Angelika Nußberger über ihre neuen Aufgaben: "Der kom­p­li­zier­teste Staat der Welt"

Interview von Dr. Christian Rath

16.03.2020

Angelika Nußberger war Richterin am EGMR - entscheidet dort aber weiter mit. Ein Interview über Altfälle, das Melilla-Urteil, die Venedig-Kommission und das Verfassungsgericht von Bosnien-Herzegowina.

LTO: Frau Nußberger, Sie wirken weiter an Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) mit - obwohl Sie doch eigentlich zum Jahresende 2019 als Richterin in Straßburg ausgeschieden sind. Geht da alles mit rechten Dingen zu?

Angelika Nußberger: Ja! Wenn wir als Richter bei einer mündlichen Verhandlung mitgewirkt oder über einen Fall mitberaten und vorläufig mitabgestimmt haben, dann ist die Regel, dass wir auch bis zum Ende mit dabei sind. Bei Fällen vor der Großen Kammer kann es lange dauern, bis die Urteile geschrieben sind, manches Mal sogar mehr als ein Jahr. Es ist nicht gut, wenn sich die Zusammensetzung der Spruchkammer zwischendurch ändert, bloß weil das Mandat eines oder mehrerer der 17 Richter in dieser Zeit endet.

Ist das ein gutes Modell, um Richter langsam auf den Übergang in ein neues Leben vorzubereiten?

Nein, für uns Richter ist der Übergang ins neue Leben auf alle Fälle abrupt. Man legt die Robe ab und das war's. Neun Jahre sind neun Jahre, danach beginnt etwas Neues. Aber für den Gerichtshof, bei dem in manchen Jahren fünf bis zehn Kollegen oder Kolleginnen gehen, braucht man eine derartige Übergangslösung.

"Noch elf Fälle vor der Großen Kammer"

An wie vielen EGMR-Verfahren waren und sind Sie nach Ende Ihrer Amtszeit noch beteiligt?

Als ich gegangen bin, waren am Gericht noch elf Fälle vor der Großen Kammer anhängig, an denen ich beteiligt war. Seither bin ich zweimal zu den Verhandlungen nach Straßburg zurückgekehrt, bei einem Fall war ich verhindert und konnte nicht kommen. Es gibt also immer noch einiges zu tun. Vor der Kammer waren es zum Ende meines Mandats ebenfalls noch etwa zehn Fälle, die vertagt worden waren und in denen ich als Kammerpräsidentin oder nationale Richterin mitgewirkt hatte. Bei den Kammerfällen geht es allerdings schneller, da kann man auch einmal an einem Nachmittag in einer Sitzung drei oder vier Fälle abarbeiten.

Elf Verfahren der Großen Kammer? Sind das nicht erstaunlich viele?

Ich war ja die letzten drei Jahre Vizepräsidentin des Gerichts. Aufgrund dieser Funktion war ich ex officio an allen Fällen der Großen Kammer beteiligt, es sei denn, ich hatte bereits den Kammerfall mitentschieden.

Bei den noch anhängigen Verfahren handelt sich zum Teil um sehr wichtige und große Verfahren wie etwa den Fall Ukraine gegen Russland, bei dem es um potentielle Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Konflikt um die Krim geht. Ein anderes Beispiel ist Demirtas gegen die Türkei zur Inhaftierung des bekannten Oppositionspolitikers. Oder auch Big Brother Watch gegen das Vereinigte Königreich zur Überwachung durch Geheimdienste.

"Nicht über Pushbacks im Allgemeinen entschieden"

Dann waren Sie ja jüngst auch am Melilla-Urteil des EGMR beteiligt, bei dem die Große Kammer nicht beanstandet hat, dass Spanien Migranten, die die Zäune der spanischen Enklave stürmten, ohne Einzelfallprüfung nach Marokko zurückgeschickt hat?

Ja. Daher kann ich das Urteil auch nicht kommentieren.

Das Urteil wird derzeit oft als Rechtfertigung für das Verhalten der griechischen Polizei an der Grenze zur Türkei angeführt. Zurecht?

Ein Gerichtshof entscheidet immer nur über einen konkreten Fall und nicht über eine allgemeine Frage. Wir haben in dem Fall nicht über Pushbacks im Allgemeinen entschieden - und auch nicht über Artikel 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die Frage der unmenschlichen Behandlung, sondern nur über die Frage der Kollektivausweisung nach Art. 4 Protokoll Nr. 4. Man muss ein Urteil wirklich von Anfang bis Ende lesen, um es richtig zu verstehen.

Übrigens haben überhaupt nicht alle Mitgliedsstaaten der Konvention das Protokoll Nr. 4 ratifiziert, Griechenland nicht, die Türkei nicht, die Schweiz nicht und auch das Vereinigte Königreich nicht. Für sie alle gilt das Verbot der Kollektivausweisung nicht. An Artikel 3 sind dagegen alle Konventionsstaaten gebunden, das ist ein absolutes Recht.

Ich habe den Grundgedanken des Urteils so verstanden, dass Migranten, die in großen Gruppen Grenzzäune überklettern, ohne Prüfung ihres Falles zurückgeschickt werden können, wenn es auch einen legalen Zugang zu einer Prüfung ihrer Situation gäbe. Der Grundgedanke, dass es einen legalen Zugang zum Asylverfahren geben muss, gilt doch dann bei Asylsuchenden, die sich auf Artikel 3 berufen, erst recht? Und die Zugänge zur Asylprüfung dürfen wohl auch nicht nur auf dem Papier bestehen?

Ich kann, wie gesagt, nicht kommentieren, nur zitieren. In Paragraph 209 des Urteils steht wörtlich: "Mit Blick auf Vertragsstaaten, deren Grenzen, wie bei Spanien, zumindest teilweise mit den Außengrenzen des Schengen-Raums zusammenfallen, erfordert es die Wirksamkeit der Konventionsrechte, dass diese Staaten einen echten und wirksamen Zugang ('genuine and effetive access') zu legalen Einreisemöglichkeiten, insbesondere zu Verfahren an der Grenze für diejenigen, die an der Grenze angekommen sind, zur Verfügung stellen. Diese Mittel sollten es allen Personen, die verfolgt werden, ermöglichen, einen Schutzantrag, insbesondere auf der Grundlage von Artikel 3 der Konvention zu stellen, und zwar unter Bedingungen, die sicherstellen, dass der Antrag in Übereinstimmung mit den internationalen Normen, einschließlich der Konvention, bearbeitet wird." Das klingt in der Übersetzung vielleicht etwas holprig, aber vermag doch, denke ich, Anhaltspunkte zur Beantwortung Ihrer Frage geben.

Haben also die NGOs Recht, die das Verhalten der griechischen Grenzpolizei als Missachtung des EGMR-Urteils sehen, weil Griechenland an der türkischen Grenze alle legalen Zugänge für Flüchtlinge versperrt?

Nur so viel: hier geht es, anders als in dem von uns entschiedenen Fall ND und NT, um zwei Staaten, Griechenland und die Türkei, die beide Konventionsstaaten und damit in vollem Umfang an die Konvention gebunden sind, die aber das Protokoll Nr. 4 gerade nicht ratifiziert haben. Der Fall ND und NT betraf Spanien und Marokko, einen Konventions- und einen Nicht-Konventionsstaat; Spanien ist wiederum an Protokoll Nr. 4 gebunden. Jeder Fall ist anders. Der Gerichtshof wird sich sicherlich auch mit den Fragen, die die aktuelle politische Situation aufwirft, befassen müssen.

"So vieles ist nicht mehr selbstverständlich"

Neben Ihrem Lehrstuhl in Köln sind Sie inzwischen auch Mitglied der Venedig-Kommission.

Ja, aber das ist für mich nicht völlig neu. Ich war bereits bis Ende 2010 stellvertretendes Mitglied der Venedig-Kommission, damals zusammen mit dem ehemaligen Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem, jetzt bin ich Mitglied, meine Stellvertreterin ist Verfassungsrichterin Monika Hermanns.

Können Sie kurz die Aufgabe der Venedig-Kommission erläutern?

Die Venedig-Kommission heißt eigentlich "Kommission für Demokratie durch Recht". Der Name ist Programm; es geht um Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, um richterliche Unabhängigkeit, faire Wahlen, Sicherung der Rechte von Oppositionsparteien, um all jene Fragen, bei denen im Augenblick so vieles, was selbstverständlich sein sollte, nicht mehr selbstverständlich ist. Anders als bei der Europäischen Menschenrechtskonvention sind nicht nur 47 europäische Staaten Mitglieder, sondern auch etwa die USA, Algerien, Südkorea, Israel und Brasilien.

Wie sieht die Arbeit in einem konkreten Fall aus?

Vor ein paar Wochen war ich in Albanien, da dort aufgrund eines sehr resolut durchgeführten Antikorruptionsverfahrens im Verfassungsgericht nur mehr eine Richterin übriggeblieben ist, deren Mandat auch schon seit längerer Zeit abgelaufen ist, und auch im obersten Gericht nur noch ein Richter sitzt. Damit ist die Justiz unfähig zu handeln, und das hat gravierende Auswirkungen für das ganze Land. Über die Berufung neuer Verfassungsrichter wird erbittert gestritten, das Parlament hat deswegen ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten eingeleitet und der Präsident seinerseits Strafanzeige gegen den Vorsitzenden des Justizausschusses gestellt. Da die Situation völlig verfahren war, haben sich sowohl der Präsident als auch das Parlament an die Venedig-Kommission gewandt, um die Rechtslage zu analysieren und Lösungsvorschläge zu machen.

Die Venedig-Kommission arbeitet hier fast wie ein Mediator?

Ja, in gewisser Weise kann die Venedig-Kommission in derartigen Rechtskonflikten ein Mediator sein. Aber das ist schon ein vergleichsweise extremer Fall, bei dem sich die innerstaatlichen Akteure gegenseitig vollkommen blockieren.

Wie einflussreich ist die Venedig-Kommission in solchen Konflikten?

Die Venedig-Kommission genießt in vielen Ländern, insbesondere in Mittel- und Osteuropa, ein sehr hohes Ansehen und ihr Rat hat Gewicht.

Die Gutachten werden von einer Expertengruppe - in dem albanischen Fall sind wir zu sechst - ausgearbeitet und dann von allen 62 Mitgliedsstaaten angenommen. Für die Staaten sitzen oftmals hochrangige Vertreter der Justiz, nicht selten auch Verfassungsgerichtspräsidenten, in der Kommission. Wieviel Einfluss eine Stellungnahme der Venedig-Kommission in einem konkreten Fall hat, hängt aber dann letztlich von der konkreten innenpolitischen Konstellation ab. Im Übrigen zeigt sich die Autorität der Venedig-Kommission aber auch daran, dass andere Institutionen wie etwa die EU-Kommission auf ihre Gutachten verweisen, etwa bei der Auseinandersetzung um die Rechtsstaatlichkeit in Polen oder Ungarn. Auch der Straßburger Gerichtshof nimmt vielfach auf die Arbeit der Venedig-Kommission Bezug.

Wann wird die Kommission ihren Albanien-Bericht beschließen?

Eigentlich hätte ich diese Woche nach Venedig fahren sollen, da bei der Frühjahrssitzung die Stellungnahme zu Albanien diskutiert und verabschiedet werden sollte. Das ist nun aufgrund des Coronavirus und der Situation in Italien natürlich nicht möglich. Da gerade diese Stellungnahme aber als besonders wichtig angesehen wird, soll sie per Skype vorbesprochen und im Schriftverfahren angenommen werden. Das ist ein Novum, wie im Augenblick so vieles der Krise geschuldet.

"Mehrebenensystem ist fast schon ein Euphemismus"

Seit kurzem sind Sie auch Verfassungsrichterin in Bosnien-Herzegowina. Wie kommt das? Haben Sie auch einen bosnischen Pass?

Nein, ich habe keinen bosnischen Pass. Am Verfassungsgericht von Bosnien-Herzegowina bin ich eine der drei internationalen Richterinnen und Richter, die nach dem Dayton-Vertrag dort vorgesehen sind, um nach dem Bürgerkrieg in den 90er Jahren einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Volksgruppen zu erreichen. Ich folge dem Italiener Giovanni Grasso nach. Außer mir sind noch eine Kollegin aus Nord-Mazedonien und ein Kollege, der sowohl die moldawische als auch die rumänische Staatsangehörigkeit hat, als internationale Richter am Gericht tätig.

Und wie wird man - als Deutsche - Verfassungsrichterin von Bosnien-Herzegowina? Haben sich die Volksgruppen auf Sie geeinigt?

Das Recht zur Ernennung hat der Präsident des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Aber bevor er jemanden endgültig ernennt, muss ein Abstimmungsverfahren mit dem aus einem Bosnier, einem Kroaten und einem Serben zusammengesetzten Staatspräsidium stattfinden. Gut ist, dass ich als Deutsche interne Konflikte aus einer sehr distanzierten Außenperspektive beurteilen kann und keine Seite zu befürchten hat, ich könnte in irgendeiner Weise voreingenommen sein. In der Sache entscheide ich über ähnliche Fragen wie am EGMR. Nur ist das Umfeld wahrscheinlich schwieriger.

Mieten Sie jetzt eine Zweitwohnung in Sarajevo?

Ich denke nicht, dass dies nötig ist. Der Präsident des Verfassungsgerichts sagte mir, ich müsse zu sechs Plenarsitzungen im Jahr kommen. Die Fallzahlen gleichen nicht jenen am EGMR, es geht nur um etwa 12 bis 20 Entscheidungen pro Jahr.

Wie wichtig ist dann das Verfassungsgericht in Bosnien-Herzegowina?

Bosnien-Herzegowina wird oftmals als der komplizierteste Staat der Welt bezeichnet, zusammengesetzt aus verschiedenen Entitäten und Kantonen und einem darüber konstruierten Gesamtstaat. Mehrebenensystem ist dafür fast schon ein Euphemismus. Das Verfassungsgericht, in dem in der Regel neben den drei internationalen Richtern zwei Serben, zwei Kroaten und zwei Bosnier sitzen, ist die Institution, die dazu berufen ist und sich Mühe gibt, den Staat zusammenzuhalten. Daher ist das Gericht von zentraler Bedeutung für Bosnien-Herzegowina, das nach wie vor politisch instabil ist. Es ist gewissermaßen der Schlussstein des Dayton-Vertrags.

Angelika Nußberger war von Anfang 2011 bis Ende 2019 Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, ab 2017 amtierte sie dort sogar als Vizepräsidentin. Jetzt ist sie auf Ihren Lehrstuhl für Verfassungsrecht, Völkerrecht und Rechtsvergleichung an der Uni Köln zurückgekehrt. Seit Jahresbeginn ist sie Mitglied der Venedig-Kommission (Kommission für Demokratie durch Recht). Jüngst wurde sie auch zur Verfassungsrichterin von Bosnien-Herzegowina ernannt.

Zitiervorschlag

Angelika Nußberger über ihre neuen Aufgaben: . In: Legal Tribune Online, 16.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40847 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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