Tragödie oder Strafprozess? : Wie das Edathy-Verfahren gelingen kann – oder eben nicht

2/2: Unschuldsvermutung vor Gericht…

Das Landgericht Verden hat das Hauptverfahren eröffnet. Es hält Sebastian Edathy für hinreichend verdächtig, strafbare Handlungen begangen zu haben.

Im Verfahren hat jeder Angeklagte die Möglichkeit, sich gegen den Tatvorwurf zu verteidigen und ihn zu widerlegen. Gelingt ihm das, wird er freigesprochen und ist dann juristisch rehabilitiert. Erhärtet sich der Verdacht dagegen zur Gewissheit, verurteilt ihn das Gericht.

Im Rechtsstaat reicht ein Verdacht niemals aus. Entscheidend ist das Urteil, das vom Gericht nach einem fairen Verfahren gefällt wird. Bis zum Urteil regiert  die Unschuldsvermutung: Edathy gilt als unschuldig, solange er nicht von einem Gericht rechtskräftig verurteilt wird. Das ist im Rechtsstaat ein selbstverständlicher Schutz für alle Verdächtigen. Denn fast jeder kann leicht – und völlig zu Unrecht - in Verdacht geraten.

…aber nicht vor dem Gerichtshof der Öffentlichkeit

Die (Medien)Öffentlichkeit funktioniert aber nach völlig anderen, nämlich ihren eigenen Regeln. Medien müssen Einschaltquoten erzielen, Clicks generieren und Auflage machen. Das geht am besten, wenn man Emotionen und Vorurteile bedient.

Der Gerichtshof der Öffentlichkeit fällt deshalb sein Urteil schnell. Eine akribische Beweisaufnahme ist seine Sache nicht. Er entscheidet emotional – nicht selten hysterisch – nach dem ersten Anschein. Und ist das Urteil erst gefällt, wird es kaum noch revidiert. Vor dem Gerichtshof der Öffentlichkeit ist der Anfangsverdacht gleichzeitig schon das Urteil.

Das hat Sebastian Edathy erlebt. Die Berichterstattung in den Medien war teilweise vernichtend. Seine bürgerliche Existenz jedenfalls in Deutschland ist zerstört. Daran könnte auch ein Freispruch nichts ändern. Hier gerät der Rechtsstaat an seine Grenzen.

Herkulesaufgabe der Richter

Umso wichtiger ist, dass die Regeln des Rechtsstaats vor dem Landgericht eingehalten werden. Das ist bei diesem Prozess leichter gesagt als getan. Medien beeinflussen nicht nur die öffentliche und die private Meinung. Sie haben – das zeigen empirische Untersuchungen immer öfter – auch Auswirkungen auf Richter und Staatsanwälte. Eine Studie der  Kommunikationswissenschaftler Kepplinger und Zerback kommt zu eindeutigen Ergebnissen. Nach ihren Erkenntnissen verfolgen Richter die Berichterstattung in den Medien über "ihre" Fälle in der Regel intensiv. Wie die Öffentlichkeit ihr Verhalten im Prozess beurteilt, ist für viele Richter wichtig.

Das bleibt nicht ohne Folgen: Etwa ein Viertel der befragten Richter räumt ein, dass die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit in Strafprozessen Auswirkungen auf das Strafmaß hat. Ältere empirische Studien zur Rechtsprechung in den USA kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Auch wenn die Forschung hier noch am Anfang steht: Dass Richter von Medien nicht beeinflusst werden, wird sich kaum noch behaupten lassen.

Die erste und wichtigste Aufgabe für das Landgericht wird also sein: Richter und Staatsanwälte müssen sich unabhängig machen von der öffentlichen Meinung und der Berichterstattung durch die Medien. Sie müssen sich auf das konzentrieren, was ihre ureigene Aufgabe ist: akribisch Beweise erheben, penibel Zeugen befragen, juristische Argumente analysieren und am Ende eines fairen Verfahrens ein gerechtes Urteil finden.

Werden sie das schaffen? Sie müssen es schaffen. Es wird nicht einfach. Aber wer hat gesagt, dass eine rechtsstaatliche Justiz eine einfache Angelegenheit ist?

Der Autor Prof. Dr. jur. habil. Dr. rer. pol. Volker Boehme-Neßler lehrt unter anderem Verfassungs- und Medienrecht an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.

Zitiervorschlag

Volker Boehme-Neßler, Tragödie oder Strafprozess? : . In: Legal Tribune Online, 23.02.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/14766 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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