Von wegen Strafrecht als "ultima ratio": Staats­schutz rückt ins Zen­trum der Kri­mi­nal­po­litik

Gastkommentar von Prof. Dr. jur. Michael Kubiciel

10.06.2024

Die Beschlüsse der letzten Justizministerkonferenz machen es deutlich: Zur Abwehr von Gefahren für den Staat und seiner Institutionen setzt die Politik immer mehr auf das Strafrecht. Keine gute Entwicklung, analysiert Michael Kubiciel.

Die Tagesordnung der am Donnerstag zu Ende gegangen 95. Konferenz der Justizministerinnen und -minister (Jumiko) ist ein Dokument der Zeitgeschichte. In ihr spiegelt sich die innen- und gesellschaftspolitische Lage der Bundesrepublik im 75. Jahr ihres Bestehens. Der Eindruck, der nach der Lektüre bleibt, ist besorgniserregend – in einem doppelten Sinne.

Auf der einen Seite thematisieren elf der insgesamt 50 Tagesordnungspunkte teils neuartige Gefahren für Rechtsstaat und Verfassung. Knapp die Hälfte stellen sogar Überlegungen zur Verschärfung des Strafrechts an und betreffen so unterschiedliche Phänomene wie "öffentliche Aufrufe zur Missachtung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung", tätliche Angriffe auf "demokratisch engagierte Bürgerinnen und Bürger" bzw. "rechtswidrige Behinderungen ihres Engagements", Hassreden, "Maskengames" (Hetzkampagnen gegen ausgewählte Opfer) und die Sabotage der demokratischen Willensbildung.

Wer die Beschlüsse liest, wird sich um Staat und Verfassung sorgen. Auf der anderen Seite dürften einige der Voten massive Kritik von Vertretern der Wissenschaft und Anwaltschaft auf sich ziehen: Wenn auf undeutlich schillernde Erscheinungsformen mit (jedenfalls aktuell) unklaren Kriminalisierungskonzepten reagiert wird, dürften Zweifel an ihrer hinreichenden Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit, kurz: an der Verfassungskonformität, nicht lange auf sich warten lassen.

Jumiko als rechtspolitischer Impulsgeber

Dabei ist es zwar nicht Aufgabe der Jumiko, Straftatbestände zu formulieren oder gar fertige Gesetzentwürfe zu erarbeiten. Vielmehr können die Landesminister den Bundesjustizminister nur bitten, ihre Anliegen zu prüfen und ggf. Vorschläge zu unterbreiten. Gleichwohl zeigt die Erfahrung, dass die Beschlüsse der Konferenz Gewicht haben und zu Gesetzesinitiativen der Länder im Bundesrat führen können, wenn die Bundesregierung nicht aktiv wird. Die Jumiko ist daher rechtspolitischer Think-Tank und Impulsgeber, ihren Beschlüssen lassen sich rechts- bzw. kriminalpolitische Entwicklungslinie für die Zukunft ablesen. 

Mustert man die aktuellen Beschlüsse sind drei Linien erkennbar. Zwei von ihnen sind aus der jüngeren Vergangenheit wohlbekannt: die Erhöhung von Strafrahmen und die Schaffung von Einzelfall-Tatbeständen. So soll geprüft werden, ob bei Ehrverletzungen mit rassistischem, antisemitischem oder menschenverachtendem Inhalt die Strafrahmen erhöht werden können; dies wohl nicht nur, um ein erhöhtes Unrecht abbilden zu können, sondern auch um Fälle zu benennen, in denen Staatsanwaltschaften ohne Strafantrag tätig werden sollen.

Zudem wird um Prüfung gebeten, ob mögliche Strafbarkeitslücken geschlossen werden müssen. So etwa bei "Maskengames", bei denen die Einzelhandlungen zwar "für sich genommen straflos sind", die Opfer aber "in ihrer Kumulation massiven Beeinträchtigungen und Gefahren ausgesetzt" werden. Letzteres dürfte die Frage nach den Grenzen der strafbarkeitsbegründenden Zurechnung strafloser Handlungen Dritter unter dem Gesichtspunkt des auch verfassungsrechtlich verbürgten Schuldprinzips nach sich ziehen.

Widerspruch aus der Rechtswissenschaft garantiert

Die dritte Tendenz dürfte noch wesentlich schärferen Widerspruch erfahren, auch wenn sie nicht ohne Vorbild ist. Gemeint ist der Rückgriff auf Straftatbestände, die vornehmlich einen schädlichen Effekt verhindern wollen, anstatt klar konturierte Handlungen zu adressieren. Unter der Überschrift "Strafbarkeit der Sabotage demokratischer Willensbildung" heißt es beispielsweise, dass "gesetzliche Ansätze" geprüft werden sollten, um Desinformationskampagnen autokratisch regierter Staaten entgegenzuwirken, mit denen Einfluss auf die demokratische Willensbildung genommen werden soll.

Diesen Vorschlag hatte zuvor die Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg (CDU) unterbreitet, die – was kein Zufall sein dürfte – zuvor Vizepräsidentin des Bundesamtes für Verfassungsschutz war und damit über neuartige Bedrohungen bestens informiert sein dürfte. Allerdings begegnet die strafrechtliche Umsetzung des Vorschlages zwei Problemen: Da die Hinterleute solcher Kampagnen im für deutsche Strafverfolger unerreichbaren Ausland sitzen, können entsprechende Tatbestände nur Personen erfassen, die in Deutschland oder befreundeten Ausland – etwa der EU – tätig werden. Personen also, die die Kampagnen zwar selbst nicht konzipieren oder initiieren, diese aber – in Kenntnis der Umstände und ggf. gegen Entgelt – unterstützen.

Präziser Tatbestand statt unreflektierter "Schnellschuss"

Solche Unterstützungshandlungen können sehr vielgestaltig und gleichzeitig unauffällig sein: Heute setzt die Verbreitung propagandistischer Informationen keine größere logistische Vorbereitung voraus, sondern erfolgt digital. Effektiv wäre dann aber nur ein Straftatbestand, der an die objektiv zu verwirklichende Tathandlung keine allzu großen Anforderungen stellt, zumal auf konkrete Unterstützungshandlungen zugeschnittene Vorschriften den Nachteil haben, zu leicht umgangen werden zu können, indem die Täter schlicht ihre Vorgehensweise ändern.

Derart weit gefasste Tatbestände bergen jedoch zwangsläufig das Problem, dass sie nicht nur strafwürdiges Verhalten erfassen, sondern auch sozialadäquate Handlungen pönalisieren. Die Erarbeitung eines entsprechenden Tatbestandes, der nicht unverhältnismäßig Grundrechte beschneidet, ist daher ein sehr anspruchsvolles Unterfangen.

Nur als "Ermittlungsgeneralklausel" geeignet?

Sowohl im früheren als auch im geltenden Recht gibt es zwar Vorbilder, an deren Wording der Gesetzgeber anknüpfen könnte (etwa §§ 89, 100 Strafgesetzbuch). Jedoch zeichnen sich diese dadurch aus, dass der Unrechtskern im subjektiven Tatbestand konzentriert ist. Besondere subjektive Absichten oder sicheres Wissen sind auf solchen Deliktsfeldern aber kaum nachweisbar. Daher können solche Tatbestände nur geringe repressive Kraft entfalten und eignen sich vor allem als "Ermittlungsgeneralklauseln".

Angesichts dieser absehbaren Probleme sollte aus rechtsstaatlichen, aber auch aus verfolgungstaktischen Gründen vertieft über Alternativen nachgedacht werden, die bspw. an der Kappung von Geldströmen ansetzen. Eingebettet werden sollte dieser Schritt in eine Gesamtstrategie, die man in den Vorschlägen der (einzelne Länderinitiativen beratenden) Jumiko vermisst. Auch wenn beim Schutz von Staat und Verfassung durchaus Eile geboten ist – aus der Hüfte sollte der Gesetzgeber nicht schießen.

Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel ist Professor für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Medizinstrafrecht an der Universität Augsburg.

Zitiervorschlag

Von wegen Strafrecht als "ultima ratio": Staatsschutz rückt ins Zentrum der Kriminalpolitik . In: Legal Tribune Online, 10.06.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54735/ (abgerufen am: 30.06.2024 )

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