Das BKartA sieht einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg bei Schadensersatzklagen Kartellgeschädigter und rückläufigen Kronzeugenanträgen und will Kronzeugen besser schützen. Zulasten der Geschädigten, meint Felix von Zwehl.
Die Anzahl von Kronzeugenanträgen ist seit Jahren rückläufig. Das erschwert die Kartellaufdeckung für das Bundeskartellamt (BKartA), denn die Kronzeugenregelung ist mit das schärfste Schwert bei der Verfolgung von Kartellen. Das BKartA hat schnell einen Schuldigen gefunden: Die Klageindustrie.
Kartellamtspräsident Andreas Mundt ist überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen dem "massiven Anstieg der Aktivitäten von Kartellgeschädigten", etwa in Form von Schadensersatzklagen, und dem Rückgang der Kronzeugenanträge von Unternehmen gibt. Ursache für den Rückgang sei die Angst eines möglichen Kronzeugen vor privaten Kartellschadensersatzklagen. Der Ausweg der Behörde: Eine weitere Privilegierung der Kronzeugen gegenüber Kartellgeschädigten.
Kronzeugen sind Kartellbeteiligte, die dazu beitragen, ein Kartell aufzudecken. Derzeit erhält der Teilnehmer an einem Kartell, der als erster das Kartell aufdeckt, bei den Behörden einen Bußgelderlass. Nach aktuellem Recht muss das Unternehmen aber trotzdem mit Schadensersatzforderungen durch die geschädigten Kunden oder Lieferanten rechnen (sogenannte "Follow-on-Klagen"). Deshalb schlägt das BKartA vor, Kronzeugen weiter zu privilegieren, indem man diese zulasten der Geschädigten von Schadensersatzforderungen durch Geschädigte freistellt.
Kronzeugen helfen, Kartelle aufzudecken
Die Kronzeugenregelung ist ein zentraler Baustein der Kartellverfolgung. Deutlich mehr als die Hälfte der Kartelle werden durch Kronzeugen aufgedeckt. Andere Wege der Kartellverfolgung sind für das Kartellamt wesentlich schwieriger umzusetzen. Insbesondere der aktuelle Trend, mit Hilfe von Datenanalyse einem Kartell auf die Schliche zu kommen, ist mit Hürden verbunden. Dazu bedarf es einer großen Menge von Daten, um analysieren zu können, ob gewisse Marktentwicklungen auf den Kräften des freien Wettbewerbs oder auf einer Kartellabsprache beruhen.
Auch im Rahmen von Durchsuchungen bei vermeintlichen Kartellanten, sogenannten Dawn Raids, kann die Kartellbehörde zwar eine große Menge von Daten erhalten, vielfach ist aber nicht einfach zu erkennen, welche Daten im Einzelnen relevant sind bzw. es fehlen schriftliche Nachweise einer Kartellabsprache. Für die Behörde ist es sicher einfacher, wenn das wettbewerbswidrige Verhalten dem BKartA durch einen Kartellanten mittels eines Kronzeugenantrages präsentiert wird.
Die Zahl der Selbstanzeigen insgesamt nimmt aktuell stetig ab: 2016 waren es 59 Anträge, 2017 lag die Zahl bei 37 und 2018 waren es dann noch 25 Anzeigen. Im Jahr 2019 wurden 16 Anzeigen aufgenommen, 2020 nur noch 13 Stück. Wenn man sich die Anzahl der Fälle ansieht, in denen Kronzeugenanträge gestellt wurden, ist dieselbe Entwicklung zu beobachten: In 2016 waren es noch 36 Fälle, im Jahr 2020 ist man bei 11 Fällen angekommen. Das zeigt auch, dass die Anzahl von Zweitanzeigen im Rahmen desselben Kartells rückläufig ist. Oft ist gerade die Zweitanzeige für das fundierte Verständnis der Funktionsweise eines Kartells besonders relevant.
Durch die Umsetzung der europäischen Schadensersatzrichtline in deutsches Recht im Jahr 2017 ist es für Kartellgeschädigte einfacher geworden, Schadensersatz für die erlittenen Verluste geltend zu machen. Auch ist die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in letzter Zeit eher klägerfreundlich. In Folge machen mehr Kartellgeschädigte ihren Kartellschaden auf dem Klageweg geltend. Aktuelle Beispiele, bei denen eine Vielzahl von Kartellgeschädigten klagen, sind zahlreich. Bekannte Fälle sind das Zucker-Kartell, Lkw-Kartell, Luftfracht-Kartell, Schienen-Kartell, Edelstahl-Kartell sowie das Düngemittel-Kartell.
Der Rückgang von Kronzeugenanträgen kann aber auch andere Ursachen haben: So hat das BKartA während der Covid-Pandemie die Verfolgung von Kartellen nicht mit vollem Elan betrieben, was dazu geführt haben könnte, dass Kartellanten mangels Aufdeckungsdruck keinen Anlass sahen, aus einem an sich lukrativen Kartell auszubrechen. Es ist gängige Praxis von Unternehmen, gerade bei Fällen im Graubereich zwischen wettbewerbsrechtlich erlaubter und verbotener Tätigkeit vorsorglich eine Selbstanzeige für die Schublade zu erstellen, um bei Gefahr der Aufdeckung diese schnell an das BKartA zu schicken und in den Genuss einer Privilegierung zu kommen. Wenn mangels Aktivitäten der Kartellbehörde kein hohes Risiko einer Aufdeckung besteht, bleibt dieser Antrag einfach in der Schublade liegen.
Hinterzimmer-Kartelle gehören der Vergangenheit an
Hinterzimmer-Kartelle, bei denen sich Unternehmensvertreter Zigarre rauchend über Preise oder Gebiete ausgetauscht haben, gehören wohl eher der Vergangenheit an. Heute ist das Bewusstsein in Unternehmen für wettbewerbswidriges Verhalten dank gestärkter Compliance-Abteilungen höher als noch vor zehn Jahren. Bei Branchentreffen, zum Beispiel im Rahmen von Wirtschaftsverbänden, ist meist ein externer Rechtsanwalt anwesend, der prüft, dass das Besprochene keinen Wettbewerbsverstoß darstellt. Es ist daher auch möglich, dass es weniger Selbstanzeigen gibt, da es insgesamt weniger Kartelle gibt. Da die Anzahl der bestehenden Kartelle aber nicht ermittelbar ist, lässt sich diese These nur schwer belegen.
Es ist rechtspolitisch bedenklich, Kartellanten – selbst wenn diese als Kronzeugen auftreten – zum Nachteil von Geschädigten besser zu stellen. Es ist Aufgabe unseres Rechtssystems, Geschädigten eine vollständige Wiedergutmachung des erlittenen Schadens zu ermöglichen. Ansonsten würde keinerlei Risiko mehr bestehen, eine Kartellabsprache zu treffen, solange man als erster Selbstanzeige bei der Kartellbehörde stellt.
Das Kartellrecht hätte dann keine abschreckende Wirkung mehr. Die Privilegierung ist zudem im Hinblick auf EU-Recht bedenklich, da diese einer effizienten Durchsetzung des EU-Rechts zuwiderlaufen würde. Auch wurden bereits verfassungsrechtliche Bedenken geäußert, da der Geschädigte seinen Schadensersatzanspruch verlieren und damit in sein Eigentumsrecht eingegriffen würde.
Es gibt andere Möglichkeiten, die in geringerem Umfang in die Stellung der Geschädigten eingreifen: Beispielsweise könnte der Kronzeuge gegenüber dem Geschädigten haften, sich aber im Rahmen eines Gesamtschuldnerausgleichs im Innenverhältnis bei den anderen Kartellanten schadlos halten. Dadurch würde zum einen das Opfer des Kartells geschützt und zum anderen weiterhin ein Anreiz gesetzt, einen Kronzeugenantrag zu stellen.
Der Autor Felix von Zwehl ist General Counsel Germany bei Deminor. Das Unternehmen ist spezialisiert auf allgemeine Wirtschaftsstreitigkeiten, Anlegerklagen und Kartellklagen.
Als Prozessfinanzierer ist Deminor an der Finanzierung von Schadensersatzklagen im Rahmen von Wirtschaftskartellen beteiligt.
Täterschutz statt Opferschutz?: . In: Legal Tribune Online, 23.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50564 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag