Rechtsausschuss empfiehlt Totalblockade: Boy­kot­tiert der Bun­desrat die Digi­ta­li­sie­rung der Justiz?

Lange brauchte die Ampel, um Reformen zur Dokumentation der Hauptverhandlung im Strafprozess endlich auf den Weg zu bringen. Doch Landesjustizminister sträuben sich jetzt mit aller Kraft gegen Digitalisierungs-Reformen. Es droht Blockade.

Der geplanten elektronischen Aufzeichnung strafgerichtlicher Hauptverhandlungen droht offenbar eine Blockade durch die Länder im Bundesrat. Die Justizminister der Länder stellen sich dort offenbar sowohl gegen die vom Bundestag beschlossenen Aufzeichnungsmöglichkeiten für erstinstanzliche Strafprozesse als auch für erweiterte Aufzeichnungsmöglichkeiten von Zivilprozessen. Konkret fordert der Rechtsausschuss des Bundesrats eine "grundlegende Überarbeitung" des Vorhabens. So steht es in Dokumenten des Ausschusses, die LTO vorliegen. Das alles klingt nach einer Totalabsage an die Digitalisierungspläne von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und der Ampel. Über die mögliche Blockade berichtete am Montag zuerst beck-aktuell.

Widerstand hatte sich schon abgezeichnet, eine Totalblockade auf der Zielgeraden kommt nun doch etwas überraschend. Mitte November hatte der Bundestag Möglichkeiten zur Ton- und Videoaufzeichnung von strafgerichtlichen Hauptverhandlungen beschlossen (Hauptverhandlungsdokumentationsgesetzes, DokHVG).

Wer hat alles Angst vor der Justizdigitalisierung?

Bislang erfordert die Protokollierung eines Strafverfahrens mühsames Mitschreiben, eine objektive Dokumentation des Inhalts ist nicht vorgesehen. Stattdessen werden vor den Land- und Oberlandesgerichten nur die wesentlichen Förmlichkeiten im Protokoll festgehalten. Künftig soll stattdessen eine Tonspur der Verhandlung aufgezeichnet werden. Per Software wird diese anschließend transkribiert. Die Neuerungen sollen bis 2030 bundesweit schrittweise eingeführt werden.

Dem Beschluss des Bundestags waren jahrelange Diskussionen vorausgegangen, Teile der Praxis in Staatsanwaltschaften und auf Richterbänken blieben skeptisch. Ein Stimmungsbild zeichnete etwa das Programm des Richter- und Staatsanwaltstags 2023 in Weimar, mit dystopischen Veranstaltungstiteln rund um die Digitalisierung der Justiz. Gerade die Basis der Justizverbände scheint aber alles andere als verschlossen für das Thema. Unterstützung für sein Vorhaben hatte Buschmann aus der Anwaltschaft erhalten, die sich davon auch eine erhebliche Arbeitserleichterung verspricht. Widerstand kam etwa von den Generalstaatsanwaltschaften in den Ländern. Dieser Druck hat nun offenbar auch den Bundesrat erreicht.

"Sieben-Jahresfrist zu kurzfristig"

Der Rechtsauschuss des Bundesrats sieht noch grundlegenden Änderungsbedarf für das DokHVG. In den Empfehlungen des Ausschusses klingt das so: Gestützt wird der Widerstand auf die "teils heftige und einhellig ablehnende Kritik in der justiziellen Praxis". Und, sozusagen Höchststrafe: "Ein nachvollziehbarer Bedarf und eine fachliche Notwendigkeit für eine digitale Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung sind weder erkennbar noch im Gesetz dargelegt."

Begründet wird der Widerstand mit den mittlerweile altbekannten Bedenken aus Teilen der Justiz: Datenschutz, Opferschutz, Mehrbelastung und einer drohenden Verzögerung von Verfahren und einem Missverhältnis zwischen "Verhältnis von dem personellen, technischen, organisatorischen und finanziellen Aufwand" zu dem zu erwartenden Mehrwert. Besonders eine angebliche Missbrauchsgefahr drohe, es sei mit einer zusätzlichen Belastung von Opferzeugen zu rechnen, wenn diese eine mögliche Verbreitung ihrer Aussagen fürchten müssten. 

Die Frist zur Aufzeichnungs- und Transkriptionspflicht sei mit dem 1. Januar 2030 "viel zu kurz bemessen", meint der Rechtsausschuss. Es wird weiterhin eine "starke Mehrbelastung der Tatgerichte" befürchtet. Gleichwohl ist bemerkenswert, dass der Bundestag zuvor bereits zahlreiche Änderungswünsche der Länder berücksichtigt hatte. Nun stimmten im Rechtsausschuss des Bundesrats elf Länder für die Ablehnung, es gab keine Gegenstimmen und demzufolge fünf Enthaltungen.

Home-Office-Verhandlung lockt nicht mehr Absolventen an, sondern beschädigt Ansehen der Justiz

Auch  die erweiterten Möglichkeiten zur zivilgerichtlichen Videoverhandlung sollen nach einer weiteren Empfehlung des Rechtsausschusses, die LTO ebenfalls vorliegt, ausgebremst werden. Der Bundestag hatte insoweit kürzlich unter anderem beschlossen, dass die Videoverhandlung nicht mehr zwingend die Zustimmung aller Parteien erfordert. Stattdessen soll der Vorsitzende Richter bei einer anstehenden Verhandlung schon dann eine Teilnahme per Video anordnen, wenn dies nur von einem der Verfahrensbeteiligten gewünscht wird. Mit der Reform soll offenbar auch die Attraktivität der Justiz als Arbeitgeber gefördert werden, soweit auch Regelungen zum Home-Office enthalten sind.

Der Rechtsausschuss befürchtet für solche Regelungen das Schlimmste: eine bloße Übertragung aus dem Home-Office würde der besonderen Bedeutung der Gerichtsverhandlung nicht gerecht und "widerspricht der Außendarstellung der Justiz und dem Ansehen der Gerichte als Institution". Auch das Vertrauen in die Konzentrationsfähigkeit von Richterinnen und Richtern scheint nicht allzu hoch. Denn aus Sicht des Rechtsausschusses erscheint die Gefahr zu groß, "dass etwa in einem häuslichen Arbeitszimmer Störungen von außen für die Konzentration des Gerichts auf die konkrete Verhandlung auftreten, die im Sitzungssaal ausgeschlossen werden könnten."

Bezüglich der geplanten Soll- bzw. Muss-Vorschriften, die den Wunsch nach einer Videoverhandlung schon von einer Partei genügen lassen, empfiehlt der Rechtsausschuss eine ersatzlose Streichung. Denn die "richterliche Verfahrensgestaltung ist kein Bestandteil der Dispositionsbefugnis der Parteien", meint der Rechtsausschuss.

Grünen-Bundestagsrechtspolitiker: "Wollen die Länder wieder bei null anfangen?"

Gegenüber LTO äußerte Till Steffen, Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, er bedaure die "offensichtlichen Beharrungskräfte bei den Ländern". Steffen betonte den Kompromisscharakter des jetzigen Gesetzes und das man den Ländern schon sehr weit entgegengekommen sei. "Für mich ist klar: Wenn die Länder jetzt wieder bei null anfangen wollen, dann ist der Kompromiss hinfällig und es kommt selbstverständlich auch mein Vorschlag zur Videoverhandlung als Regel wieder auf den Tisch", so Steffen weiter.

Für beide Gesetzesvorhaben empfiehlt der Rechtsausschuss dem Bundesrat die Einberufung des Vermittlungsausschusses (Art. 77 Abs. 2 GG). Der Bundesrat wird sich in seinem Plenum am 15. Dezember 2023 mit den Vorhaben befassen. Dann wird sich entscheiden, ob es wirklich zur Blockade kommt.

Wenn der Vermittlungsausschuss tatsächlich angerufen wird, müssten sich Bund und Länder dort einigen. Zwar geht die Bundesregierung davon aus, dass es sich nicht um ein zustimmungspflichtiges Gesetz handelt. Der Bundesrat kann jedoch Einspruch einlegen. Sollten sich die Fronten zwischen Bund und Ländern weiter verhärten, wäre es sogar möglich, dass der Bundesrat den Einspruch mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit einlegt. Dann bräuchte die Ampel-Koalition ebenfalls eine Zwei-Drittel-Mehrheit, um den Einspruch zurückzuweisen. Das Vorhaben könnte also noch scheitern - es sei denn Bund und Länder finden doch noch einen Kompromiss.  

Zitiervorschlag

Rechtsausschuss empfiehlt Totalblockade: . In: Legal Tribune Online, 04.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53334 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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