Winterreifenpflicht: Geeignetes Schuhwerk auch für Autos?

Winterreifen von Oktober bis Ostern, sonst gibt es ein Bußgeld und die Versicherung zahlt auch nicht. Diese Faustregel für eine Winterreifenpflicht geriet spätestens mit einem Urteil des OLG Oldenburg schwer ins Wanken, das Verkehrsministerium will nun nachbessern. Hat Deutschland gar keine Winterreifenpflicht?

Derzeit tagen die Verkehrsminister der Länder unter Leitung von Peter Ramsauer. Eines der Ergebnisse dieser Beratung verkündete der Bundesverkehrsminister am Mittwoch vor der Presse: "Übergangsweise werden wir eine konkrete Winterreifenpflicht verankern."

Die nationale "Winterreifenpflicht" solle bis zu einer einheitlichen europäischen Regelung gelten und durch eine Änderung der StVO umgesetzt werden. Mancher mag sich da verwundert fragen: Winterreifenpflicht - haben wir die nicht schon? Haben Autofahrer sich jahrelang umsonst den Kopf zerbrochen, wann sie Winterreifen aufziehen sollten, für nichts und wider nichts wochenlang auf Termine in Autowerkstätten gewartet oder gar Verwarnungsgelder wegen Verstoßes gegen die "Winterreifenpflicht" gezahlt?

Anlass zur Initiative der Minister ist eine Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Oldenburg zum Bußgeldtatbestand des  § 49 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 2 Abs. 3a S. 1 und 2 der Straßenverkehrsordnung (StVO). Nach § 2 Abs. 3a StVO ist bei Kraftfahrzeugen die Ausrüstung an die Wetterverhältnisse anzupassen. Hierzu gehören insbesondere eine geeignete Bereifung und Frostschutzmittel  in der Scheibenwaschanlage. Wer gegen diese Pflicht verstößt, kann nach § 49 a Abs. 1 Nr. 2 StVO mit 20 Euro verwarnt werden. Wird obendrein noch jemand behindert, können ein Bußgeld von 40 Euro und ein Punkt in der Verkehrssünderkartei fällig werden.

Nach Einführung dieser Vorschrift am 01. Mai 2006 ging man davon aus, dass nun in der Bundesrepublik für alle Kraftfahrzeuge verbindlich eine "Winterreifenpflicht" gelte, bei deren Nichtbeachtung das Verwarnungs- oder ein Bußgeld erhoben werden kann. Zumindest, um Probleme mit der Versicherung zu vermeiden, bestehe jedenfalls eine Art faktischer Winterreifenpflicht.

OLG Oldenburg: Derzeitige Bußgeldvorschrift verfassungswidrig

Mit Urteil vom 09. Juli 2010 (Az. 2 SsRs 220/09) hat nun das OLG Oldenburg  den Bußgeldtatbestand in § 49 Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 2 Abs. 3a S. 1 und 2 StVO wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot für teilweise verfassungswidrig erklärt. Die Vorschrift sei zu unbestimmt, soweit sie einen Verstoß gegen das Gebot ahndet, ein Kraftfahrzeug mit einer an die Wetterverhältnisse angepassten, geeigneten Bereifung auszurüsten.

Mit dieser Entscheidung gaben die Richter einem Betroffenen Recht, der Ende November 2008 mit seinem Pkw, auf dem neue Sommerreifen aufgezogen waren, über eine Eisfläche geschlittert war und das Schaufenster eines gegenüberliegenden Geschäfts zertrümmert hatte.

Das Amtsgericht (AG) hatte den Mann zu einem Bußgeld von 85 Euro verurteilt – wegen überhöhter Geschwindigkeit und Fahrens mit Sommerreifen. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hin hob das OLG Oldenburg das Urteil des AG teilweise auf und setzte gegen den Betroffenen nur mehr eine Geldbuße von 50 Euro wegen Fahrens mit nicht angepasster Geschwindigkeit fest. Dem Betroffenen könne kein Verstoß gegen § 49 Abs. 1 Nr. 2 StVO i. V. m. § 2 Abs. 3a Sätze 1 und 2 StVO zur Last gelegt werden. Diese Regelung sei verfassungswidrig und damit ungültig, soweit sie den Verstoß gegen die Pflicht sanktioniere, mit Reifen zu fahren, die den Wetterverhältnissen angepasst seien.

Die Bestimmtheit von Bußgeldtatbeständen als rechtsstaatliche Forderung

Nach Art. 103 Abs. 2 Grundgesetz (GG), der nicht nur für Straf-, sondern auch für Bußgeldtatbestände gilt, kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.

Art. 103 Abs. 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen.

Zwar kann auch das Strafrecht nicht darauf verzichten, allgemeine Begriffe zu verwenden. Sofern man durch Auslegung den Sinn der Vorschrift erfassen kann, ist das auch noch in Ordnung. Hier darf man aber die Erwartungen an die Auslegungskünste des Normadressaten nicht überspannen.

Insofern ist für die Bestimmtheit einer Strafvorschrift in erster Linie der für den Adressaten erkennbare und verstehbare Wortlaut des gesetzlichen Tatbestandes maßgeblich. Danach muss das vom Gesetz Gewollte auch für den Durchschnittsbürger, hier also für den normalen Verkehrsteilnehmer, bestimmt oder zumindest bestimmbar sein.

Was ist eine "geeignete Bereifung"?

Und daran hapert es bei § 2 Abs. 3a StVO. Denn was ist eine "geeignete, an die Wetterverhältnisse angepasste Bereifung"? Wo steht hier überhaupt was von Winter? Und was ist ein Winterreifen?

Auf alle diese  Fragen findet der Autofahrer nach Meinung des OLG keine passende Antwort. Aus dem Wortlaut der Norm selbst  könne der Fahrer nicht erkennen, was von ihm verlangt werde. Andere Normen ließen sich nicht zur Auslegung heranziehen.

Weder gesetzliche noch technische Vorschriften regelten, welche Eigenschaften Reifen für bestimmte Wetterverhältnisse haben müssten. Dies gelte auch für Winterreifen. Diese würden zwar in der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) erwähnt, indem § 36 Abs. 1 Satz 3 StVZO sie mit M+S-Reifen gleich setzt. Auch zwei weitere Regelwerke, die den Begriff der "Winterreifen" erwähnten,  definierten ihn aber ebenso wenig wie die StVZO auch. Vorschriften, denen sich nähere Eigenschaften eines Winterreifens entnehmen ließen, existierten aber nicht.

Reifen für Matsch und Schnee sind noch lange nicht wintertauglich

Was ein "M+S-Reifen" sei, sei gleichfalls weder durch gesetzliche noch durch technische Vorschriften geregelt. "M+S" stehe für "Matsch und Schnee" (engl.: "mud and snow") und solle – vereinfacht - die besondere Wintertauglichkeit eines Reifens kennzeichnen. Die M+S-Kennzeichnung solle erkennbar machen, dass es sich nach der EU-Richtlinie 92/23/EWG (Richtlinie des Rates über Reifen von Kraftfahrzeugen und Kraftfahrzeuganhängern und über ihre Montage) um Reifen handele, bei denen das Profil der Lauffläche und die Struktur so konzipiert seien, dass sie vor allem in Matsch und frischem oder schmelzendem Schnee bessere Fahreigenschaften gewährleisten würden als normale Reifen. Das Profil der Lauffläche der M+S-Reifen sei im Allgemeinen durch größere Profilrillen und/oder Stollen gekennzeichnet, die voneinander durch größere Zwischenräume getrennt seien, als dies bei normalen Reifen der Fall sei.

Die Verwendung des M+S-Symbols unterliege jedoch keiner Prüfung und Kontrolle und genieße daher keinerlei Schutz. Auch eine M+S-Kennzeichnung ermögliche deshalb keine gesicherte Aussage zur tatsächlichen Wintertauglichkeit.

Auch ein Sommerreifen kann geeignet sein – vielleicht

Eine gefestigte Rechtsprechung zu der Frage der "geeigneten Bereifung" habe sich nicht einmal ansatzweise gebildet. Aus der Fachliteratur ergebe sich keine konkretere,  übereinstimmende Auslegung des § 2 Abs. 3a StVO. Einigkeit bestehe nur in der Annahme, dass § 2 Abs. 3a Sätze 1 und 2 StVO keine generelle Winterreifenpflicht in den Wintermonaten normiere.

Diese Annahme lasse sich zum einen daraus ableiten, dass § 2 Abs. 3a S. 1 und 2 StVO eine an die Wetterverhältnisse angepasste, geeignete Bereifung verlange und somit auf möglicherweise kurzzeitige konkrete und aktuelle Wetterlagen abstelle. Andererseits werde der Begriff des "Winterreifens" nicht verwendet, obwohl er als Rechtsbegriff in § 36 Abs. 1 Satz 3 StVZO definiert sei. Es könne daher allenfalls von einer "situationsbezogenen Winterreifenpflicht" gesprochen werden.

Die Annahme, alle nicht als "M+S" oder "Winterreifen" gekennzeichneten Reifen seien für winterliche Straßenverhältnisse ungeeignet, sei nicht haltbar. Es gebe keine gesicherten, durch Tests belegten Erkenntnisse, dass Reifen ohne diese Kennzeichnung winteruntauglich  wären.

So genannte "Sommerreifen" würden nämlich von vornherein kaum auf Schnee- und Glättetauglichkeit geprüft. Bei einem großen Winterreifentest im Jahr 2005 seien lediglich 2 Sommerreifen getestet worden. Diese wären auf Eis noch im Bereich der "geeigneten Bereifung"gewesen, auf Schnee hätten sie sich jedoch mit der Note "mangelhaft"als ungeeignete Bereifung erwiesen.

Wieso nicht einfach "Winterreifen"?

Es bestünden somit weder Material- oder Formvorgaben noch bestimmte Mindestqualitäten (bestimmte Bremswege bei definierten Standardsituationen), bei deren Nichterfüllung ein Verstoß gegen § 2 Abs. 3a StVO vorliegen würde. Dementsprechend habe sich bei den Kraftfahrern auch kein eindeutiges Verständnis gebildet.

Sowohl der Beschluss der Innenministerkonferenz, auf den die Regelung zurückgehe, als auch die Verordnungsbegründung vermeiden trotz der ursprünglichen Forderung des bayerischen Innenministeriums, eine Sanktion für das Autofahren ohne Winterreifen zu schaffen, eine konkrete Festlegung auf "Winterreifen".

In anderen Bereichen (BOKraft, StVZO) hatte der Normgeber dagegen keine Bedenken, die Benutzung von Winterreifen vorzuschreiben. Nehme man hinzu, dass mit der Vorschrift eine bürgernahe Regelung getroffen werden sollte, sei es nicht nachvollziehbar, warum der Begriff des Winterreifens nicht verwendet worden sei.

AG Velbert: Winterreifen sind im Winter besser – das reicht

Die einzige weitere Entscheidung zur "Winterreifenpflicht", die seit dem Beschluss des OLG Oldenburg veröffentlicht wurde, ist ein Urteil des AG Velbert (Urt. v. 13.08.2010, Az. 20 OWi 132/10). Das Amtsgericht betont, dass es an die Entscheidung des OLG Oldenburg nicht gebunden sei und dass sie sie auch nicht für richtig halte.

Es komme nicht darauf an, ob Sommerreifen grundsätzlich ungeeignet seien. Das Führen eines Kraftfahrzeugs sei mit erheblichen Gefahren für andere Personen verbunden. Jeder Fahrzeugführer müsse persönlich geeignet sein, mit dieser Gefahr umzugehen. Dazu gehöre es auch, dass der Fahrzeugführer sein Fahrzeug in möglichst verkehrssicherem Zustand zu halten habe. Es dürften zwar an den Fahrzeugführer keine unzumutbaren Anforderungen gestellt werden.

Es sei aber allgemein bekannt, dass so genannte "Winterreifen" unter Winterbedingungen bessere Fahreigenschaften aufwiesen. § 2 Abs. 3a StVO sei aufgrund der technischen Vorgaben der Auto- bzw. Reifenhersteller hinreichend präzisierbar. Da der Betroffene im dortigen Verfahren sein Fahrzeug nicht an die winterlichen Witterungsverhältnisse angepasst hatte, sondern mit Sommerreifen in ein anderes Fahrzeug gefahren war, verurteilte ihn das Gericht zu einer Geldbuße von 40 Euro.

Die Bedeutung des OLG-Urteils

Die Entscheidung des OLG Oldenburg erging in einem konkreten Rechtsstreit. Und außerdem betrifft sie explizit nur die auf  § 49 Abs 1 Nr. 2 i. V. m. § Abs. 3a StVO gestützte Bußgeldnorm.

Die Entscheidung ist aber gut begründet und nachvollziehbar. Sie wird Präzedenzwirkung auch für andere Prozesse haben. Und sie betrifft auch § 2 Abs. Abs. 3a StVO direkt. Denn mit den gleichen Argumenten, mit denen man die Bußgeldvorschrift für verfassungswidrig hält, wird man auch zur Ungültigkeit der Verhaltensnorm des § 2 Abs. 3a StVO kommen.

Der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz gilt für alle Gesetze und Verordnungen. Art 103 Abs. 2 GG enthält (nur) ein besonderes Bestimmtheitsgebot, das für straf- oder bußgeldbewehrte Vorschriften gilt. Die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG sind zwar besonders streng. Denn je belastender eine staatliche Maßnahme ist und je stärker ihre grundrechtlichen Auswirkungen sind, desto höhere Anforderungen sind an den Grad der inhaltlichen Bestimmtheit des in Rede stehenden  Rechtsakts zu stellen.

Aber alle Normen, die unmittelbar das Verhältnis des Bürgers zum Staat regeln, müssen so gefasst sein, dass der Betroffene seine Normunterworfenheit und die Rechtslage so konkret erkennen kann, dass er sein Verhalten danach ausrichten kann. Und gemessen an diesen Gesichtspunkten wird man auch schon die Gebots-/ Verbotsnorm des § 2 Abs. 3a  1. Alt. StVO als nicht vollziehbar und damit ungültig ansehen müssen. Das kann über das Verkehrsrecht hinaus auch Konsequenzen in Schadensfällen haben: Stünde fest, dass ein Fahrer ohne Winterreifen gegen Verhaltensvorschriften der StVO verstößt, könnte dies eventuell den Verschuldensmaßstab des "Sommerreifenfahrers" erhöhen.

Nicht nur der Reifen ist das Problem, sondern auch der Winter

Grundsätzlich ist das Problem auch der EU bekannt. Denn obwohl in Österreich, Finnland, Schweden, Norwegen, Lettland und Slowenien eine "Winterreifenpflicht" gilt, hat die Europäische Kommission im Juli 2009 per Verordnung des Europäischen Parlaments die Ermächtigung erhalten, spezifische Verfahren und Anforderungen für die Typgenehmigung von Reifen festzulegen.

Der Bundesverkehrsminister plant nun einen nationalen Alleingang. Vermutlich wird dies geschehen, indem er nun die StVO, gegebenenfalls auch die StVZO ändern und ausdrücklich den Begriff des "Winterreifens" verwenden wird.

Aber ob das allein das Problem lösen wird? Denn nach wie vor bleibt unklar, was denn genau ein Winterreifen ist. Und wann genau ist straßenrechtlich eigentlich Winter?

Der Autor Adolf Rebler ist Regierungsamtsrat in Regensburg und Autor zahlreicher Publikationen zum Straßenverkehrsrecht.

Zitiervorschlag

Adolf Rebler, Winterreifenpflicht: . In: Legal Tribune Online, 06.10.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1655 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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