Erste Erfahrungen mit der Reform des § 64 StGB: Raus aus der Sucht­k­linik, rein ins Gefängnis

Gastbeitrag von Prof. Dr. Jörg Kinzig

18.07.2024

Im Oktober 2023 trat die Reform der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt in Kraft. Ihr Ziel: Den Zustrom von Straftätern in diese stationäre Maßregel zu verringern. Jörg Kinzig zieht auf Basis neuester Rechtsprechung eine erste Bilanz.

Durch das Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts wurde auch die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 Strafgesetzbuch (StGB) mit Wirkung vom 01.10.2023 neu geregelt. Rechtspolitischer Hintergrund für die Reform bildete der ungebrochene Anstieg der Maßregelinsassen. Mehr als 3.500-mal im Jahr sprachen deutsche Strafgerichte 2021 bei Angeklagten mit Drogenproblemen eine Unterbringung in der Entziehungsanstalt aus. Damit hatte sich die Zahl der Anordnungen nach § 64 StGB seit 2007 fast verdoppelt. Diese Zunahme führte zu erheblichen Schwierigkeiten der Länder, die suchtkranken Straftäter adäquat unterzubringen. Überlange Wartezeiten in sogenannter Organisationshaft waren und sind die Folge. 

Ziel der Reform des § 64 StGB, die auf einem Bericht einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe fußt, war es, "die Unterbringung wieder stärker auf wirklich behandlungsbedürftige und -fähige Täterinnen und Täter" zu fokussieren "und so zur Entlastung der Entziehungsanstalten" beizutragen. Um dies zu erreichen, wurden die Anordnungsvoraussetzungen des § 64 StGB in mehrfacher Hinsicht enger gefasst. 

Die Novelle ist nun seit rund zehn Monaten in Kraft – Zeit für eine erste Bilanz auf Basis der veröffentlichten Rechtsprechung (zuletzt etwa BGH, Urt. v. 27.03.2024, Az. 3 StR 370/23; BGH, Beschl. v. 26.03.2024, Az. 4 StR 473/23; BGH, Beschl. v. 20.03.2024, Az. 6 StR 47/24). Im Blickpunkt stehen dabei die drei Änderungen des § 64 StGB, die zu einer Einschränkung der Zahl der Unterbringungsanordnungen führen sollen. 

Neues Erfordernis: Substanzkonsumstörung mit erheblichen Folgen

So wurde zum einen die Voraussetzung eines Hanges, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, in § 64 S. 1 Hs. 2 StGB vom Bestehen einer Substanzkonsumstörung abhängig gemacht. Diese muss zudem eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung, der Gesundheit, der Arbeits- oder der Leistungsfähigkeit zur Folge haben.  

Langfassung im StV 8/24

Überholt ist damit die frühere Rechtsprechung, die eine Beeinträchtigung dieser Sphären für die Annahme eines Hangs nicht für erforderlich gehalten hatte. Demgegenüber insistiert der Bundesgerichtshof (BGH) nunmehr darauf, dass die beiden Merkmale – dauernd und schwerwiegend – in dem von der Sucht betroffenen Lebensbereich auch tatsächlich kumulativ erfüllt sind (Beschl. v. 20.03.2024, Az. 6 StR 47/24). Verneint wurde eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit trotz kleinerer Pflichtverletzungen nicht nur bei jemandem, dem die Leitung eines größeren Betriebes möglich war, sondern auch bei einem Angeklagten, der bis zu seiner Festnahme einer Arbeitstätigkeit nachging. 

Die bloße Feststellung eines täglichen Konsums von Alkohol im Tatzeitraum ist ebenfalls nicht mehr ausreichend, in einem hinreichenden Maß Auswirkungen auf die Lebensgestaltung und die Gesundheit eines Angeklagten zu belegen. 

Der "Hang": ein unverändert schillernder Begriff 

Offen ist bislang noch, inwieweit an der hergebrachten Definition des Hanges festzuhalten ist. Bisher wurde ein Hang dann angenommen, wenn bei einer Person eine chronische, auf körperlicher Sucht beruhende Abhängigkeit oder zumindest eine eingewurzelte, auf psychischer Disposition beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung vorliegt, immer wieder Alkohol oder andere Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, also psychische Abhängigkeit besteht.  

Nachdem der Begriff des Hanges in der Novelle nicht aufgegeben, sondern in § 64 S. 1 Hs. 2 StGB nur durch das Erfordernis einer Substanzkonsumstörung gesetzlich konkretisiert wurde, spricht viel dafür, an der herkömmlichen Definition des Hangs durch die Rechtsprechung festzuhalten, wobei aber immer zusätzlich die Voraussetzungen des § 64 S 1. Hs. 2 StGB zu beachten sind. Auf dieser Grundlage erscheint eine physische Abhängigkeit auch nach der Reform nicht unbedingt erforderlich. 

Dessen ungeachtet ist das Vorliegen einer Substanzkonsumstörung und damit eines Hanges nunmehr fraglich, wenn der Täter z.B. in der Lage war, den Rauschmittelkonsum "Tage und Abende", "kurzzeitig", "immer wieder", während der Arbeitszeit oder in der Untersuchungs- bzw. Strafhaft ohne Weiteres zu verringern oder zu unterlassen. 

Die ebenfalls in § 64 StGB verankerte Voraussetzung, dass ein Hang zum Konsum von Rauschmitteln im Übermaß bestehen muss, dürfte dagegen keine selbstständige Bedeutung mehr besitzen. Denn wenn infolge der Substanzkonsumstörung eine dauernde und schwerwiegende Beeinträchtigung eines der genannten Lebensbereiche vorliegt, ist auch von einem übermäßigen Konsum auszugehen. 

Verschärftes Kausalitätserfordernis zwischen Hang und Anlasstat 

Mit der Reform des § 64 StGB wurde darüber hinaus ein verschärftes Kausalitätserfordernis zwischen Hang und Anlasstat eingeführt. Die Tat muss nun quantitativ "überwiegend" auf den Hang zurückzuführen sein. Hierdurch sollen Fälle ausgeschlossen werden, in denen ein Hang lediglich eine untergeordnete Rolle für die Begehung der Tat spielte. In derartigen Fällen ist die Konsumstörung lediglich eine Begleiterscheinung der Straftat. 

Als ein Indiz gegen die Maßgeblichkeit des Hangs für die Anlasstat sieht der BGH etwa eine (große) Menge der gehandelten Betäubungsmittel im Vergleich zu einer nur (kleinen) sichergestellten Menge für den Eigenkonsum an (Beschl. v. 14.11.2023, Az. 6 StR 346/23). Auch ist eine Unterbringung nach § 64 StGB nunmehr in Fällen ausgeschlossen, in denen ein suchtunabhängiges dissoziales Verhalten für die Tatbegehung wesentlich war. 

Anders als unter Geltung des § 64 StGB a.F. fehlt es also an einem solchen symptomatischen Zusammenhang nicht erst, wenn die Taten allein zur Finanzierung des allgemeinen Lebensbedarfs oder zur Gewinnerzielung bestimmt waren, sondern schon dann, wenn dies überwiegend der Fall gewesen ist oder die Taten sowohl zur Finanzierung der Drogensucht als auch des Lebensunterhalts begangen wurden. 

Anforderung an Erfolgsprognose der Behandlung angehoben 

Moderat angehoben wurden schließlich die in § 64 S. 2 StGB normierten Anforderungen an die Behandlungsprognose. Während das frühere Recht für eine Unterbringung nur eine "hinreichend konkrete Aussicht" auf eine Heilung oder zumindest eine Rückfallverhinderung für eine gewisse Dauer verlangte, muss diese Prognose nunmehr "aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zu erwarten" sein. Dennoch wird man weitgehend auf die bisherige Rechtsprechung zurückgreifen können, zumal der frühere Gesetzestext mit der nun in den Materialien geforderten "konkrete(n) Chance für einen Behandlungserfolg" weitgehend synonym zu sein scheint. Eine "noch hinreichend konkrete Behandlungsaussicht“ genügt nach der Neufassung jedoch nicht mehr. 

Prognosegesichtspunkte sind in erster Linie in der Persönlichkeit des Täters liegende Umstände, die seine Sucht und deren Behandlungsfähigkeit unmittelbar kennzeichnen. Also insbesondere Art und Stadium der Sucht, bereits eingetretene physische und psychische Veränderungen und Schädigungen, frühere Therapieversuche, eine aktuelle Therapiebereitschaft, für eine erfolgreiche Therapie erforderliche kognitive Fähigkeiten und eine ausreichende Sprachkompetenz. Vor allem mangelnde Sprachkenntnisse oder unzureichende Sprachkompetenzen werden nunmehr vom Gesetzgeber als wesentliche Umstände genannt, bei denen die Erwartung einer erfolgreichen Behandlung in der Regel nicht mehr berechtigt sein werde. 

Erhebliche Folgekosten zu erwarten 

Nach rund zehnmonatiger Geltung der neuen Rechtslage lässt sich absehen: Die Reform des § 64 StGB wird dazu führen, dass zukünftig eine erhebliche Zahl an abgeurteilten Straftätern mit Suchtproblemen statt in der Entziehungs- in einer Justizvollzugsanstalt landen wird.  

Dabei gibt es durchaus Anzeichen dafür, dass der Maßregelvollzug dem Strafvollzug auch bei solchen Personen vorzuziehen ist, bei denen keine schwere Suchtmittelkonsumstörung vorliegt, sondern eher ein missbräuchlicher Drogenkonsum als Teil eines delinquenten Lebenswandels bzw. einer primär delinquenten Orientierung. Verschärfend wirkt, dass die Strafanstalten nur ungenügend auf die Behandlung der auf sie nunmehr zukommenden unzweifelhaft auch schwierigen Klientel vorbereitet sind. 

Diese gewichtigen Gesichtspunkte nähren den Verdacht, dass hier an falscher Stelle gespart wurde. Mag die Verschiebung von Straftätern von den Entziehungs- in die Justizvollzugsanstalten kurzfristig zu einer finanziellen Entlastung führen: Die für die Gesellschaft mit dieser Strategie verbundenen Folgekosten könnten erheblich werden. 

Prof. Dr. Jörg Kinzig ist Direktor des Instituts für Kriminologie der Universität Tübingen und Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie, Straf- und Sanktionenrecht.

StV

Bei dem Text handelt es sich um eine Zusammenfassung eines wissenschaftlichen Beitrags mit Literatur- und Rechtsprechungsbelegen sowie eines Editorials. Beide sind in der Zeitschrift "StV – Strafverteidiger", Heft 8, 2024 erschienen sind. Die Zeitschrift wird wie LTO von Wolters Kluwer herausgegeben. Sie ist als Einzelausgabe hier und als Abo hier erhältlich.

Zitiervorschlag

Erste Erfahrungen mit der Reform des § 64 StGB: Raus aus der Suchtklinik, rein ins Gefängnis . In: Legal Tribune Online, 18.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55016/ (abgerufen am: 18.07.2024 )

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