Interview mit Prof. Dr. Johannes Kaspar, Gutachter des 72. DJT: Wie können wir gerechter strafen?

Interview von Peggy Fiebig

22.09.2018

Vorgaben für die Strafhöhe wie die amerikanischen "sentencing guidelines"? Johannes Kaspar schlägt stattdessen unverbindliche Leitlinien auf empirischer Grundlage vor, um Transparenz und Plausibilität von Strafentscheidungen zu erhöhen.

Peggy Fiebig, LL.M.: Der Grundsatz der Strafzumessung ist in § 46 StGB geregelt, dort heißt es im Abs. 1: "Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe." Was stimmt damit jetzt plötzlich nicht mehr?

Prof. Dr. Johannes Kaspar: Die Norm steht eigentlich schon seit sie einführt wurde in der Kritik. Von "gesetzgeberischer Fehlleistung" war seinerzeit sogar die Rede. Das Problem liegt darin, dass es sich um eine relativ vage Kompromissformel handelt. Der Gesetzgeber wollte hier nicht klar Stellung beziehen. Im Ergebnis heißt das, dass den Richtern bei der Strafzumessung sehr wenig Vorgaben gemacht werden. Oder negativ formuliert: dass sie alleingelassen werden. Allein das Abstellen auf die Schuld des Täters hilft nicht weiter: Was heißt denn "Schuld"? Und woran wird sie gemessen, um dann die Grundlage für die Strafe zu bilden?

Ein weiteres Manko besteht aus meiner Sicht darin, dass sich der Gesetzgeber nicht festlegen wollte, welchen Zweck Strafe eigentlich verfolgen soll. Auch hier hat er sich aus der Verantwortung geschlichen und die Wertung dem einzelnen Richter überlassen. Im Ergebnis wird deshalb ein Richter, für den die Resozialisierung im Vordergrund steht, gegebenenfalls signifikant anders entscheiden als ein Richter, der in der Strafe eine reine Vergeltungsmaßnahme sieht.

Gar nicht erwähnt wird in § 46 StGB die Verhältnismäßigkeit der Strafe, obwohl das ja eigentlich ein Verfassungsgrundsatz ist. Der Staat muss bei jedem Eingriff – also auch beim Strafen – dem Bürger klarmachen, warum eine Maßnahme ergriffen wird, also zu welchem Zweck. Und dabei darauf achten, dass das mildeste von mehreren gleichgeeigneten Mitteln angewendet wird. Im Bereich des Strafens hat das aus historischen Gründen nie so richtig eine Rolle gespielt. Deshalb ist es auch kein Zufall, dass in § 46 StGB diese "Leitidee" der Verhältnismäßigkeit nicht enthalten ist. Das sollte aus meiner Sicht geändert werden.

Nun könnte man vermuten, dass der weite richterliche Handlungsspielraum zu erheblichen Abweichungen unter den jeweils für vergleichbare Taten verhängten Strafen führt. Gibt es Erhebungen, die diese Vermutung bestätigen?

Ja. Es ist ein ganz klarer Befund, dass es Unterschiede in der Strafzumessung bei an sich ähnlichen Straftaten gibt. Es gibt bereits Studien aus den siebziger, achtziger Jahren, die das deutlich zeigen, beispielsweise exemplarisch an Verkehrsstraftaten. Neuere Studien legen nahe, dass die Abweichungen zwar geringer geworden sind, aber weiterhin bestehen. So gibt es Unterschiede zwischen den Bundesländern, es ist ein deutliches Nord-Süd-Gefälle festzustellen.

So wird zum Beispiel im Bereich der Betäubungsmitteldelikte insbesondere in Bayern härter geurteilt als in den nördlichen Bundesländern. Allerdings kann man nicht grundsätzlich sagen, dass Bayern in allen Bereichen punitiver ist, in anderen Bereichen gibt es andere Effekte.

Die Unterschiede bestehen auch unterhalb der Ebene der Bundesländer – zwischen bestimmten Gegenden und teilweise sogar zwischen einzelnen Gerichten. Es gibt also offensichtlich lokale Justizkulturen, wie es ein Kritiker mal nannte. Und für mich liegt eine Ursache dafür in dem ungeheuer großen Entscheidungsspielraum, den der einzelne Richter vom Gesetzgeber erhalten hat.

Auf dem kommenden 72. Deutschen Juristentag (DJT) soll nun überlegt werden, ob sogenannte sentencing guidelines wie in den USA zu einer Vereinheitlichung der Strafzumessung hierzulande führen könnten. Was sind das für Vorgaben?

Das sind Strafzumessungsrichtlinien, die insbesondere in den USA weit verbreitet sind. Es handelt sich dabei um Schemata oder Tabellen, anhand derer der Richter die Strafhöhe ermittelt. Dabei werden vor allem die Tatschwere und die Vorstrafen gewichtet. Die sentencing guidelines werden in der Regel nicht direkt vom Gesetzgeber erlassen, sondern von einer Expertenkommission. Besonders bekannt sind dabei die Federal Sentencing Guidelines auf Bundesebene, die seit den achtziger Jahren existieren und regelmäßig aktualisiert werden.

Das hört sich doch zunächst ganz gut an. Wäre das nicht eine Lösung auch für Deutschland?

Solche Guidelines würden sicher das Gewicht stärker vom Richter auf den Gesetzgeber verschieben, der solche Guidelines letztlich verantworten muss. Ich glaube aber, dass es insgesamt keine gute Lösung wäre, deshalb werde ich mich auf dem Juristentag auch nicht für die Einführung solcher sentencing guidelines nach US-amerikanischem Vorbild aussprechen.

Das Hauptproblem dabei ist, dass die Tabellen, jedenfalls jene auf Bundesebene, sehr fein ausziseliert sind. Man schaut dann beispielsweise bei einem Diebstahl auf die Höhe der Beute, die Zahl der Vorstrafen, dann vielleicht noch auf Besonderheiten wie das Mitsichführen einer Waffe, und schon liefert die Tabelle die passende Strafe. Das ist aber eine Art Scheingenauigkeit, die dort produziert wird – und bei der die Gefahr besteht, dass die Umstände des Einzelfalls nicht mehr berücksichtigt werden.

Der Richter kann zwar abweichen von diesen guidelines, muss das dann aber ausführlich begründen. Und so droht die Gefahr, dass Richter eben doch bei der empfohlenen Strafe hängenbleiben. In den USA war mit der Einführung der Vorgaben zudem eine ganz drastische Straferhöhung verbunden, nicht zuletzt durch die stärkere Einbeziehung der Vorstrafen, die dann auch zu einer massiven Überfüllung der Gefängnisse geführt hat.

Sie wollen dem DJT auch die Einsetzung einer Kommission vorschlagen, die auf empirischer Grundlage Strafmaßempfehlungen erarbeiten soll. Kommt man damit der Idee der sentencing guidelines doch ziemlich nahe?

Das stimmt, es geht ein Stück weit in die Richtung. Ich habe mich bemüht, jene Aspekte herauszupicken, die mich überzeugt haben an diesem US-amerikanischen Modell. Das ist zum einen die Einsetzung einer Kommission, die aus Praktikern und auch Wissenschaftlern bestehen soll, die gemeinsam Empfehlungen für die Richterschaft erarbeiten. Und zwar – und das ist mir wichtig – auf einer klaren empirischen Grundlage. Dazu gehört, dass man sich – ggf. auch anhand neuer noch zu erstellender Studien – zunächst einmal Klarheit über die üblichen Strafmaße in den jeweiligen Deliktsbereichen verschafft. Allein schon die damit verbundene Transparenz könnte sehr hilfreich sein und vielleicht auch bei manchen Richtern schon einen gewissen Aha-Effekt auslösen.

Im Unterschied zu den US-amerikanischen guidelines sollen aber die Strafmaßempfehlungen dieser Kommission wirklich nur reine Orientierung sein.  Es muss von vorneherein klar sein, dass sie nur der Einstieg sein sollen in die Strafmaßüberlegungen des Richters – und eben keine quasi vorgegebene Punktstrafe.

Daneben sagen Sie, dass auch bei den gesetzlich vorgegebenen Strafrahmen eine Reform notwendig ist. Wie meinen Sie das?

Aus meiner Sicht sind die meisten Strafrahmen deutlich zu weit. Bei vielen Tatbeständen könnte die Obergrenze im Sinne des eingangs erwähnten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes problemlos abgesenkt werden. Beispielsweise gilt beim einfachen Diebstahl ohne jegliche Erschwerungsgründe eine Obergrenze von 5 Jahren. Das ist viel zu hoch und läuft auch in der Praxis völlig leer. Für Fälle, in denen ein erhöhtes Strafbedürfnis besteht, gibt es ja die Regelbeispiele und Qualifikationstatbestände.

Ein weiterer Punkt sind die sogenannten unbenannten schweren Fälle, wo allein die Wertung des Richters über eine Strafrahmenerhöhung entscheidet. Das ist beim Totschlag beispielsweise ganz gravierend, weil der Richter hier allein aufgrund seiner eigenen Wertung eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängen kann. Das ist ein weiteres Beispiel, wo der Gesetzgeber sich ohne Grund ein Stück weit zurückgezogen hat und die entscheidende Wertung dem Richter überlässt. Ich denke, diese unnötigen Spielräume sollte man beseitigen.

Erwarten Sie bei diesen Vorschlägen Gegenwind aus der Richterschaft?

Das ist durchaus möglich. Aber ich bin selber kein Richter und kann daher die Reaktionen der Richter nur schwer vorausahnen. Einerseits könnte man meinen, dass die Spielräume ihnen ganz lieb sind, auf der anderen Seite wäre es auch möglich, dass die Richter durchaus froh wären, wenn der Gesetzgeber ihnen mehr Orientierung geben und im Gegenzug etwas mehr Verantwortung übernehmen würde. Ich glaube, bei den Vorschlägen, die ich mache, bleiben noch genügend Wertungsspielräume, die die Richter ausfüllen können. Ich will die Richter nicht gängeln, ich will ihnen nur etwas mehr Orientierung von Seiten des Gesetzgebers an die Hand geben.

Glauben Sie, dass Ihre Vorschläge tatsächlich zu einer Nivellierung beispielsweise der regionalen Unterschiede in der Strafzumessung führen würden?

Man darf sich ehrlicherweise gerade von diesem Punkt nicht allzu viel versprechen. Aber möglicherweise könnten zumindest grobe Ausreißer besser als bisher verhindert werden. In der Masse der Fälle hat der Richter natürlich auch weiterhin einen breiten Ermessensspielraum und den will ich ihm ja auch belassen. Denn es ist ja durchaus von Vorteil, dass er auf diese Weise den Umständen des Einzelfalles Rechnung tragen kann.

Eine abschließende Frage: Kann es so etwas wie ein "gerechtes Strafen" überhaupt geben oder jagen wir hier einer Chimäre hinterher?

Das ist natürlich die rechtsphilosophische Frage überhaupt: Was ist schon Gerechtigkeit? Wahrscheinlich ist es so, dass Gerechtigkeit, genauso wie Schönheit, immer im Auge des Betrachters liegt. Letztendlich ist gerecht, was man für gerecht hält. Da werden wir aber nie einen hundertprozentigen Konsens herstellen können. Das zeigt ja schon die öffentliche Diskussion über bestimmte Urteile, die manchen zu milde sind und anderen zu hart. Und auch Richter haben eben unterschiedliche Vorstellungen von dem, was unter gerechter Strafe zu verstehen ist. Umso mehr muss es dann aber eben Leitlinien für einen nachvollziehbaren Weg hin zu einem gerechten Urteil geben.

Ich glaube, wenn man allein schon den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stärker ins Spiel bringt, gibt es mehr Orientierung. Strafen müssen sich daran messen lassen, dass sie noch ausreichend sind, um die Schwere der Tat ernsthaft zum Ausdruck zu bringen, dabei aber gleichzeitig den Straftäter und seine Freiheitsrechte schonen. Das ist immer noch schwer genug und es gibt dabei auch immer noch Spielräume für die verantwortliche Entscheidung der Richter. Die will ich auch behalten, denn von einem Computer will sich wohl keiner bestrafen lassen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Prof. Dr. Johannes Kaspar ist Rechtsprofessor an der Universität Augsburg und Gutachters des 72. DJT, der vom 26. Bis 28. September 2018 in Leipzig stattfindet.

Die Fragen stellte Peggy Fiebig, LL.M.

Zitiervorschlag

Interview mit Prof. Dr. Johannes Kaspar, Gutachter des 72. DJT: . In: Legal Tribune Online, 22.09.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/31061 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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