2/2: Wichtigste Neuerung: audiovisuelle Vernehmung
Der Entwurf sieht überdies auch die Normierung verschiedener Beschuldigtenrechte vor: Diese sind, wie etwa die Anhörung des Beschuldigten vor Auswahl eines Sachverständigen (§ 73 Abs. 3 StPO-E), den Richtlinien über das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) entlehnt oder bisher ohnehin geübte Praxis. Letzteres gilt für das Recht der Verteidigung auf ein "opening statement" nach Verlesung des Anklagesatzes (§ 243 Abs. 5 S. 2 StPO-E), die Möglichkeit einer Erörterung des äußeren Ablaufs der Hauptverhandlung vor Terminabstimmung in umfangreichen erstinstanzlichen Verfahren (§ 213 Abs. 2 StPO-E) bzw. die Klarstellung, dass Anbahnungsgespräche zwischen Verteidiger und inhaftiertem Beschuldigten nicht überwacht werden dürfen (§ 148 Abs. 2 StPO-E).
Neu ist dagegen das vorgesehene Antragsrecht des Beschuldigten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren (§ 141 Abs. 3 S. 4 StPO-E) sowie die Spezialregelung für die Pflichtverteidigerbestellung im Fall richterlicher Vernehmungen (§ 141 Abs. 3 S. 5 StPO-E).
Das erfreuliche Kernstück des Referentenentwurfs verbessert die Dokumentation des Ermittlungsverfahrens durch die audiovisuelle Aufzeichnung von Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen (§ 58a Abs. 1 i.V.m. §§ 136 Abs. 4 und 163a StPO-E). Endlich anerkennt der Gesetzgeber die Vorzüge von in Bild und Ton dokumentierten Vernehmungen gegenüber bloßen Inhaltsprotokollen. Der Vernehmungsinhalt sowie deren kommunikativer Prozess wird authentisch abgebildet und konserviert. Dieser Schritt ist mit Blick auf den Stand der Technik sowie im internationalen Vergleich überfällig. Der Einfluss untersuchungsleitender Hypothesen von Vernehmungspersonen auf das Beweisergebnis ist, anders als bisher, transparent, damit überprüfbar.
Keine Verständigung zur Verständigung
Kritik an den Einzelheiten der skizzierten wesentlichen Neuerungen, die der Entwurf vorsieht, ist möglich. Das Verdienst der Expertenkommission besteht darin, eine Verfahrensbeschleunigung durch Aufgabe wesentlicher Verfahrensrechte verhindert zu haben. Das Ende der Fahnenstange möglicher Vereinfachungen ist insoweit erreicht.
Das zentrale Instrument "effizienter" Verfahrensabschlüsse – kurzer Prozesse – wird nicht thematisiert: verfahrensbeendende Absprachen bzw. Verständigungen (§ 257c StPO). Dies überrascht, auch weil sich dieses konsensuale Element kaum in die inquisitorische Grundausrichtung des Strafverfahrens fügt. Adressiert wird die Thematik nur insofern, als im Rahmen der vorgesehenen "moderaten" Erweiterung des Urkundsbeweises die Verlesung von Vernehmungsniederschriften künftig auch dann möglich sein soll, wenn sie "lediglich der Bestätigung eines Geständnisses" des unverteidigten Angeklagten dient und der Staatsanwalt zustimmt (§ 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO-E). Unabhängig davon, dass ein unverteidigter Angeklagter eher selten in den "Genuss" einer Verständigung kommen wird, ist diese Erweiterung mit Blick auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Verständigungsgesetz durchaus kritisch zu sehen. Danach soll der Akteninhalt, der durch Verlesung in die Hauptverhandlung transferiert würde, als Prüfungsgrundlage gerade nicht hinreichend zuverlässig, daher nicht ausreichend sein.
Auch sonst: alle Fragen offen
Die darüber hinaus seit langem thematisierten strukturellen Defizite des Strafverfahrens kann der Entwurf ebenfalls nicht auflösen. Von einer wirklich partizipatorischen Ausgestaltung des Ermittlungsverfahrens ist im Ergebnis nichts geblieben. Die Mitwirkungsrechte der Verteidigung müssten in diesem häufig (vor-)entscheidenden Verfahrensabschnitt erweitert werden, um eine effektive Partizipation zu ermöglichen und in der Konsequenz eine Entlastung der Hauptverhandlung zu legitimieren.
Auch die Dokumentation des Inbegriffs der Hauptverhandlung verharrt nach dem Entwurf auf einem anachronistischen Stand. Hier wird seit Langem eine Dokumentation der Beweisaufnahme etwa durch Video- oder Audioaufzeichnung gefordert. Dies würde späteren Streit und Missverständnisse etwa über den genauen Inhalt von Zeugenaussagen ausschließen, die weithin unkontrollierbare Feststellungshoheit der Tatgerichte beenden und die Rüge von Verfahrensfehlern – eben durch deren Dokumentation – überhaupt erst wirksam ermöglichen!
Ein tragfähiges Gesamtkonzept zu einer strukturellen Reform fehlt. Der Entwurf behandelt einzelne Vorschriften überwiegend isoliert. Der Gesetzgeber wird sich gleichwohl lange auf das Ergebnis der Kommission zurückziehen und weiteren Reformbedarf negieren können. "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen // Den Vorhang zu und …".
Der Autor Dr. Jörg Habetha ist Fachanwalt für Strafrecht, Lehrbeauftragter an der Universität des Saarlandes und Partner in der Kanzlei Bender Harrer Krevet in Freiburg i.Br.
Referentenentwurf des BMJV zur Reform des Strafverfahrens: . In: Legal Tribune Online, 28.06.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19809 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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