Staatsorganisationsrecht des Iran: Ein Wäch­terrat voller Macht

Gastbeitrag von Prof. Dr. Nadjma Yassari, LL.M.

26.10.2022

Im Iran nehmen Frauen ihre Kopftücher ab – und machen sich so nach dort geltendem Recht strafbar. Welche Normen dies vorgeben und wie die staatlichen Institutionen rechtlich legitimiert sind, erklärt Nadjma Yassari.

Nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini reißen die Proteste im Iran nicht mehr ab. Die Frau war Mitte September von der Sittenpolizei wegen ihres "unislamischen Outfits" festgenommen worden. Seitdem gehen Menschen auf die Straßen, 130 Personen sollen inzwischen umgekommen sein.

Zwar ist die Versammlungsfreiheit in der Verfassung der islamischen Republik Iran verbrieft, Demonstrationen sind aber nur dann erlaubt, wenn sie sich nicht gegen die Grundsätze des Islams richten. Diese zu definieren ist Aufgabe des Obersten Rechtsgelehrten, auch rahbar genannt. Er steht im Mittelpunkt der Verfassung.

Die Figur geht auf Ayatollah Khomeini zurück. Der Begriff "Ayatollah" ist der höchste Titel eines schiitischen Geistlichen. Schon in den 1950er Jahren hatte sich Khomeini gegen die Monarchie und für die Einrichtung eines islamischen Staates ausgesprochen. 1965 wurde er verbannt und hielt sich zunächst in der Türkei auf bis Mohammad Reza Schah Pahlavi, der damalige iranische Schah ihm erlaubte, nach Nadjaf zu gehen. Im irakischen Exil predigte er eine Abkehr von der in der schiitischen Lehre herrschenden Meinung, die eine aktive Beteiligung der schiitischen Geistlichkeit in der Politik ablehnte. Khomeini hingegen betrachtete es als Pflicht der Geistlichkeit, eine aktive Rolle im politischen Handeln zu übernehmen und einen auf religiösen Grundlagen basierenden Staat zu errichten. Die Leitung des Staates müsse von einer Person ausgeübt werden, so Khomeini, die die Erfahrung, das Wissen und die Fähigkeit besitze, die göttlichen Gesetze zu erkennen, sie auszulegen und sie islamkonform anzuwenden.

Islamischer Rechtsgelehrter religiös legitimiert

Diese Person ist der rahbar, seine Stellung ist somit religiös legitimiert. Khomeini selbst übte das Amt nach der Revolution und dem Sturz des letzten Schahs, Mohammad Reza, von 1979 bis 1989 aus. Der rahbar steht an der Spitze der Verfassung, über dem Präsidenten und dem Parlament, den beiden Organen, die direkt vom Volk gewählt werden. Seine Machtbefugnisse sind gewaltig: Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, besitzt das Recht zur Kriegserklärung, ernennt und entlässt u.a. den Leiter der Judikative und den Leiter der staatlichen Medien. Seiner Kontrolle unterliegen die Sicherheitsapparate, die Revolutionsgarden und die für die iranische Wirtschaft außerordentlich bedeutenden religiösen Stiftungen.

Diese Verfassungsordnung, das Produkt der Revolution von 1979, konstituiert somit eine hybride Staatsform mit demokratisch-republikanischen und theokratisch-autoritären Elementen. Dieser Antagonismus zwischen "islamisch" und "Republik" äußert sich bereits im Staatsnamen, der amtlich "Islamische Republik Iran" lautet.
Die Parallelität staatstheoretischer Strukturen findet ihre Fortsetzung in der Dualität der Institutionen. Neben den regulären staatlichen Strukturen gibt es analoge Institutionen, die teils parallel zu den regulären bestehen, teils ihnen übergeordnet sind. So existieren neben den regulären Streitkräften paramilitärische Organisationen wie die Revolutionsgarden (sepah-e pasdara) oder die Mobilisierungskräfte (basidj). Entstanden sind sie im Zuge der Revolution als Gegengewicht zur regulären iranischen Armee, deren revolutionäre Loyalität von Khomeini angezweifelt wurde. Die basidj ist eine inoffiziell eingesetzte Miliz, die sich aus Freiwilligen rekrutiert und organisatorisch der Revolutionsgarde zugeordnet ist. Die Mitglieder der basidj fungieren als Sicherheitskräfte, die auch zur Verfolgung von Regimegegnern eingesetzt werden.

Wer hat Gesetzgebungskompetenz im Iran?

Das Recht, Gesetze zu erlassen, steht dem Parlament zu. Das bestimmte die erste iranische Verfassung von 1906 ebenso wie die derzeit geltende von 1979. In beiden Verfassungen war dieses Recht jedoch eingeschränkt: Beide sahen ein Gremium vor, das die Konformität aller Gesetzesentwürfe mit den Grundsätzen des islamischen Rechts zu prüfen hatte.

Während aber ein solches Gremium durch die Regierungen der Pahlavi-Dynastien nie errichtet wurde, wurde 1979 der sogenannte Wächterrat ins Leben gerufen und entfaltet seither als eine Art religiöses Verfassungsgremium eine enorme Machtfülle.

Das Gremium setzt sich aus sechs – vom rahbar ernannten – Geistlichen und sechs vom Parlament ernannten Juristen zusammen. Da deren Wahl im Parlament eine Empfehlung durch den Leiter der Judikative vorausgeht, der seinerseits vom rahbar ernannt wird, stellt der Wächterrat eine der stärksten Bastionen des konservativen Lagers in Iran dar. Der Wächterrat prüft alle vom Parlament verabschiedeten Gesetze auf Konformität mit dem islamischen Recht. Das Parlament kann ein abgelehntes Gesetz in überarbeiteter Form wieder einreichen. Bleibt der Wächterrat bei seiner ablehnenden Entscheidung, wird ein weiteres Organ, der sogenannte Schlichtungsrat, eingeschaltet, der als letzte Instanz über das Schicksal des Gesetzes entscheidet. Allerdings werden alle Mitglieder des Schlichtungsrates vom rahbar ernannt; der inhaltliche Spielraum bleibt somit eng. Der rahbar ist seit dem Tod von Ayatollah Khomeini 1989 der heute 83-jährige Ayatollah Ali Khamenei.

Recht ist umfassend kodifiziert

Das Recht ist in allen Rechtsbereichen umfassend kodifiziert, so etwa das Zivilrecht, das Familien- und Erbrecht oder das Strafrecht. Die entsprechenden Gesetzestexte basieren weitgehend auf den Regelungen des zwölfer-schiitischen Rechts, zum Teil sind aber auch Bestimmungen aus dem französischen, belgischen oder deutschen Recht übernommen worden.

Die iranischen Gerichte müssen auf der Grundlage dieser Gesetze Recht sprechen. Die Bindung der Rechtsprechung an das Gesetz ist somit formal gewahrt. Inhaltlich verwirklicht das materielle Recht allerdings eine auf patriarchalischen Geschlechterrollen basierende Ordnung: Der Ehemann und Vater hat die Familie zu versorgen und ist ihr Oberhaupt, die Ehefrau schuldet Gehorsam und soll vor allem in ihrer Stellung als Mutter im Innenverhältnis wirken.

Diese Grundannahmen über die Rolle von Mann und Frau spiegeln allerdings nicht mehr die Lebenswirklichkeiten iranischer Familien wider. Durch den Anstieg der (insb. weiblichen) Alphabetisierungs- und Erwerbstätigkeitsrate, durch Landflucht und Arbeitsmigration sowie durch die allmähliche Auflösung großer Familienverbände verschiebt sich der Blick auf die zugedachten gesellschaftlichen Rollen. Immer mehr ausgebildete Frauen drängen auf den Arbeitsmarkt, ihr Beitrag zum Familienunterhalt wird immer unentbehrlicher. Das wirkt sich nachhaltig auf die Struktur und den Aufbau der Familie aus. Das Ideal eines versorgenden Ehemannes und einer gehorsamen Ehefrau bröckelt.

Vom Verschleierungsverbot zum Kopftuchzwang

Noch aber bestehen Kleidervorschriften und insbesondere die Pflicht für Frauen, ein Kopftuch zu tragen. Dabei hatte Reza Schah Pahlavi in seinem Bestreben, die iranische Gesellschaft zu modernisieren – gegen den heftigen Widerstand der Geistlichen – bereits im Jahr 1936 den hejab, also die Verschleierung der Frau, verboten. 1941 wurde dieses Verbot auf Druck konservativer Kreise allerdings aufgehoben. Frauen blieb es danach freigestellt, den hejab zu tragen oder ihn abzulegen.

1983 wurde der Zwang, im öffentlichen Raum einen hejab zu tragen, eingeführt und Verstöße strafrechtlich sanktioniert. Nach Artikel 638 des Strafgesetzbuches darf sich niemand offenkundig in der Öffentlichkeit in unsittlicher Art und Weise verhalten. Das gilt für Männer und Frauen. Wer dagegen verstößt, kann mit einer Freiheitsstrafe von zehn Tagen bis zu zwei Monaten oder mit bis zu 74 Peitschenhieben bestraft werden. Eine Spezialnorm stellt das Nichttragen des "islamischen hejab" unter Haft- bzw. Geldstrafe. Es herrscht ein Konsens unter den Rechtsgelehrten, dass darunter die Verhüllung von Körper und Haar zu verstehen ist.

Die Durchsetzung dieses Gesetzes in den letzten 40 Jahren war ganz unterschiedlich. Mitte 2005 wurden die Strukturen der sogenannten Sittenpolizei konsolidiert. Sie ist ermächtigt, gegen Personen vorzugehen, die die hejab-Vorschriften nicht beachten. Nach einer Studie der wissenschaftlichen Abteilung des iranischen Parlaments hielten sich 2019 rund 70 Prozent der Frauen nicht an den islamischen hejab, die Studie enthält aber keine Daten über die Strafverfolgung dieser Frauen. Nach den Protesten der letzten Wochen sieht die Regierung zurzeit von einer Durchsetzung der Kleidungsvorschriften eher ab. Medienberichten zufolge zeigen sich Frauen ohne hejab in Cafés und öffentlichen Plätzen. Solange aber die Rechtslage nicht angepasst wird, ist eine Rückkehr zu einer rigorosen Durchsetzung nicht auszuschließen.

Die Autorin Prof. Dr. Nadjma Yassari, LL.M. ist Leiterin der Forschungsgruppe "Das Recht Gottes im Wandel - Rechtsvergleichung im Familien- und Erbrecht islamischer Länder" am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht in Hamburg und unterrichtet islamisches Recht an der Universität Hamburg.

Zitiervorschlag

Staatsorganisationsrecht des Iran: . In: Legal Tribune Online, 26.10.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49991 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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