Art. 3 GG: Bringt es wir­k­lich etwas, die "Rasse" zu strei­chen?

von Martin Rath

31.01.2021

Als "Rassenhygiene" war Eugenik ein Motiv der internationalen Rechtspolitik, 30 Jahre bevor sie im NS-Staat auf die juristische Tagesordnung gesetzt wurde. Die Kontroverse zur Grundgesetzänderung bleibt hier eigenartig eindimensional.

Im Bundestag zeichnet sich seit vergangenem Jahr eine Mehrheit dafür ab, den Begriff "Rasse" aus Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz (GG) zu streichen. Die Kontroverse lässt zweifeln, ob hier eine demokratisch und rechtstaatlich organisierte Gesellschaft angemessen durchdacht an ihrem Grundrechtskatalog arbeitet.

Wenig Beachtung findet etwa der Umstand, dass das Grundgesetz nicht nur in Artikel 3 Abs. 3 auf das Konstrukt der "Rasse" verweist: Artikel 116 Abs. 2 GG garantiert Menschen, denen vom NS-Staat zwischen 1933 und 1945 "aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen" die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen wurde, auf Antrag wieder eingebürgert zu werden – ein Recht, von dem auch ihre Nachkommen Gebrauch machen können. Allein seit dem Jahr 2000 wurden bereits mehr als 50.000 Kinder, Enkel und Urenkel von NS-Verfolgten auf diesem Weg deutsche Staatsbürger.

Grundgesetzänderungen in einer Welt ohne historisches Bewusstsein?

Obwohl diese Wiedereinbürgerung von aus "rassischen Gründen" Verfolgten lebendiges Recht ist, wird die Streichung der "Rasse"-Vokabel aus Artikel 116 Abs. 2 GG nicht propagiert, weil das Wort dort ausschließlich historisch zu verstehen sei.

Allein für Artikel 3 Abs. 3 GG wird beispielsweise im Antrag der Fraktion "Bündnis 90/Die Grünen" zur Änderung von Artikel 3 Abs. 3 GG vorgebracht, dass bereits eine mit dem Wort "Rasse" zum "Ausdruck kommende willkürliche, auf biologistischen Begründungsmustern oder kulturellen Zuschreibungen beruhende Kategorisierung und Hierarchisierung von Menschen" der Menschenwürde und dem Gleichheitsgrundsatz widerspreche.

Folgt man nicht der aktuell beliebten sprachmagischen Vorstellung, dass gewisse Wörter an sich böse seien, wird hier die Streichung der Vokabel aus Artikel 3 Abs. 3 GG also letztlich damit begründet, dass der naive Leser des Grundgesetzes aus der Verwendung des Wortes "Rasse" schließen könnte, dass es eine (vulgär-) biologischeanthroposophische oder anders konstruierte Realexistenz von Rassen geben müsse – die einfache Auslegung oder ein historisches Bewusstsein, dass hier ein Verbot von rassistischem Staatshandeln unabhängig von einer solchen Realexistenz gefordert sein könnte, traut der gemeine Volksvertreter den "Menschen draußen im Lande" augenscheinlich nicht mehr zu.

Eigenartig selten fällt aber der Blick auf Artikel 3 Abs. 3 GG darauf, dass nicht nur die Benachteiligung von Menschen aufgrund einer wissenschaftshistorisch überholten, heute phantasmagorischen "Rassenzugehörigkeit" verboten ist, sondern auch ihre Bevorzugung.

Nicht zuletzt im Zusammenhang mit den zahlreichen vom Grundgesetz ursprünglich den Deutschen vorbehaltenen Rechten – von der Versammlungs- und Berufsfreiheit bis zum Zugang zu öffentlichen Ämtern – ließ sich das Verbot einer Bevorzugung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer "Rasse" im Jahr 1949 auch als Absage an eine "rassische Höherwertigkeit" der kurz zuvor noch von ihrem Status als "Arier" beseelten Bevölkerungsmehrheit verstehen.

In der jungen Bundesrepublik wussten nicht nur Menschen mit einer jüdischen Großmutter, sondern auch jene mit einem kaschubischen Großvater oder einer polnisch "versippten" Mutter, wie wichtig es war, die Gleichung von "Deutschtum" und "Arierstatus" zu negieren. Daran scheint sich heute niemand mehr erinnern zu wollen.

Perverse Details des historischen akademischen Rassismus

Damit nicht genug. Die gegenwärtige Kontroverse um die Streichung des Begriffs "Rasse" aus Artikel 3 Abs. 3 GG wirkt auch wenig vertraut mit den perversen Details des akademischen und populärwissenschaftlichen Rassismus in seiner Epoche.

Um nur ein klein wenig auszuholen: Erst um das Jahr 1850 herum hatte sich in der akademischen Lehre die Einsicht durchgesetzt, dass alle Erscheinungsformen der Gattung Mensch eine gemeinsame Abstammung aufweisen. Zuvor waren in der Lehre der Polygenese die Unterschiede in der Hautfarbe oder in der Körperform noch darauf zurückgeführt worden, dass sich die aktuell lebenden Menschengruppen auf je eigenen Wegen von ihren äffischen Vorfahren fortentwickelt haben könnten.

Das führte aber noch nicht zur erlösenden Erkenntnis, dass nun das Verlangen nach universalen Menschenrechten auch durch den Befund biologischer Gleichheit gesichert sei – ganz im Gegenteil setzte sich in akademischen und populärwissenschaftlichen Diskursen weitgehend die Vorstellung durch, dass "höherwertige" Menschen und "Rassen" durch "minderwertige" Individuen und "Rassen" bedroht würden. 

Der österreichisch-ungarische Diplomat Géza von Hoffmann (1885–1921) berichtete etwa aus den USA über die breite rechtspolitische Menschenzuchtbewegung, die sich daran anschloss. Im englischen Sprachraum firmierte sie unter dem Begriff "Eugenik". Von Hoffmann übersetzte dies systematisch mit der deutschen Entsprechung "Rassenhygiene".

In Aufsätzen, die beispielsweise in der "Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft" publiziert wurden, oder in seinem Werk "Die Rassenhygiene in den Vereinigten Staaten von Nordamerika" legte von Hoffmann dar, welche Konsequenzen in der Gesetzgebung und in der Staatspraxis aus dieser Lehre gezogen wurden.

Sein Buch erschien zwar 1913 im Verlag von Julius Friedrich Lehmann (1864–1935), der später eine Schlüsselfigur im Übergang der Eliten aus Medizin und Juristerei von einem noch bürgerlichen hin zu einem staatsterroristischen Rassismus wurde – doch während sich von Hoffmann in den USA aufhielt, war die "Rassenhygiene" dort und in den heute als Westen bezeichneten Ländern noch eine weitgehend herrschende konventionelle Wissenschaft.

"Rassen"-Vorstellungen: Weniger Abwehr- denn Züchtungsfantasien

Géza von Hoffmann stellte die Eugenik bzw. Rassenhygiene für den Zeitraum seines USA-Aufenthalts daher auch als eine schlechthin überragend moderne akademische Lehre dar.

Mit kaum zurückgehaltener Begeisterung berichtete er z. B. von der vorbildlichen Ausbildung der amerikanischen Sozialarbeiter, die Pflichtstunden zu den Gefahren der Vererbung von Krankheiten aller Art erhielten, oder von den Bemühungen in der Richterschaft, die erblichen Vorbelastungen von Kriminellen systematisch zu erfassen.

Der österreichisch-ungarische Vizekonsul war angetan davon, dass eine wachsende Zahl von US-Bundesstaaten psychisch kranken, körperlich oder geistig behinderten Menschen die Ehe untersagte und kündigte seinen deutschen Lesern an, verfolgen zu wollen, ob damit auch ein "rassehygienisch" notwendiges Verbot sexueller Kontakte geregelt worden sei.

Der biologischen Gesetzmäßigkeiten der Genetik noch unsicher, begrüßte von Hoffmann, dass in den USA da und dort auch jugendliche Straftäter danach befragt wurden, ob die Eltern bei ihrer Zeugung, nicht etwa während der Schwangerschaft, unter dem Einfluss von Alkohol gestanden hatten – seien hier doch kriminogene Keimbahnschäden zu befürchten.

Eines fällt mit Blick auf den heutigen antirassistischen Diskurs auf: Angesichts der damals etablierten Ehehindernisse etwa zwischen Menschen afrikanischer und europäischer Herkunft, lagen deren sexuelle Beziehungen für Vertreter der historischen "Rassenhygiene" meist außerhalb ihrer Interessen. Weit mehr sorgten sie sich, dass sich die verabscheuten Eigenschaften behinderter, sozial deklassierter oder krimineller Menschen durchsetzen, die noblen Fähigkeiten des akademisch gebildeten und geburtenschwächeren Bürgertums verloren gehen könnten. 

Aufgeklärte Sozialwissenschaft statt Antirassismus

Wie viel Einfluss die amerikanische Rassengesetzgebung auf den deutschen Staatsterrorismus nach 1933 nahm, ist umstritten. Festzuhalten ist aber, dass etwa Géza von Hoffmann in einem Recht hatte: Die eugenische Lehre von der Bedrohung der "nobleren Rassen" durch Menschen, die sie als minderwertig klassifiziert hatte – Taubstumme und Alkoholabhängige, intellektuell Unbewegliche und vielleicht auch solche anderer Hautfarbe – galt als eine wissenschaftliche Doktrin, die aus moralischen wie intellektuellen Gründen für zwingend und unbestreitbar gehalten wurde – und das nicht nur in den USA oder in politisch rechtsgerichteten, sondern gerade auch in linken Zirkeln, einschließlich der Frauenbewegung oder der Sozialdemokratie.

In den USA jedoch war, kaum dass der österreichisch-ungarische Diplomat das Land kriegsbedingt hatte verlassen müssen, zwar noch nicht die rassistische Gesetzgebung, wohl aber das eugenisch-rassenhygienische akademische Denken ins Schlingern geraten (vgl. Herbert Hovenkamp: "The Progressives: Racism and Public Law).

In der Völkerkunde kam, vertreten etwa von Franz Boas (1858–1942), einem amerikanischen Ethnologen preußisch-jüdischer Herkunft, der modernere Kulturrelativismus auf, in anderen Sozialwissenschaften und dem amerikanischen Rechtswesen wurde mit dem Behaviorismus  die Neugier für Umwelteinflüsse auf das menschliche Verhalten zum führenden Prinzip – seit 1920 setzte sich langsam durch, dass nicht "rassisch" bedingte Schädelvolumina oder Intelligenzgrade, sondern Einkommens- oder Ernährungsstatistiken die Wissenschaften vom Menschen voranbringen würden. 

Das Konstrukt der "Rasse" wurde also nicht negiert, es wurde durch bessere Wissenschaft abgelöst. Nur in Deutschland bedurfte es hierzu der Nachhilfe durch alliierte Streitkräfte.

Die deutsche Grundrechtsdogmatik verhandelt Fragen einer heute wegen der Pränataldiagnostik weit verbreiteten, jedoch rein praktischen Eugenik als Menschenwürdeproblem, weil das Verbot, Menschen "rassisch" zu diskriminieren, nie im historisch breiteren Sinn auch zugunsten etwa von Armen, Behinderten, Alkoholikern oder psychisch Kranken aufgefasst wurde.

Das war kategorial gewiss sinnvoll. Ob aber sprachpolitisch gestrichen werden muss, was wissenschaftshistorisch längst mehr als abgelöst ist, erscheint zweifelhaft.

Zitiervorschlag

Art. 3 GG: . In: Legal Tribune Online, 31.01.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44137 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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