Aus dem Schweigen dürfen für den Angeklagten keine nachteiligen Schlüsse gezogen werden. Schweigt der Angeklagte jedoch nur teilweise, sieht es anders aus. Plötzlich muss dieser seine Unschuld beweisen, kritisiert Lukas Zeyher.
Ein gesellschaftlich weit verbreitetes Sprichwort lautet: "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold". Doch ist Schweigen wirklich immer "Gold"? Blickt man auf die Entscheidung des Landgerichts (LG) Düsseldorf vom 29. Juni 2021, gilt das im Strafverfahren zumindest nicht uneingeschränkt. Das LG Düsseldorf verurteilte den Angeklagten wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und sechs Monaten. Es war davon überzeugt, dass sich der Angeklagte an einem Abend im September 2020 mit dem späteren Geschädigten und zwei weiteren Personen zur Aussprache wegen einer Streitfrage in einem Park traf und seinem Kontrahenten dann mit einem Messer in den linken Oberschenkel stach, worauf dieser in der Folge aufgrund hohen Blutverlustes verstarb.
Seine richterliche Überzeugung von diesem Sachverhalt und der Tatbegehung stützte es dabei – neben einem rechtsmedizinischen Sachverständigengutachten – insbesondere auf eine Erklärung des Verteidigers, die sich der Angeklagte zu eigen machte. In dieser räumte er zwar ein, dem Tatopfer tödliche Verletzungen zugefügt zu haben. Gleichzeitig behauptete er jedoch, der Geschädigte sei ohne erkennbaren Anlass auf ihn zugelaufen – er habe deshalb aus Notwehr gehandelt. Doch Details zu wesentlichen Aspekten des Tatgeschehens teilte der Angeklagte nicht mit. So enthielt die Aussage etwa keine Angaben zum Gegenstand des Streits oder die Reichweite einer Einbeziehung der beiden weiteren Personen in das Tatgeschehen, obwohl eine Darlegung nach Auffassung des Gerichts naheliegend gewesen wäre.
Aus diesem Schweigen der Erklärung zu wesentlichen Teilen des Tatgeschehens dürften deshalb nachteilige Schlüsse zulasten des Angeklagten gezogen werden. Im Ergebnis führte das dazu, dass das Gericht die behauptete Notwehrlage unter anderem deshalb verneinte.. Die dagegen gerichtete Revision vor dem 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) blieb schließlich erfolglos (Beschl. v. 21.12.2021 – 3 StR 380/21).
Schweigerecht des Beschuldigten
Ein solches Verständnis stößt mit Blick auf das Schweigerecht des Beschuldigten auf Bedenken. Dieses ist Ausdruck des Grundsatzes "nemo tenetur se ipsum accusare" und stellt einen der Grundpfeiler der Strafprozessordnung dar. Im Grundsatz darf das Schweigen des Beschuldigten daher nicht zu seinem Nachteil verwertet werden. Selbiges ist anerkannt bei einer (zeitlich) unterschiedlichen Ausübung des Schweigerechts in verschiedenen Verfahrensstadien. In diesem Fall des sog. "zeitweisen Schweigens" dürfen ebenfalls keine nachteiligen Schlüsse zulasten des Beschuldigten gezogen werden. Dies gilt unabhängig davon, ob er in früheren Verfahrensstadien zur Sache schweigt und sich erst in der Hauptverhandlung dazu entschließt, zur Sache auszusagen oder er sich umgekehrt zunächst – etwa im Ermittlungsverfahren – zur Sache einlässt und erst später von seinem prozessualen Schweigerecht Gebrauch macht. Allerdings kann die frühere Aussage in letztgenanntem Fall durch Vernehmung der Verhörsperson oder über § 254 StPO durch Verlesung des richterlichen Vernehmungsprotokolls in die Hauptverhandlung eingeführt werden.
Teilweises Schweigen vs. Selbstbelastungsfreiheit
In Einklang mit der Entscheidung des LG Düsseldorf bzw. des 3. BGH-Strafsenats sieht die herrschende Meinung dies jedoch anders, wenn der Beschuldigte nur in gewissen Teilpunkten Aussagen tätigt, über andere Punkte aber schweigt oder auf einzelne Fragen nicht oder nicht ausreichend antwortet. Dieser Fall des sog. "teilweisen Schweigens" dürfe danach bei der Beweiswürdigung für den Angeklagten nachteilig berücksichtigt werden. Begründet wird die (nachteilige) Berücksichtigungsfähigkeit des "teilweisen Schweigens" vor allem damit, dass sich der zu einzelnen Fragen schweigende Angeklagte aus freien Stücken selbst zum Beweismittel mache, indem er trotz vorheriger Belehrung über sein Schweigerecht bestimmte Sachverhaltsangaben unterbreitet und zugleich einzelne Fragen offenlässt.
Überzeugen vermag diese Argumentation jedoch nicht. Sagt der Angeklagte nur teilweise aus, unterstellt er seine Aussage auch nur teilweise der richterlichen Beweiswürdigung. In anderen Punkten will er sich gerade nicht zum Beweismittel machen und insoweit auch nicht an der weiteren Sachverhaltsaufklärung mitwirken. Auch soweit die herrschende Meinung anführt, Teilaussage und Teilschweigen bildeten eine sog "Gesamteinlassung", die insgesamt bzw. vollumfänglich zu würdigen sei, ist dies kritisch zu sehen. Teilaussage und Teilschweigen können auf den unterschiedlichsten Motiven beruhen, sodass sich eben nicht feststellen lässt, ob dem Teilschweigen ein negativer Bestandteil der Aussage entnommen werden kann. Zudem ist nicht ersichtlich, warum man mit dieser Argumentation nicht auch bei dem eingangs angesprochenen "zeitweisen Schweigen" von einer Gesamteinlassung des Beschuldigten sprechen müsste.
Missachtung des nemo-tenetur-Grundsatzes
Vor allem aber geht mit einem solchen Verständnis eine partielle Entwertung des Schweigerechts einher, indem sie den Angeklagten bei seiner Aussage vor die Alternative stellt, entweder vollumfänglich oder gar nicht auszusagen. Bedenklich stellt sich eine solche "Ganz-oder-gar-nicht-Entscheidung" insbesondere mit Blick auf die erhebliche Bedeutung des nemo-tenetur-Grundsatzes dar: Muss der Angeklagte, der sich bereits zur Sache eingelassen hat, nachteilige Konsequenzen für sein teilweises Schweigen befürchten, wird sich dieser im Folgenden wohl genötigt sehen, auch weiterhin auszusagen. Abweichend von der Auffassung der herrschenden Meinung und den oben aufgezeigten Entscheidungen dürfen deshalb aus einem "teilweisen Schweigen" keine nachteiligen Schlüsse für den Angeklagten gezogen werden.
Auch wenn das LG Düsseldorf und der 3. BGH-Strafsenat gleichwohl zum Nachteil des Angeklagten würdigen, wenn dieser in gewissen Teilpunkten Aussagen tätigt, über andere Punkte aber schweigt oder auf einzelne Fragen nicht oder nicht ausreichend antwortet, bleibt die Kritik daran bestehen. Insbesondere vor dem Hintergrund der verfahrensrechtlichen Bedeutung des nemo-tenetur-Grundsatzes dürfte dieser Streitstand auch noch nicht (abschließend) geklärt sein. Es spricht vielmehr Einiges dafür, ein "teilweises Schweigen" auch im Strafverfahren als "Gold" anzusehen, auch wenn es nach aktueller Rechtsprechung (leider) nur "Blech" ist.
Dr. Lukas Zeyher ist Rechtsreferendar am Landgericht Konstanz.
Beim Aufsatz handelt es sich um eine Zusammenfassung des wissenschaftlichen Beitrags mit Literatur- und Rechtsprechungsbelegen aus der Zeitschrift "StV Strafverteidiger Spezial, Heft 3, September 2022 mit dem Schwerpunkt "Strafprozessreform". Die Zeitschrift wird wie LTO von Wolters Kluwer herausgegeben. Sie ist als Einzelausgabe hier gratis erhältlich. Und hier können Sie kostenlos zwei Probehefte der Zeitung "Der Strafverteidiger" erhalten. Ein Abo ist hier erhältlich.
Schweigerecht des Angeklagten und "nemo tenetur": . In: Legal Tribune Online, 14.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50160 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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