Bisher musste die Bahn bei Verspätung einen Teil des Fahrpreises erstatten, und zwar ohne, dass es auf den Grund für die Verspätung ankam. Doch mit der neuen EU-Fahrgastrechte-Verordnung wird es kompliziert, erläutert Rudi Ruks.
Signalstörung, Kälteeinbruch, ein verspätet vorausfahrender ICE oder ein Notfall auf der Strecke – wer mit der Bahn reist, hat eines der Szenarien sicher schon einmal erlebt. Die meisten Fahrgäste dürften sich auch die bisher geltenden Entschädigungsregeln eingeprägt haben: Kommt ein Zug am Zielort mindestens 60 Minuten verspätet an, gibt es 25 Prozent des Ticketpreises als Entschädigung, bei 120 Minuten werden 50 Prozent ausgezahlt.
Warum es zur Verspätung kam, spielte dabei bisher keine Rolle. In der früheren EU-Verordnung über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr aus dem Jahr 2007 (Verordnung (EG) Nr. 1371/2007) waren nämlich keine Ausschlussgründe vorgesehen, insbesondere nicht für Fälle von höherer Gewalt. Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied bereits 2013, dass Bahnreisende selbst bei höherer Gewalt einen Anspruch auf die Entschädigung haben.
Doch so einfach ist es künftig nicht mehr. Am 7. Juni dieses Jahres trat eine neue EU-Verordnung in Kraft (Verordnung (EU) Nr. 2021/782). In bestimmten Situationen schulden Bahnbetriebe keine Entschädigung mehr. Das gilt unter anderem dann, wenn außergewöhnliche Umstände zur Verspätung geführt haben. Darunter sind beispielsweise extreme Wetterbedingungen oder große Naturkatstrophen zu verstehen. Auch die Corona-Pandemie findet sich zumindest indirekt in der Verordnung wieder, da schwere Krisen im Bereich der öffentlichen Gesundheit ebenfalls eine Entschädigung ausschließen. Bei Herbststürmen oder typischerweise jährlich stattfindenden Überflutungen soll der Anspruch dagegen bestehen bleiben.
Daneben wurden noch zwei weitere Fallgruppen eingeführt. Das Bahnunternehmen muss keine Entschädigung zahlen, wenn der Zug durch ein Verschulden des Fahrgasts oder das Verhalten eines Dritten verspätet ist. Zum Verhalten Dritter zählen eine Reihe von Ereignissen, die auch hierzulande den Alltag im Zugverkehr prägen: Personen im Gleis, Kabeldiebstähle, Notfälle im Zug. Ist der Zug verspätet, weil er irrtümlich umgeleitet oder er an einem Bahnhof versehentlich nicht hält, muss die Bahn weiterhin entschädigen. Das gilt auch bei Signalstörungen oder einer Überlastung des Schienennetzes. Wer sie verursacht hat, ob andere Bahnunternehmen oder ein Infrastrukturbetreiber, ist unerheblich. Die Bahn steht dafür trotzdem ein. Ebenso wenig unterfallen Personalstreiks dem Ausschlussgrund, wie die Verordnung klarstellt.
Warum die Reform? Bahnunternehmen fühlten sich benachteiligt
Weshalb sich der europäische Gesetzgeber zu der Änderung entschloss, geht aus der Verordnung selbst nicht hervor. Die Erwägungsgründe sprechen sogar von einem verbesserten Schutz der Fahrgäste und gestärkten Rechten bei Zugverspätungen. Eine Antwort findet, wer sich die Mühe macht, den ersten Verordnungsentwurf der EU-Kommission aus dem Jahre 2017 zu lesen. Wegen des EuGH-Urteils aus dem Jahr 2013 hätten sich Bahnunternehmen im Vergleich zu anderen Verkehrsbetrieben diskriminiert gefühlt.
Obwohl die Kommission ausdrücklich keine Belege für eine erhebliche wirtschaftliche Mehrbelastung fand, kam sie den Bahnbetreibern mit der Änderung entgegen. Der Kommission zufolge bestünde nämlich die Gefahr, dass die Grundsätze der rechtlichen Ausgewogenheit und der Verhältnismäßigkeit verletzt würden. Eine Argumentation, der man folgen kann, aber nicht muss. Denn schon im damaligen Urteil machte der EuGH klar, dass es zwischen Verkehrsträgern im Allgemeinen ein unterschiedliches Schutzniveau geben dürfe. Das bekräftigte er noch einmal in einer Entscheidung im Jahr 2021. Habe ein Verkehrsbetreiber andere oder gar mehr Pflichten als sonstige Beförderer, liege darin kein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.
Es ist erstaunlich, dass die von Bahnbetreibern nur „gefühlte“ Diskriminierung bei der EU-Kommission trotzdem auf offene Ohren stieß. Der Vergleich mit anderen Verkehrsmitteln ist irreführend. Bei Flugverspätungen geht es um pauschale Schadensersatzansprüche für Verspätungen in Höhe von 250, 400 oder 600 Euro, und zwar unabhängig vom Ticketpreis. Das Bahnmodell sieht nur einen Fahrpreisnachlass vor, also eine Minderung des Reisepreises. Es wäre durchaus naheliegend, auch bei der Frage, unter welchen Umständen entschädigt werden muss oder nicht, zwischen Minderungs- und Schadensersatzrechten der einzelnen Verkehrsmittel zu unterscheiden.
Außergewöhnliche Umstände, außergewöhnliche Widersprüche
Die Kommission bemüht zur Begründung auch einen Verweis auf die neue Pauschalreise-Richtlinie. Dort müssten Veranstalter keine Entschädigung zahlen, wenn außergewöhnliche Umstände zu Verspätungen führen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Der Schadensersatzanspruch verfügt über entsprechende Ausschlussgründe für diese Ereignisse, das Minderungsrecht aber gerade nicht. Damit führt eine verspätete Beförderung im Rahmen der Pauschalreise weiterhin zu einem geminderten Reisepreis. Ob außergewöhnliche Umstände vorliegen, bleibt unberücksichtigt.
Entweder sind diese Abweichungen für die EU-Kommission irrelevant oder sie wurden schlicht übersehen. Sind Bahnfahrten Bestandteil einer Pauschalreise, wie beispielsweise beim Zug-zum-Flug-Ticket bzw. dem „Rail & Fly“, kann der Kunde gegenüber dem Reiseveranstalter eine Preisminderung durchsetzen. Das gilt selbst bei Verspätungen durch außergewöhnliche Umstände wie große Unwetter. Wer die Bahnfahrt selbst bucht, soll vom Bahnunternehmen in solchen Fällen nun keinen Fahrpreisnachlass mehr verlangen dürfen. Diese Wertungswidersprüche sind kaum erklärbar. Sie sprechen dafür, dass die Kommission den Bahnbetreibern entgegenkam, ohne die Interessen der Fahrgäste ausreichend zu berücksichtigen.
Zumindest hätte die EU-Kommission im Gegenzug die sogenannte Bagatellgrenze von 4 Euro streichen können, unterhalb derer die Bahn eine Entschädigung nicht auszahlen muss. Dieses Relikt aus der ehemaligen Verordnung behielt der Gesetzgeber aber bei.
Die Gerichte werden künftig viele Einzelfälle klären müssen
Durch die neuen Entlastungsgründe droht dem Bahnverkehr ein ähnliches Schicksal wie dem Flugsektor. Dort verfällt die EuGH-Rechtsprechung speziell zu den außergewöhnlichen Umständen angesichts zahlloser Vorabentscheidungsersuchen nationaler Gerichte bereits heute in eine unübersichtliche Einzelfallkasuistik. Vom Vogelschlag über verschiedene Wetterbedingungen bis hin zum Tod des Piloten. Es verwundert daher nicht, wenn Vorabentscheidungsersuchen u.a. zur Fluggastrechte-Verordnung perspektivisch auf das Gericht der Europäischen Union (EuG) verlagert werden sollen.
Eine Zunahme von Gerichtsentscheidungen ist auch im Bahnverkehr zu befürchten. Einige Fallgruppen lassen sich aus der Rechtsprechung zur Fluggastrechte-Verordnung übertragen. So zeigt sich der EuGH bei technischen Defekten im Allgemeinen sehr streng. Welche Wetterbedingungen aber bei einer Bahnfahrt noch typisch oder schon außergewöhnlich sind, darüber kann man trefflich streiten. Nicht selten kommt es ferner zu Verspätungen durch „verspätetes Personal aus vorheriger Fahrt“ oder durch einen vorausfahrenden Zug. Haben außergewöhnliche Umstände die andere Bahnfahrt verzögert, stellt sich die Frage, ob und wenn ja, für wie viele Folgefahrten sich die Bahn auf den Ausschlussgrund berufen kann. Das ist selbst bei der Fluggastrechte-Verordnung nicht endgültig geklärt. Auch die in der Verordnung genannten Fallbeispiele werfen Fragen auf. Strafverfolgungsmaßnahmen sollen als Verhalten Dritter die Entschädigung ausschließen. Das ist bei Polizeieinsätzen wegen randalierender Passagiere nachvollziehbar. Doch was ist, wenn Bahnmitarbeiter die Polizei verständigen, weil ein Reisender keinen Fahrschein hat? Zählt das zum Verhalten Dritter, das die Bahn nicht abwenden und dessen Folgen es nicht verhindern konnte? Hier werden die Gerichte wie bei den Fluggastrechten von Fall zu Fall entscheiden müssen.
Bisher gab es wenig Rechtsprechung zum Fahrpreisnachlass im Bahnverkehr. Das frühere Modell der Entschädigung galt nämlich als unkompliziert. Es bedurfte nur mindestens 60 Minuten Verspätung, Ausschlussgründe gab es nicht. Legal-Tech-Unternehmen hatten es deshalb im Bahnsektor schwieriger als im komplexen Flugverkehr, bei dem es Streit mit Airlines über außergewöhnliche Umstände gibt. Die neue Bahn-Verordnung kann einen Aufschwung für Start-ups bedeuten, die sich schon heute auf den Bahnverkehr konzentrieren. Das wäre ein Vorteil für Reisende, die wegen des Prozessrisikos und einer eher geringen Entschädigung nicht selbst klagen würden.
Es darf mit Spannung erwartet werden, wie sich insbesondere die Deutsche Bahn zu den Neuregelungen positionieren wird. Das Unternehmen könnte Fahrgästen weiterhin umfassendere Rechte anbieten, Marketing-Chefin Stefanie Berg sprach gegenüber dem Spiegel von kulanten Regelungen. Wie diese Kulanz im Einzelnen aussehen wird, bleibt abzuwarten.
Dr. Rudi Ruks ist Wissenschaftsmanager an der Universität Bielefeld und Habilitand am dortigen Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales Privat-, Verfahrens- und Wirtschaftsrecht. Er befasste sich in seiner Dissertation mit der Haftung für außergewöhnliche Umstände im europäischen Reiserecht. Die Arbeit wurde mit zwei Dissertationspreisen ausgezeichnet.
Neue EU-Verordnung zu Fahrgastrechten: . In: Legal Tribune Online, 10.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51958 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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