Das AG Münster hat sich dem AG Bernau angeschlossen: Vorschriften des BtMG, soweit sie den Besitz von Cannabis betreffen, seien verfassungswidrig. Wegen 0,4 Gramm muss sich das BVerfG nun mit einer weiteren Richtervorlage befassen.
Auch das Amtsgericht (AG) Münster hält die Strafvorschriften im Betäubungsmittelgesetz (BtMG), die den Besitz von Cannabisprodukten betreffen, für verfassungswidrig. Ein Verfahren, in dem einem Mann der Besitz von 0,4 Gramm Marihuana zur Last gelegt worden war, hat das AG deshalb ausgesetzt und nach Art. 100 Abs.1 Grundgesetz (GG) dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur Entscheidung vorgelegt (sog. konkrete Normenkontrolle) Der Beschluss wurde erst jetzt auf Bitten von LTO veröffentlicht und findet sich nunmehr auch in der Rechtsprechungs-Datenbank des Landes Nordrhein-Westfalen (Beschl.v. 12.11.2020, Az.: 50 Cs.260 Js 1073/20-184/20).
Damit liegen dem BVerfG, wie es gegenüber LTO bestätigte, nunmehr zwei konkrete Normenkontrollanträge vor, die die Frage betreffen, "ob die Regelungen des Betäubungsmittelgesetzes, soweit sie Cannabisprodukte in der Anlage I zu § 1 Absatz 1 Betäubungsmittelgesetz mit der Folge aufführen, dass der unerlaubte Besitz dieser Stoffe den Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes unterliegt, gegen das Grundgesetz verstoßen".
Im April 2020 hatte Jugendrichter Andreas Müller vom AG Bernau bereits einen rund 140-Seiten langen Überprüfungsantrag nach Karlsruhe geschickt (Beschl. v. 18.09.2019, Az.2 Cs 226 Js 7322/219 (346/19)). Danach verletze die Kriminalisierung von circa vier Millionen Cannabis-Konsumenten in Deutschland nicht nur eine Vielzahl von Grundrechten der Betroffenen, wie etwa bei Erwachsenen das "Recht auf Rausch" nach Art.2 Abs.1 GG. Es entstünden zudem "immense Kosten für Staat und Gesellschaft für die Unverhältnismäßigkeit der strafrechtlichen Sanktionen". Gleich auf mehreren Seiten widmet sich Müller unter dem Aspekt des Gleichheitsgrundrechts (Art.3 GG) auch dem Verhältnis von Cannabis zu Alkohol. Ergebnis: "Die unterschiedliche Behandlung von Cannabis gegenüber dem Alkohol muss als grob willkürlich betrachtet werden."
Strafbefehl wegen 0,4 Gramm Marihuana
Im Münsteraner Fall hatten Polizeibeamte bei dem wegen anderer Straftaten unter Bewährung stehenden Heranwachsenden ein Cliptütchen mit 0,4 Gramm Marihuana sichergestellt. Die Staatsanwaltschaft (StA) beantragte daraufhin einen Strafbefehl in Höhe von 200 € gegen den Mann. Er habe sich gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 3 BtMG in Verbindung mit der Anlage 1 zu § 1 Abs. 1 BtMG wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln strafbar gemacht.
Nach Eingang des Antrags der StA kamen indes dem zuständigen Einzelrichter am AG Münster erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel – und er erinnerte sich explizit an den bereits im April 2020 vom Kollegen des AG Bernau beim BVerfG eingereichten Normenkontrollantrag:
"Es eröffneten sich Bedenken gegen den Erlass des beantragten Strafbefehls, da dem Amtsgericht inzwischen der Vorlagebeschluss des Amtsgerichts Bernau (2 Cs 226 Js 7322/19) in einem ähnlich gelagerten Sachverhalt zur Kenntnis gelangt war, welcher die seit Jahren gehegten Zweifel des Unterzeichners bezüglich der Verfassungswidrigkeit einer solchen Verurteilung treffend zusammenfasste", heißt es im Beschluss des AG Münster.
Uneinheitliche Einstellungspraxis in den Bundesländern
Im weiteren Verlauf seiner Begründung verweist der Münsteraner Richter sodann auf die Begründung des AG Bernau, zitiert die Ausführungen des Brandenburger Gerichts wegen eines "weitgehend gleichgelagerten Grundsachverhaltes" auf 16 Seiten wortwörtlich. Und kommt dann zum Ergebnis: "Dieser Überzeugung schließt sich das Amtsgericht nach eigenständiger Würdigung der Sach- und Rechtslage im vorliegenden Verfahren an, insbesondere im Hinblick auf die in diesem und zahlreichen vorangegangenen Verfahren zu Tage tretenden uneinheitlichen Richtlinien der Länder und die uneinheitliche Rechtsanwendungspraxis der örtlichen Staatsanwaltschaften in Bezug auf § 31a BtMG".
§ 31a BtMG regelt das "Absehen von der Verfolgung". Die "Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung absehen, wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre, kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht und der Täter die Betäubungsmittel lediglich zum Eigenverbrauch in geringer Menge anbaut, herstellt, einführt, ausführt, durchführt, erwirbt, sich in sonstiger Weise verschafft oder besitzt."
Kritisiert wird schon seit längerem, dass es keine bundeseinheitliche Festlegung über die Anwendung des § 31a BtMG gibt. Fast jedes Bundesland verfügt über eine eigene Verordnung bzw. Anweisung an die Staatsanwaltschaften, wann die Verfahren wegen geringer Mengen zum Eigenkonsum eingestellt werden können. In manchen Bundesländern kann sogar ein Besitz von 15 Gramm Cannabis zur Einstellung durch die StA führen. Umso überraschender, dass im Münsteraner Fall gerade einmal 0,4 Gramm zur Beantragung eines Strafbefehls geführt hatten.
Wann das BVerfG nun über die Anträge aus Münster und Bernau entscheiden wird, ist offen. "Die Verfahren sind in Bearbeitung. Ein Entscheidungstermin ist nicht absehbar", antwortete eine Sprecherin des Gerichts auf Nachfrage.
Gibt das BVerfG diesmal das Hanf frei?
Der Bernauer Jugendrichter Müller, der bereits seit vielen Jahren für die Legalisierung von Cannabis streitet, hatte das BVerfG bereits 2002 ebenfalls mit einer Richtervorlage angerufen, um prüfen zu lassen, ob das Cannabis-Verbot mit dem GG vereinbar ist.
Das BVerfG hielt die Richtervorlage seinerzeit aber für unzulässig, unter anderem auch mit der Begründung, dass es selbst an eine frühere, eigene Entscheidung von 1994 nach § 31 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz gebunden sei (Beschl. v. 29.06.2004, Az. 2 BvL 8/02). Das AG Bernau habe damals keine neuen Tatsachen dargelegt, "die geeignet seien, eine von der früheren Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts abweichende Entscheidung zu ermöglichen", hieß es 2004. Und so blieb es bei dem, was das BVerfG eben 1994 sehr zum Missmut aller Cannabis-Liebhaber entschieden hatte: Das Cannabis-Verbot ist verfassungskonform (Beschl. v. 09.03.1994, Az. 2 BvL 43/92).
Jugendrichter Müller zeigte sich unterdessen für das aktuell anhängige Verfahren optimistisch. In einem Interview mit LTO sagte er kürzlich: "Es hat sich seit 2002 einiges getan: Cannabis hat sich nicht nur als Medizin durchgesetzt. Auch ansonsten hat sich das gesellschaftliche und politische Klima bei dem Thema fundamental geändert. Inzwischen hält es die ganz normale Bevölkerung für nicht mehr zeitgemäß, wenn erwachsene Konsument:innen wegen weniger Gramm Gras oder Haschisch strafrechtlich verfolgt werden."
Richtervorlage des AG Münster: . In: Legal Tribune Online, 07.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45408 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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