Verzögerung rechtfertigen den Eingriff in das Recht auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes nicht. Einerseits habe der Beschwerdeführer die Gründe nicht zu vertreten. Andererseits seien die Gründe nicht geeignet, eine Verzögerung der Entscheidung über mehrere Monate hinweg zu rechtfertigen, urteilte das BVerfG.
Die Überlastung der Gerichte mit zahlreichen Haftsachen führte in einem anderen Fall vor dem OLG Frankfurt zur Aufhebung der Untersuchungshaft. Die überlange Verfahrensdauer erachtete das BVerfG mit dem im Strafprozess geltenden Beschleunigungsgebot als nicht vereinbar.
mw/LTO-Redaktion
BVerfG zum Haftprüfungsverfahren: . In: Legal Tribune Online, 12.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52902 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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