In der Spiegel Bestseller-Liste steht das Buch von Heinz Buschkowsky (SPD) bereits eine Woche nach seinem Erscheinen auf Platz eins. Die Thesen des Neuköllner Bezirksbürgermeisters polarisieren. Anders als Sarrazin hantiert er nicht nur mit Statistiken, sondern setzt ein bildzeitungstaugliches Zitat neben das andere. Ein Buch, das auch Juristen lesen sollten, empfiehlt Arnd Diringer.
Um das Wichtigste vorwegzunehmen: Das Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung und soll es auch ausdrücklich nicht sein. Ein juristisches Lehrbuch ist es schon gar nicht. Gerade deshalb hat es aber nicht nur für die dringend notwendige politische und gesellschaftliche Diskussion einen besonderen Wert, sondern auch für die Rechtswissenschaft und -praxis.
Denn Buschkowskys Darstellung basiert nicht nur auf Zahlen und Statistiken, sondern vor allem auf den Alltagserlebnissen in seinem Bezirk. Der Politiker erzählt von den Erfahrungen der Lehrer, Polizisten, Erzieherinnen und anderer "ganz normaler Bürger" und gibt ihren Problemen eine Stimme – eine Stimme, die in Politik sowie Medien und leider auch in der Juristerei nur allzu oft fehlt.
Dabei durchzieht eine Kernthese das gesamte Werk: Das Zusammenleben von Menschen kann nur gelingen, wenn sich alle an die geltenden Gesetze halten und der Bruch staatlicher Normen sanktioniert wird.
"Wand des Schweigens wie in der ehemaligen DDR"
Eigentlich eine Selbstverständlichkeit möchte man meinen. Buschkowsky aber meint, dass Politiker ebenso wie der Gesetzgeber und die Justiz diese Selbstverständlichkeit in Frage stellen.
Allein schon die Aussage, dass in Deutschland deutsche Sitten und Gesetze gelten, würde von der "organisierten Linksempörung" mit Repressionen bedacht. Wer so etwas ausspreche, sei "mindestens ein deutschtümelnder Konservativer, wenn nicht gar ein Rassist und Neonazi". Durch diese ständige Einschüchterung sei eine "Wand des Schweigens wie in der ehemaligen DDR" entstanden.
Während damals die Staatssicherheit eine Drohkulisse aufgebaut habe, sei es heute "ein Kartell aus ideologischen Linkspolitikern, Gutmenschen, Allesverstehern, vom Beschützersyndrom Geschädigten und Demokratieerfindern, das den Menschen das Recht abspricht zu sagen, was sie denken". Das ist eine geradezu verheerende Feststellung für einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, für den die freie Meinungsäußerung schlechthin konstituierend und eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt ist – um mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts zu sprechen.
Gesetzgebung "zurück auf dem Weg zu Fred Feuerstein"
Existenziell sei, dass ausschließlich und ausnahmslos die Parlamente bestimmten, was Gesetz werde. Keinesfalls dürfe sich dies auf die Straße, in Hinterzimmern oder Religionsschulen verlagern. Tatsächlich aber, so der Bezirksbürgermeister, seien Selbstjustiz, Scharia-Richter sowie deren Vollstrecker längst Realität.
Begünstigt würden solche Entwicklungen auch dadurch, dass selbst der Gesetzgeber zuweilen vor dem Rechtsbruch kapituliere. Buschkowsky verweist auf das Personenstandsrechtsreformgesetz (PStRG), mit dem das Parlament das Verbot aufhob, eine Ehe ausschließlich nach religiösen Regeln einzugehen. Dies habe nicht nur die religiösen Viel- und Kinderehen legalisiert, sondern den betroffenen Ehefrauen familien- und erbrechtliche Rechte wie Unterhalts- und Pflichtteilsansprüche genommen. Für den Neuköllner Bezirksbürgermeister war das "gleichstellungspolitisch ein riesiger Schritt zurück zu Fred Feuerstein".
Bedenklich seien dabei vor allem die Gründe, die die Bundesregierung zu der Gesetzesinitiative veranlasst haben. Auf eine Kritik des Bundesrats hat die Bundesregierung ausgeführt, dass "andere (Anmerkung: als die katholische und evangelische Kirche) in Deutschland vertretene Religionsgemeinschaften trotz wiederholten Hinweises durch verschiedene deutsche Stellen nicht dazu bewegt werden konnten, ihre Eheschließungspraxis nach den §§ 67, 67a PStG auszurichten". Daher sollte die "im Verhältnis zu den beiden großen Kirchen nicht erforderliche und sonst offenbar wirkungslose Vorschrift" wegfallen. Eine durchaus erstaunliche Argumentation, mit der man auch rechtfertigen könnte, das Steuer- und Strafrecht abzuschaffen.
"Praxisfremde Gutmenschen-Richter" behindern Polizeiarbeit
Buschkowsky schildert auch, dass die Polizei bei bestimmten Delikten nicht mehr eingreife, aus Angst vor gewaltsamen Reaktionen. Die Schuld dafür sieht der Politiker aber nicht bei den Streifenbeamten, sondern bei Teilen der Justiz.
Eine Vielzahl von Richtern sei schlicht nicht bereit, die Polizei im erforderlichen Maß zu unterstützen. Was ein Polizist in manchen Situationen über sich ergehen lassen müsse und wie er unter diesen Voraussetzungen das Recht überhaupt durchsetzen können soll, interessiere solche "praxisfremden Gutmenschen-Richter" nicht.
Ähnlich deutlich beschreibt der Autor die oftmals völlig verquere Sicht der Strafrichter und Staatsanwälte. Die Justiz sehe bei Straftaten zwar stets den Täter, übersehe aber häufig, dass es auch Opfer gebe. Buschkowsky verweist dabei auf die Äußerungen seines Parteifreunds und ehemaligen Innensenators Ehrhart Körting (SPD), der für einen Skandal sorgte, als er Anfang 2007 dem Nachrichtenmagazin Focus sagte, dass für die Gewaltmisere auch die "Allesversteher und -verzeiher" unter den Richtern mitverantwortlich seien. Diesen gehe es, so Körting, nur um die Psyche der Täter, die Psyche der Opfer sei "etlichen Richtern scheißegal". Es spreche nicht gerade für die Kritikfähigkeit der Richterschaft, dass dies zu einem Aufruhr geführt hatte, kommentiert der Neuköllner Bezirksbürgermeister deren Reaktion heute.
Lebensrealität der Juristen ist eine andere
"Schreiben Sie alles auf. Es soll später keiner sagen können, er hätte es nicht gewusst", forderten Bürger den Politiker auf. Dies habe ihn dazu gebracht, das Buch zu schreiben.
Wirklichkeitsverweigerung und Lebenslügen unter der Überschrift "Weil nicht sein kann, was nicht sein darf" sind indes nicht nur eine beliebte Spielart der Political Correctness wie Buschkowsky meint. Sie hängen auch wesentlich damit zusammen, dass die Lebensrealität von Politikern und Journalisten, aber auch von vielen Richtern und Rechtswissenschaftlern eine völlig andere ist, als die der Menschen, über die der Bürgermeister berichtet. Neukölln ist eben doch nicht überall – zumindest noch nicht.
Über Buschkowskys Wortwahl kann man sich natürlich ebenso streiten wie über seine Problemdarstellung und seine Lösungsvorschläge, in denen sich von Kindergartenpflicht und Ganztagsschulen bis hin zu der Forderung nach mehr Einwanderung die gesamte Palette sozialdemokratischer Gesellschaftspolitik wiederfindet. In jedem Fall hat er, wie das Nachrichtenmagazin Der Spiegel es ausdrückt, "ein menschliches und schlaues Buch geschrieben", das sich zu lesen lohnt.
Der Autor Prof. Dr. Arnd Diringer hat eine Professur für Zivil- und Strafrecht an der Hochschule Ludwigsburg und leitet dort die Forschungsstelle für Personal und Arbeitsrecht. Vor seiner Berufung war er u.a. als Leiter Zentrale Dienste Arbeits- und Tarifrecht einer privaten Klinikgruppe und Leiter Personal eines Versicherungsunternehmens tätig. Er ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen.
Arnd Diringer, Buschkowskys Buch "Neukölln ist überall": . In: Legal Tribune Online, 28.09.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7201 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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