BGH zur Beratungspflicht bei Sozialhilfeansprüchen: Ämter müssen durch das "kom­p­li­zierte Leis­tungs­system" führen

02.08.2018

In Unkenntnis der Ansprüche ihres Sohnes, den sie wegen seiner Behinderung betreut, setzte eine Mutter ein falsches Kreuz auf dem Formular. Das zuständige Amt hätte sie besser beraten müssen, entschied nun der BGH.

Sozialhilfeträger sind verpflichtet, Bürger auf etwaige Ansprüche, die sie nicht beantragt haben, hinzuweisen, sofern es dafür Anhaltspunkte gibt. Das hat der Bundesgerichtshof (BGH) am Donnerstag entschieden und den Fall eines schwerbehinderten Mannes, der vom Sozialamt wegen fehlender Beratung Schadensersatz in Höhe von über 50.000 Euro verlangte, an das Berufungsgericht zurückverwiesen (Urt. v. 02.08.2018, Az. III ZR 466/16).

Der 1984 geborene Mann ist schwer geistig behindert und steht unter Betreuung durch seine Mutter. Er besuchte eine Förderschule und nahm anschließend in einer Werkstatt für behinderte Menschen an berufsbildenden Maßnahmen teil. Das alles führte aber nicht dazu, dass er in der Lage war, seinen Lebensunterhalt alleine zu bestreiten.

Personen, die nicht dazu in der Lage sind, auf dem Arbeitsmarkt eine Anstellung zu finden, mit der sie ihr Auskommen finanzieren können und bei denen sich dies - z. B. aufgrund einer Krankheit - voraussichtlich nicht ändern wird, steht nach § 43 des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI)* eine Rente wegen Erwerbsminderung zu.

Kein Hinweis vom Amt auf mögliche Rentenansprüche

Als die Mutter des Mannes erstmals für ihn Grundsicherung beim zuständigen Landratsamt beantragte, wurde sie nicht darauf hingewiesen, dass ihrem Sohn möglicherweise auch eine solche Rente zustehen könnte. Sie hatte auf dem Formular fälschlicherweise angekreuzt, dass kein Rentenanspruch bestehe. Erst sieben Jahre später - im Jahr 2011 - informierte eine neue Sachbearbeiterin sie darüber, woraufhin die Rente beantragt und auch bewilligt wurde.

Daraufhin verlangte die Mutter vor Gericht vom Landratsamt Schadensersatz wegen einer Amtspflichtverletzung nach § 839 Abs. 1 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) i.V.m. Art. 34 Satz 1 Grundgesetz (GG). Sie forderte für ihren Sohn den Differenzbetrag zwischen der erhaltenen Grundsicherung und der Rente, die ihrem Sohn zugestanden habe, da die Voraussetzungen dafür schon seit 2004 erfüllt gewesen seien und die damalige Bearbeiterin sie darauf nicht hingewiesen habe. Das Landgericht gab der Klage statt und sprach ihrem Sohn den Schadensersatz zu. Dagegen ging der Kreis in Berufung. Vom Oberlandesgericht wurde die Klage schließlich abgewiesen. Hiergegen wandten sich Mutter und Sohn sodann mit der Revision zum BGH.

Der III. Zivilsenat in Karlsruhe hob die Entscheidung des Berufungsgerichts nun auf und verwies die Sache zur Entscheidung durch einen anderen Senat zurück. Die zunächst zuständige Sachbearbeiterin habe bei der erstmaligen Beantragung von Grundsicherung durch die Mutter des Mannes gegen ihre Beratungspflichten aus § 14 Satz 1 SGB I verstoßen. Es sei "zumindest ein Hinweis vonseiten des Beklagten notwendig [gewesen], dass auch ein Anspruch des Klägers auf Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente in Betracht kam und deshalb eine Beratung durch den zuständigen Rentenversicherungsträger geboten war", so die Karlsruher Richter.

Bedürftige brauchen Beratung im komplexen Sozialrecht

Sozialämter seien verpflichtet, so der BGH, dem Anspruchsteller durch das Dickicht des "immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems" zu helfen. Berater hätten dabei nicht nur Fragen zu beantworten, sondern sollten sich auch um die betreffende Person in der Weise kümmern, dass mögliche Hilfen geprüft würden und ggf. auf solche hingewiesen werden könne. Dass Anspruchsteller selbst gezielte Fragen stellen, könne hingegen nicht verlangt werden, da solche bereits Sachkunde voraussetzten. 

Gerade weil die Wege im Recht der Sozialhilfe so verschlungen seien und für Bürger oft nicht klar sei, an wen sie sich wenden müssten, ist in den Augen der Karlsruher Richter diese Beratungspflicht auch nicht auf Angebote des eigenen Trägers beschränkt. Die Behörden müssen auch darauf hinweisen, was an anderer Stelle beantragt werden kann.

Im vorliegenden Fall, so der BGH, sei ein gewichtiger Beratungsbedarf hinsichtlich etwaiger Rentenansprüche erkennbar gewesen, weshalb es eines Hinweises bedurft habe. Weil das Oberlandesgericht hatte dahinstehen lassen, ob der Rentenanspruch in der Zeit vor 2011 tatsächlich begründet war, muss es nun noch den Inhalt des Schadensersatzanspruchs prüfen.

*Ursprünglich auf falsch verwiesene Norm korrigiert am 6. August 2018, 9.46 Uhr.

mam/LTO-Redaktion

mit Material von dpa

Zitiervorschlag

BGH zur Beratungspflicht bei Sozialhilfeansprüchen: . In: Legal Tribune Online, 02.08.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/30131 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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