Verfassungsrechtler bekommen in der Coronakrise zunehmend den Eindruck, dass die Politik auf ihre Argumente zu wenig hört. Ein besorgter Alexander Thiele im Gespräch über die Vergänglichkeit von Verfassungen und ein zu aktives BVerfG.
Herr Professor Thiele, Sie haben die Zeit des ersten Lockdowns ohne Präsenzvorlesungen genutzt und ein mehr als 400 Seiten starkes Werk zur Verfassungsgeschichte verfasst, das am 10. März erscheint. Wie kam es dazu?
Prof. Dr. Alexander Thiele: "Der konstituierte Staat" ist gewissermaßen ein Pandemiebuch. Aufgrund der Corona-bedingten Einschränkungen im vergangenen Sommersemester stand ich vor der Herausforderung, meine Vorlesung "Verfassungsgeschichte der Neuzeit" digital zu präsentieren. Daraus entwickelte sich schnell die Idee, die einzelnen Einheiten in Form eines Podcasts zu veröffentlichen. Der bekam dann eine derart positive Resonanz, dass ich gebeten wurde, daraus ein Buch zu machen.
Ihr Ritt durch die Verfassungsgeschichte startet mit der Amerikanischen Revolution im 18.Jahrhundert und endet mit der Problematisierung zahlreicher aktueller verfassungsrechtlicher Fragen, die auch im Zusammenhang mit der Pandemie stehen. Wie sehr beschäftigen Sie die aktuellen Einschränkungen der Freiheitsrechte?
Ganz erheblich; und wie ja auch der LTO zu entnehmen war, bin ich keineswegs der einzige Verfassungsrechtler, der in diesen Tagen erstaunt darüber ist, wie wenig seitens der Politik auf die Argumente unseres Berufsstandes gehört wird. Das verfassungsrechtliche Argument sollte dem virologischen Argument prinzipiell ebenbürtig sein. Das ist dann nicht der Fall, wenn sich im Rahmen der Abwägung letztlich alles dem Lebensschutz unterzuordnen hat. Hannah Arendt hat einmal sinngemäß gesagt: "Das Leben ist nicht das höchste Gut, sondern die Lebendigkeit."
"Auch das GG hätte dem Angriff der Nazis nicht standgehalten"
Hat der Gesetzgeber diese Lebendigkeit denn nicht ausreichend im Blick? In Ihrem Buch haben Sie die Corona-Maßnahmen immerhin als "demokratisch beschlossen" und "größtenteils verhältnismäßig" bezeichnet und davor gewarnt, ihre Durchsetzung mit autoritären Maßnahmen im Stil einer Diktatur zu vergleichen.
Diese Passagen schrieb ich zu Beginn der Pandemie. Inzwischen mache ich mir zunehmend Sorgen, wie sehr die Bundesregierung wesentliche, grundrechtsrelevante Entscheidungen ohne den nötigen Diskurs im Parlament trifft. Damit schafft sie nicht gerade Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern, sondern riskiert den eigenen Autoritätsverlust.
Aktuellstes Beispiel ist übrigens die Änderung der Impfverordnung durch den Bundesgesundheitsminister: Die Impfreihenfolge nicht gesetzlich zu regeln, ist aus meiner Sicht verfassungsrechtlich nicht haltbar. Art. 80 GG gebietet es, dass Entscheidungen, die wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte sind, stets vom Parlament getroffen werden.
Art. 80 GG ist auch eine Antwort des Grundgesetzes auf die Weimarer Reichsverfassung (WRV). Art. 48 WRV verlieh dem Reichspräsidenten ein unbegrenztes Notverordnungsrecht. Hindenburg umging damit den Reichstag und stellte seiner Regierung Blankovollmachten aus. Trotz derartiger Regelungen outen Sie sich in Ihrem Buch aber als Fan der WRV.
"Fan" ist vielleicht übertrieben, aber ja: Bei der WRV handelte es sich um eine moderne Verfassung, die weit besser war als ihr Ruf.
Sicher kann man ihr vorwerfen, dass sie einzelnen Organen, v.a. dem Reichspräsidenten, eine gewisse "überschießende Kompetenz" eingeräumt hat, die letztlich zum Untergang der Republik beigetragen hat. Andererseits: Eine solche Entwicklung ist wohl bei jeder Verfassung nur schwer zu vermeiden.
Denn für den Bestand einer Verfassung kommt es auf eine bestimmte Verfassungskultur an, auf die Einigung darauf, bestimmte formal erlaubte Dinge nicht zu tun. Am Ende sind es die Menschen, die eine Verfassung mit Leben füllen und sie am Leben halten. Wo die zentralen Entscheidungsgründer das nicht wollen, wird keine Verfassung überleben können. Die Weimarer Republik hätte auch mit dem heutigen Grundgesetz den antidemokratischen Angriffen der Nationalsozialisten wohl nicht allzu lange standgehalten.
"Das demokratische Ende kommt schleichend und leise"
Obwohl sich das Grundgesetz - wie sein erster Artikel gleich zu Beginn klarmacht - als Antithese zum NS-Regime versteht?
Auch das Grundgesetz ist vergänglich. Der verfassungsrechtliche Blick zurück mahnt, sich dieser Vergänglichkeit auch immer wieder zu vergewissern und nicht der Hybris zu unterliegen, dass die aktuelle Verfassungsordnung ohne weiteres bis in alle Ewigkeit bestehen wird. Das demokratische Ende kommt nur selten mit einem lauten Knall, sondern schleichend und leise, oftmals gekleidet in viele, für sich genommen verfassungskonforme Maßnahmen.
Das klingt ein wenig furchterregend.
Muss es nicht. Das GG kann noch lange die politischen Spielregeln vorgeben, wenn und soweit es vom Volk getragen wird – aber eben auch nur solange es vom Volk getragen wird. Augenblicklich ist leider viel Desinteresse und Gleichgültigkeit gegenüber unserer Verfassung zu beobachten.
Was schlagen Sie vor, damit sich das ändert?
Zunächst einmal muss es darum gehen, dass die Institutionen ein stückweit auch den Respekt gegenüber dem Grundgesetz wiedererlangen. Hierzu gehört u.a., die Verfassung nicht andauernd zu ändern. Immer häufiger wird versucht, politische Kompromisse oder Ideologien unmittelbar in der Verfassung zu verankern, um diese gegenüber künftigen einfachen Mehrheiten abzusichern. Bestes Beispiel dafür ist die Schuldenbremse.
Aber auch die Tendenz, Unnötiges in die Verfassung reinzuschreiben, nimmt zu. Wozu braucht es etwa die besondere Hervorhebung von Kinderrechten? Mir fällt keine gesetzliche Maßnahme ein, die derzeit zugunsten von Kindern nicht möglich wäre, weil Kinderrechte nicht ausdrücklich, wie von der Bundesjustizministerin beabsichtigt, im GG erwähnt sind.
Mahnung ans BVerfG: "Ball häufiger zurück zum Gesetzgeber spielen"
Um dem GG zu neuer Wertschätzung zu verhelfen, nehmen Sie in ihrem Buch auch das BVerfG in die Pflicht.
Ja, auch seine Rolle sehe ich zunehmend kritisch. Das BVerfG hat heute eine andere Funktion als in den Anfangsjahren der Bundesrepublik: Das Gericht hat mit herausragenden Urteilen vortrefflich und sehr offensiv dafür gesorgt, dass sich die Grundrechte im politischen und gesellschaftlichen Leben entfalten konnten und als unmittelbar geltendes Recht Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung binden. Das war für die Stabilisierung unserer Demokratie wichtig.
Jetzt gilt das nicht mehr?
Jedenfalls ist es nicht mehr so oft nötig wie früher. Wenn am Ende das BVerfG über alles und jedes entscheidet, wird der politische Entscheidungsraum stark eingeschränkt. In einer pluralistischen Welt tut eine moderne Verfassung aber gut daran, ausreichend politischen Diskkursraum zu belassen, um allen politischen Strömungen die Chance zu geben, sich hinter ihr zu versammeln. Nicht alles bedarf einer Verrechtlichung. Der politische Betrieb ist kein Verfassungsvollzugsorgan, der Bundestag keine Behörde, der Aufträge des BVerfG abarbeitet.
Sollte der Gesetzgeber für den Gang nach Karlsruhe höhere Hürden schaffen?
Nein, das BVerfG sollte aber häufiger die Gelegenheit ergreifen, den Ball an den Gesetzgeber zurückzuspielen statt für ihn zu entscheiden. Warum offene Verfassungsbestimmungen nicht als das sehen, was sie sind: nämlich offene Verfassungsbestimmungen?
Das Gericht könnte auch mal entscheiden: "Zu dieser Frage findet sich im GG keine Antwort." So könnte Karlsruhe am Ende doch auch zur Belebung des demokratischen Diskurses beitragen. Schließlich leben wir in stabilen demokratischen Verhältnissen, das Ringen um die richtige Lösung sollte im Parlament stattfinden.
Starke Bundesländer als "Schutzwall gegen autoritäre Entwicklungen"
In Ihrem Buch kritisieren Sie, dass sich das Machtgefüge zwischen Bund und Ländern zunehmend in Richtung des Bundes verschiebt. Doch auch die Bevölkerung sehnt sich nach einheitlichen Lebensverhältnissen und damit nach möglichst viel Entscheidungsmacht für den Bund. Was ist daran problematisch?
Einheitlichkeit ist nicht per se gut. Föderale Strukturen mit einem entsprechend ausgeprägten Wettbewerb sind nicht nur bürgernäher, sondern auch ein Schutzwall gegen autoritäre Entwicklungen. Außerdem sorgen sie für Vielfalt.
Ein Blick in die Geschichte sollte uns auch hier eine Lehre sein: In Weimar, aber auch in die DDR wurden innerhalb kürzester Zeit die Länder quasi abgeschafft bzw. entmachtet. Bei uns lässt sich nun eine Tendenz beobachten, die mir Sorgen macht:
Die Länder lassen sich ihre Kompetenzen regelrecht abkaufen. Statt klarer Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern finden sich immer mehr Kooperationen und Verflechtungen, die den Einfluss des Bundes im Bereich originärer Länderkompetenzen erhöhen und dadurch zugleich Verantwortlichkeiten verwischen.
Verfassungsrechtlich ist das eine Katastrophe, zumal auch die mangelnde Finanzausstattung kein stichhaltiges Argument ist: Wenn Bundesländern die Mittel fehlen, die der Bund zu viel hat, ist das Ausdruck einer falschen Aufteilung der Steuereinnahmen. Das muss man dann ändern, statt die Axt an den Föderalismus zu legen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. Alexander Thiele vertritt zurzeit einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der LMU in München. Er ist Autor diverser Bücher zum Staats- und Verfassungsrecht. Sein neuestes Werk "Der konstituierte Staat – Eine Verfassungsgeschichte der Neuzeit" erscheint am 10.März 2021 im Campus-Verlag.
Interview mit Staatsrechtler Prof. Dr. Alexander Thiele: . In: Legal Tribune Online, 11.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44245 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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