In den USA brennt das demokratische Haus weiter lichterloh. Es wäre leichtsinnig, sich durch den glimpflichen Ausgang der Midterm-Wahlen darüber hinwegtäuschen zu lassen, meint Mathias Hong.
Die Demokratie in den Vereinigten Staaten steht auch nach den Midterm-Wahlen, deren Endergebnis erst nach der Stichwahl im Bundesstaat Georgia am 6. Dezember endgültig feststeht, in Flammen. Wissenschaft und Journalismus, auch in Deutschland, sollten die Größe dieser Gefahr ernst nehmen und darauf reagieren, dass zwischen den beiden großen Parteien dort schon länger kein gewöhnlicher demokratischer Wettbewerb mehr ausgefochten wird, sondern ein asymmetrisch geführter Kampf um das Überleben dieser Demokratie, in dem eine der beiden Parteien sich von demokratischen Grundregeln losgesagt hat.
Bei den Midterm-Wahlen haben die Demokraten zwar die Mehrheit im Senat behalten und "nur" das Abgeordnetenhaus verloren, und auch das knapper als vielfach erwartet. Hoffnung gibt auch, dass die Demokratische Partei vor allem in den Staaten gut abschnitt, in denen die Demokratie (neben dem Abtreibungsrecht) besonders deutlich auf dem Spiel stand.
Trotzdem bleiben die Aussichten insgesamt düster. Die Demokratie im ältesten demokratischen Verfassungsstaat wankt. Sie ist so stark gefährdet wie seit dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) nicht mehr. Eine Mehrheit der republikanischen Wählenden glaubt Trumps großer Lüge, der "Big Lie", mit der er den demokratischen Sieg seines Amtsnachfolgers Biden leugnet.
Zwar konnten sich zumindest bei den Wahlen der Secretaries of State, die auf Staatenebene die Präsidentschaftswahlen 2024 leiten werden, keine Personen durchsetzen, die die demokratische Wahl Bidens leugnen oder die haltlosen Zweifel daran fördern. In das Abgeordnetenhaus wurden jedoch gleichwohl etwa 200 solcher Wahlskeptiker:innen gewählt.
Republikanische Partei verbieten?
Indem sie sich nach wie vor nicht von Trumps großer Lüge distanzieren, haben sich starke Kräfte in der Republikanischen Partei (GOP) von einer zentralen Grundnorm der Demokratie verabschiedet: Sie kündigen den demokratischen Konsens über die Bereitschaft auf, das Ergebnis fairer Wahlen zu respektieren. Schon das stellt einen eklatanten, offen zu Tage liegenden und gegenwärtigen Angriff auf die Fundamente der Demokratie dar.
Wäre die GOP eine deutsche Partei, käme man schon deshalb kaum umhin, sich zu fragen, ob sie nicht darauf ausgeht, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen, also die Voraussetzungen für ein Parteiverbot erfüllen könnte (Artikel 21 Absatz 2 Grundgesetz).
Verschärft muss sich diese Frage aber seit dem gewaltsamen Angriff auf das Kapitol am 6. Januar 2021 stellen, der die Bestätigung des Wahlergebnisses und damit die friedliche Machtübergabe nach demokratischen Wahlen verhindern sollte, und der in der Republikanischen Partei zwar anfangs verurteilt, später aber zunehmend verharmlost wurde. Noch nach diesem Angriff stimmten, bei der nächtlichen Abstimmung, 139 der Republikanischen Abgeordneten des Hauses gegen die Zertifizierung des Wahlergebnisses.
Sturm auf das Kapitol als Weckruf
Spätestens dieser demokratiefeindliche Umsturzversuch sollte ein Weckruf für alle gewesen sein, die die zahlreichen Warnungen vor einer ernsthaften autokratischen Bedrohung durch die seriell normbrechende Trump-Präsidentschaft bis dahin womöglich als zu alarmistisch betrachtet hatten.
Der Sturm auf das Kapitol, zu dem Trump als Präsident aufwiegelte und für den der Untersuchungsausschuss jetzt strafrechtliche Anklagen anregte, ist Symptom und bisheriger Höhepunkt eines Verfallsprozesses, der schon seit den 1980er Jahren im Gange ist. Weil die Ursachen dieses Verfalls strukturell sind, wird er auch zunächst unabhängig davon fortdauern, wer 2024 für die Republikanische Partei in den Präsidentschaftswahlkampf ziehen und wie diese Wahl ausgehen wird.
Die demokratie- und verfassungsfeindlichen Kräfte innerhalb der GOP beschränken sich keineswegs auf die Nichtanerkennung der Wahl Bidens. Sie nutzen die Lüge vom Wahlbetrug auch, um den demokratischen Mehrheitswillen zu unterlaufen und in den Staaten wie auf Bundesebene eine Minderheitenherrschaft ("minority rule") errichten oder aufrechterhalten zu können. Mit anderen Worten: Sie gebrauchen die Lüge von der gestohlenen Wahl, um auch künftige Wahlen stehlen zu können.
Am bedrohlichsten ist dabei wohl ihr Versuch, sich unlautere Einflussmöglichkeiten auf das Verfahren und die Institutionen der Wahlfeststellung zu verschaffen ("election subversion"). Zudem erschweren die Republikaner durch zahlreiche neue Gesetze auf Ebene der Bundesstaaten die Ausübung des Wahlrechts ("voter suppression") – besonders nachdem der U.S. Supreme Court 2013 in fragwürdiger Weise die Ausgestaltung der Vorkontrolle des Bundes für Wahlrechtsänderungen („preclearance“) nach dem Voting Rights Act für unvereinbar mit einem ungeschriebenen Grundsatz einzelstaatlicher Souveränität erklärt hatte. Außerdem schneiden sie Wahlkreise parteilich zu ihren Gunsten zu ("gerrymandering"). Der U.S. Supreme Court hatte diese Praxis 2018 zu einer nichtjustiziablen "political question" erklärt. Auch wenn sich eines solchen Gerrymanderings durchaus auch die Demokraten bedienen: Bei den Midterms könnte es den Republikanischen Sieg im Abgeordnetenhaus mitbewirkt haben.
Wie konnte es zu einer derart demokratie- und verfassungsfeindlichen Ausrichtung der GOP kommen? Dies könnten zumindest auch Folgewirkungen eines seit den 1980er Jahren erstarkenden "plutokratischen Populismus" sein, der durch ein Anheizen der Polarisierung und kulturkämpferischer gesellschaftspolitischer Konflikte, etwa über Abtreibung, Waffen oder Rassismus, auf Umwegen letztlich wirtschaftspolitische Resultate zugunsten einiger weniger äußerst vermögender Geldgebender erzielen soll – wie etwa die unter Trump erfolgten massiven Steuersenkungen von 2017.
Die problematische Rolle des Supreme Court
Der U.S. Supreme Court stellt sich diesen Angriffen auf die Demokratie leider nicht entgegen, sondern erleichtert sie eher. Seine Rechtsprechung zur Wahlkampffinanzierung, insbesondere die Citizens-United-Entscheidung von 2009, hat die Einflussnahme von außen durch finanzstarke Gruppen auf eine zunehmend ausgehöhlte GOP erleichtert. 2021 hat das Gericht den Voting Rights Act weiter geschwächt.
2023 steht nunmehr eine Entscheidung an, die für die demokratische Integrität der Wahlen höchste Bedeutung hat. Mindestens vier der radikalkonservativen Richter:innen scheinen nicht abgeneigt, darin den Gerichten der Bundesstaaten ganz oder teilweise die Kompetenz zu entziehen, Entscheidungen der Staatenparlamente zu den Wahlen auf Bundesebene zu überprüfen – obwohl die zugrundeliegende Theorie einer Unabhängigkeit der Staatenlegislativen ("independent state legislature theory") nicht nur im Schrifttum, sondern auch von der Konferenz aller 50 Chief Justices der Staaten als unhaltbar zurückgewiesen wird.
Ob dieses Gericht noch unabhängig und nach rechtlichen Maßstäben urteilt, muss leider auch dann zunehmend zweifelhaft erscheinen, wenn man einer rechtsrealistischen Grundsatzkritik an Verfassungs- und Höchstgerichten grundsätzlich eher abgeneigt ist. Solche Zweifel nähren etwa zunehmende Inkonsistenzen der Entscheidungsbegründungen, die drei je für sich problematischen Richterernennungen der Trump-Präsidentschaft, der Einfluss der konservativen Juristenvereinigung "Federalist Society", die zunehmend fragwürdigen öffentlichen Äußerungen des Richters Alito oder die Nichtreaktion des Richters Thomas auf den Anschein seiner möglichen Befangenheit in Verfahren mit Bezug zu den Vorgängen am 6. Januar 2021.
Verantwortung von Journalismus und Wissenschaft
Welche Verantwortung haben Wissenschaft und Qualitätsjournalismus in dieser anhaltenden Krise der Demokratie? Beide setzen eine Wertschätzung der Suche nach dem besseren Argument voraus, die nur in der freiheitlichen Demokratie gedeihen kann. Sie dürfen deshalb nicht tatenlos zusehen, wie der Ast abgesägt wird, auf dem sie selbst sitzen.
Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten hat zehntausende falsche oder irreführende Aussagen verbreitet. Als Hassredner- und Desinformant-in-Chief hat er die Verbreitung von Unwahrheiten gezielt als Instrument eingesetzt, also nicht nur Misinformation, sondern auch Desinformation betrieben. Die seriösen Medien haben sich lange Zeit gescheut, seine Halbwahrheiten, Unwahrheiten und Lügen als solche zu benennen – und damit deren Verbreitung gefördert, statt ihr entgegenzutreten.
Auch Wissenschaftler:innen fällt es zu Recht stets schwer, böse Absichten zu unterstellen und die Kenntnis innerer Tatsachen zu behaupten. Es ist auch ohne Zweifel richtig, solche Motivationen nur mit allergrößter Vorsicht und erst bei Überschreitung einer angemessenen Deutlichkeitsschwelle zu diagnostizieren. Schließlich gehören politische Unwahrheiten in gewissem Umfang zum demokratischen Alltag, etwa in Gestalt gebrochener Wahlversprechen.
Wenn aber gezielte populistische Lügen so gestandene Demokratien wie die der Vereinigten Staaten erfolgreich ins Wanken bringen, dann bedarf es einer dieser Lage angemessenen Haltung. Wenn "das eigene Haus abbrennt", so der amerikanische Rechtswissenschaftler Jack M. Balkin, müssen Medien und Wissenschaften bereit sein, die gewöhnliche Vermutung guten Glaubens bei überwältigenden Indizien als widerlegt zu behandeln und Bösglaubigkeit in Verfassungsbelangen ("constitutional bad faith") beim Namen zu nennen und ihr entgegenzutreten.
Der Rechtshistoriker und Verfassungsrechtler Michael J. Klarman brachte dies treffend auf den Punkt, als er im November 2020, also kurz vor dem Sturm auf das Kapitol, die (zu) große Zurückhaltung unter etablierten Rechtswissenschaftler:innen in den Vereinigten Staaten im Harvard Law Review durchbrach. In schonungsloser Eindringlichkeit schilderte er dort den Prozess der "Erniedrigung der amerikanischen Demokratie" und forderte: "Diejenigen, die der Autokratie widerstehen, müssen auf dem Unterschied zwischen Tatsache und Meinung bestehen, den Impuls bekämpfen, Lügen und Schandtaten zu normalisieren, und die Annahme zurückweisen, dass alle Geschichten zwei Seiten haben und alle politischen Akteur:innen sich grundsätzlich gleichen."
Eine falsche Ausgewogenheit ("Bothsidesism"), die das dortige Geschehen in vermeintlicher Neutralität wie einen gewöhnlichen politischen Lagerkampf einordnet, verkennt jedenfalls die grundsätzliche Asymmetrie des autokratischen Gefahrenpotentials: Schließlich haben nur in einer der beiden Parteien wesentliche Kräfte den demokratischen Grundkonsens fundamental aufgekündigt.
Der Autor Prof. Dr. Mathias Hong ist Professor für Öffentliches Recht an der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl. Mit der Entwicklung in den Vereinigten Staaten hat er sich zuletzt in einem Beitrag zu "Hassrede und Desinformation als Gefahr für die Demokratie" auseinandergesetzt (in: Rechtswissenschaft 1/2022, S. 126-174).
Die USA nach den Midterm-Wahlen: . In: Legal Tribune Online, 22.12.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50544 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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