Für Anwälte gibt es (noch) keine Pflicht für den Einsatz von Legal Tech – zum notwendigen Erfolgsfaktor bei großen Mandaten wird die IT aber jetzt schon. Und berührt damit auch anwaltliche Sorgfaltspflichten.
Die Anwaltschaft steht vor neuen grundsätzlichen Herausforderungen, wie sie ihre Arbeitsprozesse organisieren muss, um noch pflichtgemäß zu arbeiten. Die Innovationen der IT haben den Juristen von Recherchedatenbanken bis zu Dokumentenmanagementsystemen viele gute Hilfsmittel gebracht. Zugleich sorgt die Digitalisierung der Geschäftsprozesse der Mandanten, gepaart mit einer global agierenden Wirtschaft für eine unaufhaltsam wachsende, komplexe Informationsflut, die auf den mandatierten Anwalt zukommen kann und längst nicht mehr in das Format einer klassischen Handakte passt.
Die Anwaltschaft trifft eine Vielzahl an Pflichten, die – mehr oder weniger subsumtionsfähig – normiert zum Beispiel in den §§ 43 ff. Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) und durch die Rechtsprechung konkretisiert wurden. Der Rechtsanwalt hat gewissenhaft, sorgfältig als Organ der Rechtspflege zu handeln und sich fortzubilden.
Kein Zwang zum Einsatz von IT
Eine allgemeine Anwaltspflicht zur Automatisation und Zwangsdigitalisierung der Mandate findet sich noch nicht, wobei der Weg dahin vorgezeichnet scheint, angesichts der Bestrebungen zum elektronischen Rechtsverkehr (ERV), dem obligatorischen Einsatz des beA und der Unwirksamkeit der Papierklage ab 2022.
So lange sich der Einsatz von Technologie jedoch als Werkzeug zur Effizienz- oder Qualitätssteigerung darstellt, kann dem Rechtsanwalt keine weitergehende Pflicht zum Einsatz von IT abverlangt werden. Jeder Rechtsanwalt ist erstmal frei so gut oder so schlecht zu arbeiten, wie er im Stande ist und mit seinem Berufsethos vereinbaren kann. Begrenzt wird dies faktisch durch den Erfolg oder Misserfolg seiner Karriere als Rechtsanwalt.
Eine Pflicht zum IT Einsatz kommt jedoch dann in Betracht, wenn Nebenpflichten des Mandats oder standesrechtliche Pflichten fundamental berührt werden und ohne die Hilfe von IT gar nicht oder nicht mehr in angemessener Zeit erfüllt werden könnten.
Die Realität juristischer Großmandate
Führt man sich die Realität juristischer Mandate internationaler Konzerne vor Augen, werden schnell die Herausforderungen deutlich. Angenommen der Mandant ist ein international agierender Konzern, es geht – zum Beispiel – um internationales Wettbewerbsrecht. Dann sollte die Kanzlei sich auf eine wahre Flut an Dokumenten und Informationen einstellen. Vor dem Einstieg in die Rechtsberatung ist zunächst eine umfangreiche Sachverhaltsermittlung erforderlich. Die gesamte interne und externe Geschäftskorrespondenz muss quer durch Niederlassungen und Abteilungen erfasst werden.
Bei juristischen Großmandaten muss dabei grundlegend sowohl die rechtliche Bewertung einerseits als auch die Sachverhaltsermittlung andererseits im Blick behalten werden. Ein zentraler Punkt ist, dass der juristisch (fachliche) Anspruch an ein Mandat von dem organisatorischen Aufwand unterschieden werden muss. Dies wird vielfach übersehen. Viele Großmandate kommen in Schwierigkeiten, nicht weil die juristische Expertise fehlte, sondern weil die Komplexität der Sachverhaltsaufklärung nicht bedacht wurde, um aus Millionen von Dokumenten eine verlässliche Entscheidungsgrundlage zu erarbeiten.
Mit dem Einsatz von Referendaren, die Papierstapel sortieren und mit paginierten Handakten hat dies nichts mehr zu tun. Solche Datenbestände müssen mithilfe von spezieller Software analysiert, strukturiert und ihre Informationen voll, oder semi-automatisiert extrahiert werden. Dies erfordert angesichts der Komplexität und Datenmenge neben juristischem Wissen, vor allem auch professionelles Projektmanagement und Know-how im Einsatz spezieller IT-Werkzeuge.
Im "LKW-Kartellverfahren" brachte es ein einziger Anwaltsschriftsatz auf 650.000 Papierseiten, dies entspricht einer vergleichsweise geringen Datenmenge von etwa 1,3 bis 5 Gigabyte. Wohlgemerkt: Ein Schriftsatz, der bereits die Quintessenz aus einer viel größeren Datenmenge darstellt, die ausgewertet werden musste. Die Datensätze, die zunächst bei Mandanten eingesammelt werden bringen es dagegen regelmäßig auf mehrere hundert Gigabyte oder Terabyte an Daten, was mehreren Millionen Dokumenten entspricht.
Technologie betrifft auch klassische anwaltliche Pflichten
Angemessene Sachverhaltsaufklärung gehört zu den Hauptpflichten aus dem Mandatsverhältnis, auch in einem wirtschaftsrechtlichen Großverfahren. Zudem muss die Kanzlei bzw. das Mandat so organisiert sein, dass eine sorgfältige Berufsausübung – sprich: Mandatsbearbeitung – möglich ist. Ist die Kanzlei von der anfallenden Datenmenge überfordert, darf sie das Mandat gar nicht übernehmen oder muss sich qualifizierte Unterstützung organisieren.
Der Bundesgerichthof drückte es so aus: Teilt der Mandant insbesondere sogenannte Rechtstatsachen mit, hat der Anwalt sie durch Rückfragen in die zugrundeliegenden tatsächlichen Umstände und Vorgänge aufzulösen oder, sofern dies keine zuverlässige Klärung erwarten lässt, weitere Ermittlungen anzustellen" (BGH, Urt. vom 14.02.2019, Az. IX ZR 181/17 Rn. 9 ff.). Das gilt auch dann, wenn diese Ermittlungen womöglich die gesamte E-Mail-Korrespondenz mehrerer tausend Mitarbeiter aus mehreren Jahren zum Gegenstand haben.
Auch die Standespflicht zum Führen einer Handakte gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 BRAO, die ein "geordnetes und zutreffendes Bild über die Bearbeitung" des Mandats ermöglichen soll, wird nicht obsolet, nur weil es um Terabyte an Daten geht. Vielmehr muss die Kanzlei diese Informationen so bereithalten, dass sie bei Bedarf jederzeit verfügbar sind. Anders lässt sich weder die umfassende und erschöpfende Belehrung des Mandanten noch der schlüssige und vollständige Vortrag vor Gericht gewährleisten.
Eine eigenständige Anwaltspflicht stellt sachgemäßer Einsatz von IT-gestützten Technologien in juristischen Großprojekten zwar nicht dar. Und es würde sicher zu weit gehen, eine entsprechende gesetzliche Normierung zu fordern. Allerdings legen die klassischen Sorgfaltspflichten des Rechtsanwalts den professionellen Einsatz von Technologie nahe, wenn die Mandatsbearbeitung dies erfordert.
In diesem Lichte müssen sowohl die bisherigen standesrechtlichen Vorgaben als auch die klassischen Arbeitsprozesse der Rechtsanwälte von diesen und den Rechtsanwaltskammern gemeinsam auf den Prüfstand gestellt werden, um den Herausforderungen durch die Digitalisierung gerecht zu werden. Die pflichtgemäße Mandatsbearbeitung hängt heute nicht nur von der Brillanz der juristischen Qualifikation, sondern auch vom profunden technologischen Verständnis ab, technisch und organisatorisch moderne Großmandate zum Wohle des Mandanten umzusetzen.
Dr. Clas-Steffen Feuchtinger ist Rechtsanwalt und Co-Founder des Rechtsdienstleisters und Softwareentwicklers reThinkLegal GmbH sowie Vorstandsmitglied der LegalHorizon AG in Frankfurt am Main.
Sachverhaltsermittlung im Wirtschaftsrecht: . In: Legal Tribune Online, 29.10.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/38435 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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