Das Karlsruher Gericht steht vor großen Veränderungen. Es warten mit "Kopftuch im Referendariat" oder der Überprüfung von StPO-Regeln bedeutsame Entscheidungen. 2019 blieb die Arbeitsbelastung relativ stabil – auf hohem Niveau.
Laut dem chinesischen Horoskop hat im Januar das Jahr der Metallratte begonnen. Nach dem eher friedvollen Schweinejahr 2019 soll 2020 vor allem für Neuanfang und Veränderung stehen. Und auch für das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wird das neue Jahr einschneidende Veränderungen bringen.
Wann die Amtszeit des BVerfG-Präsidenten Andreas Voßkuhle auf dem Papier endet, steht fest. Mit Ablauf des 6. Mai 2020 ist er seit zwölf Jahren im Amt. Ob er nach diesem Tag das Karlsruher Gericht auch wirklich verlassen muss, hängt davon ab, ob bis dahin ein Nachfolger gefunden wird. In Bundestag bzw. Bundesrat müssen die Personalien des BVerfG mit Zwei-Drittel-Mehrheit entschieden werden. Als sich 2018 die Suche nach einem Nachfolger für den Richter Ferdinand Kirchhof hinzog, musste dieser noch einige Monate im Amt bleiben, obwohl seine Amtszeit offiziell bereits beendet war.
Neben Voßkuhle verlässt dieses Jahr auch Richter Johannes Masing das Gericht. Der hatte zuletzt als Berichterstatter mit den Entscheidungen zum "Recht auf Vergessenwerden" auch noch das Verhältnis des Karlsruher Gerichtes zum Europäischen Gerichtshof in Luxemburg neu mitbestimmt. Auch in dem Großverfahren zur Auslandsüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst ist er Berichterstatter. Die Richter des Ersten Senats verhandelten Mitte Januar dazu zwei Tage lang. Eine Entscheidung wird in den nächsten Wochen bis Monaten erwartet. Masings Amtszeit läuft Ende April ab.
Indem durch Voßkuhles Abschied der Präsidentenposten in Karlsruhe frei wird, stehen dem Gericht weitere Verschiebungen bevor. Nach dem Turnus am Gericht wird der derzeitige Vize-Präsident Stephan Harbarth nach Voßkuhle Präsident des Gerichts. Harbarth hatte im Jahr 2018 den damaligen Vize-Präsidenten Kirchhof abgelöst. Auch wegen dieser vorgezeichneten Verschiebungen am Gericht hatte sich die Suche für die bedeutsame Kirchhof-Nachfolge hingezogen.
NS-Verstrickungen der Anfangsjahre erforschen
Zudem steht eine ganze Reihe bedeutsamer Entscheidungen an, etwa zum Kopftuchverbot im juristischen Vorbereitungsdienst, zur Kirchenmitgliedschaft als Einstellungsvoraussetzung im Arbeitsrecht oder zu den Überwachungsinstrumenten Quellen-TKÜ und Online-Durchsuchung in der Strafprozessordnung.
Auch kündigte Voßkuhle am Dienstag beim Jahrespressegespräch in Karlsruhe an, dass das BVerfG seine Anfangsjahre in der jungen Bundesrepublik auf mögliche personelle Verquickungen mit der Zeit des Nationalsozialismus durchleuchten lassen will. Das hätten die 16 Richter der beiden Senate im Plenum beschlossen.
Bei zwei, drei ehemaligen Verfassungsrichtern seien Verflechtungen bereits bekannt. So sei sinnvoll, sich das in einem strukturierten Prozess genauer anzuschauen, sagte Voßkuhle. Man sei zurzeit mit Historikern im Gespräch für ein solches Projekt. Eine besonders problematische Figur ist der ehemalige Richter Willi Geiger, der im Nationalsozialismus an einem Sondergericht mehrere Todesurteile erwirkte. Von 1951 bis 1977 war er Verfassungsrichter. Nach dem Justizministerium lässt derzeit der Generalbundesanwalt seine Behörde auf personelle Kontinuitäten nach dem Zweiten Weltkrieg untersuchen. Beim Bundesgerichtshof läuft ein ähnliches Forschungsprojekt.
Stabil belastet
Die Verfahrenszahlen zum Jahr 2019 sind stabil bis leicht rückläufig im Vergleich zu 2018 – und dabei weiterhin auf hohem Belastungsniveau. Die Gesamtzahl der neuen Verfassungsbeschwerden lag zum ersten Mal seit 2006 wieder unter 5.500, wie Voßkuhle mitteilte. Für 2018 waren es noch rund 6.000 Verfahren gewesen. Verfassungsbeschwerden machen den ganz überwiegenden Teil der Verfahren aus, für 2019 waren es rund 5.100, während daneben noch 21 Normenkontrollverfahren und knapp 200 Verfahren der einstweiligen Anordnung dazu kamen.
In den Vorjahren von 2015 bis 2017 bewegten sich die Eingangszahlen zwischen 5.700 und 6.000 neuen Verfahren, mit einem Ausreißer 2014 mit über 6.800 neuen Verfahren. "Erfreulicherweise konnten im Jahr 2019 wieder rund 63 Prozent der Verfassungsbeschwerden im ersten Jahr und 87 Prozent der Verfassungsbeschwerden innerhalb von zwei Jahren entschieden werden", sagte der Präsident. Bricht man die Zahlen herunter, so hat jeder Richter immer noch deutlich mehr Verfahren pro Jahr zu erledigen als das Jahr Kalendertage hat.
Einigermaßen stabile Eingangszahlen sind für das Gericht quasi überlebenswichtig. Nur so geht seine Art Mischkalkulation auf, denn neben dem "Tagesgeschäft" in den Kammerverfahren müssen die Richter sich die Zeit für die aufwändige, große Senatsverfahren mit mündlicher Verhandlung nehmen, so wie es 2019 etwa zu den Entscheidungen über die Hartz-IV-Sanktionen oder zur Bankenaufsicht durch die Europäische Zentralbank der Fall war.
Am nächsten Mittwoch wird der Zweite Senat in einem solchen Großverfahren seine Entscheidung verkünden. Dann geht es um die Sterbehilfe, genauer gesagt um die Vorschrift, die die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung bestraft.
Verfahren, Zahlen und Vorschau 2020: . In: Legal Tribune Online, 19.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40379 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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