Bundestagssitzung über Angriffskrieg auf Ukraine: "Zei­ten­wende in der Geschichte des Kon­tin­ents"

27.02.2022

Die Aggression Russlands gegenüber der Ukraine führt zu einer Kehrtwende der deutschen Außenpolitik und vereint weite Teile des Bundestags. Kanzler Scholz kündigt 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr an.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) sagte bei der Eröffnung der Sondersitzung des Bundestags: "Was der Westen mit vereinten Kräften zu verhindern versucht hat, ist doch eingetreten: Wir haben Krieg in Europa." Die Abgeordneten zollten dem auf der Gästetribüne sitzenden ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk minutenlang Beifall. Der frühere Bundespräsident Joachim Gauck, der neben ihm saß, umarmte den Botschafter. Vor dem Reichstagsgebäude wehte die ukrainische Flagge. 

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine von einer Zeitenwende in der Geschichte Europas. "Das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor." Im Kern gehe es um die Frage, ob Macht das Recht brechen dürfe und ob es Putin gestattet werden könne, die Uhren in die Zeit der Großmächte des 19. Jahrhunderts zurückzudrehen "oder ob wir die Kraft aufbringen, Kriegstreibern wie Putin Grenzen zu setzen." Scholz kündigt in seiner Regierungserklärung höhere Militärausgaben an, „um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen". Er bat den Bundestag um Unterstützung für ein einmaliges "Sondervermögen" von 100 Milliarden Euro und eine deutliche Aufstockung der jährlichen Verteidigungsausgaben. Nötig sei eine "große nationale Kraftanstrengung". Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) sagte dem Kanzler die Unterstützung der Union bei Rüstungsinvestitionen und Sanktionen gegen Russland zu. 

Scholz: Stehende Ovationen nach Verweis auf Demonstrationen in Moskau

Der Kanzler bekräftigte, mit dem Überfall auf die Ukraine habe Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen. "Der Krieg ist eine Katastrophe für die Ukraine. Aber: Der Krieg wird sich auch als Katastrophe für Russland erweisen." Scholz richtete eine deutliche Warnung in Richtung Moskau: "Präsident Putin sollte unsere Entschlossenheit nicht unterschätzen, gemeinsam mit unseren Alliierten jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes zu verteidigen." 

„Deutschland stehe an der Seite der Ukrainerinnen und Ukrainer. "Und genauso stehen wir an der Seite all jener in Russland, die Putins Machtapparat mutig die Stirn bieten und seinen Krieg gegen die Ukraine ablehnen", sagte Scholz weiter. "Wir wissen, sie sind viele. Ihnen allen sage ich: Geben Sie nicht auf!" Nach diesen Worten erhoben sich fast alle Bundestagsabgeordnete und klatschten, um die Solidarität mit den russischen Demonstranten zu bekunden, auch vereinzelt AfD-Abgeordnete.

Merz über Putin: "Aus lupenreinem Demokraten, der er nie war, ist für alle sichtbar ein Kriegsverbrecher geworden"

Der CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz versicherte, die Union werde umfassende Maßnahmen unterstützen "und nicht im Kleinen herummäkeln". Wenn Scholz eine umfassende Ertüchtigung der Bundeswehr wolle, werde die Union auch gegen Widerstände den Weg mit dem Kanzler gehen. Und wenn Scholz es für nötig halte, die Energiepolitik neu auszurichten, und mit der Union der Meinung sei, "dass wir jetzt endgültig auf keine weiteren Optionen der Energieerzeugung mehr verzichten dürfen, dann finden Sie dabei unsere tatkräftige Unterstützung", betonte Merz. Merz bescheinigte Scholz, eine "gute Regierungserklärung" gehalten zu haben. Er betonte, das klare Signal des heutigen Tages sei: "Genug ist genug. Das Spiel ist aus."

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) verteidigte die Entscheidung der Regierung, mit dem Swift-Ausschluss Russlands gezögert zu haben und nun doch Waffen an die Ukraine zu liefern. "Wir dürfen die Ukraine nicht wehrlos dem Aggressor überlassen, der Tod und Verwüstung über dieses Land bringt", sagte die Grünen-Politikerin. "Wenn unsere Welt eine andere ist, dann muss auch unsere Politik eine andere sein." Es handele sich um "mehr als die Lieferung von Fahrzeugen, Waffen und Raketen", betonte Baerbock. "Es ist eine klare Botschaft an Wladimir Putin: Das Preisschild dieses Krieges gegen unschuldige Menschen und der Bruch mit der Charta der Vereinten Nationen wird für das System Putin ein untragbares sein." 

Lindner: Erneuerbare Energien sind Freiheitsenergien

Finanzminister Christian Lindner (FDP) betonte, die Sanktionen gegen Russland seien auf Dauer angelegt. "Wir brauchen einen langen Atem, wir haben diesen langen Atem." Deutschland sei bereit, die negativen Auswirkungen der Sanktionen auch hierzulande zu tragen - "denn sie sind der Preis der Freiheit". Die Finanzsanktionen seien so gewählt, dass sie Putin keinen Vorwand gäben, notwendige Rohstofflieferungen auszusetzen. Zugleich erreichten sie aber, dass es mit Russland kein "business as usual" gebe. Das Thema Energiesicherheit bekomme in Deutschland eine neue Priorität. Dabei dürfe man nicht auf Antworten aus der Vergangenheit setzen. "Erneuerbare Energien lösen uns von Abhängigkeiten. Erneuerbare Energien sind deshalb Freiheitsenergien", betonte Lindner.  Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kündigte nach den westlichen Sanktionspaketen gegen Russland Hilfen für deutsche Firmen an. Die Bundesregierung werde alles dafür tun, um Konsequenzen von Deutschland fernzuhalten. "Wir werden also für die Bereiche der Wirtschaft, die möglicherweise von Sanktionen betroffen sind, ähnliche Schutzmaßnahmen machen, wie wir es in der Corona-Pandemie getan haben." 

Mohamed Ali: "Putin falsch eingeschätzt". 

Die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel gab dem Westen aber eine wesentliche Verantwortung für den Angriff Russlands auf die Ukraine. Die Hardliner hätten starr an der Nato-Beitrittsperspektive für das Land festgehalten und dabei überheblich Russland den Großmachtstatus abgesprochen. "Das ist das historische Versagen des Westens: die Kränkung Russlands." Dies ändere nichts an der "Verwerflichkeit des russischen Einmarsches", fügte Weidel hinzu.

Die Fraktionsvorsitzende der Linke Amira Mohamed Ali gab sich selbstkritisch. "Für meine Partei die Linke räume ich in aller Deutlichkeit ein, dass wir die Absichten der russischen Regierung falsch eingeschätzt haben (...) wir bewerten die Lage heute anders und sagen klar, Putin ist der Aggressor und muss sofort aufgehalten werden." Er müsse in seinen Großmachtfantasien gestoppt werden. Doch dies dürfte nicht durch Hochrüstung und Militarisierung geschehen. "Die Geschichte lehrt uns, dass Wettrüsten keine Sicherheit schafft", so Mohamed Ali. Nötig seien Abrüstung und Diplomatie.

 

dpa/fz/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

Bundestagssitzung über Angriffskrieg auf Ukraine: . In: Legal Tribune Online, 27.02.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47661 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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