Prof. Dr. Ulrike Lembke zu § 219a und § 218 StGB: "Frauen haben keine Gebärpf­licht"

Interview von Dr. Christian Rath

17.01.2022

Die Ampel-Koalition will das Delikt "Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft" abschaffen und ist bereit, auch über größere Reformen zu reden. Rechtsprofessorin Ulrike Lembke fordert die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs.

LTO: Frau Professorin Lembke, wohl an diesem Montag wird Justizminister Marco Buschmann (FDP) einen Referentenentwurf zur Streichung von § 219a Strafgesetzbuch vorlegen. Wie groß ist Ihre Vorfreude?

Prof. Dr. Ulrike Lembke: Meine Freude ist angemessen, aber nicht euphorisch. Die Kriminalisierung von Ärzt:innen, die darüber informieren, dass und mit welchen Methoden sie Schwangerschaftsabbrüche anbieten, ist verfassungswidrig. Dieses Sonderstrafrecht für Ärzt:innen verschärft die angespannte Versorgungslage und ist auch angesichts des bestehenden ärztlichen Werberechts überflüssig und unverhältnismäßig.

Ist es aus Ihrer Sicht nicht ein beeindruckendes Signal, dass Buschmann gleich mit seinem ersten strafrechtlichen Gesetzentwurf eine Entkriminalisierung im Abtreibungsrecht auf den Weg bringt?

Unter "Entkriminalisierung im Abtreibungsrecht" würde ich etwas Anderes verstehen. Und letztlich wird hier nur ein Versprechen eingelöst, bei dem es keinerlei Dissens zwischen SPD, Grünen und FDP gibt. Alle drei Regierungsfraktionen haben sich in der vergangenen Legislaturperiode und in ihren Wahlprogrammen für eine Streichung von § 219a ausgesprochen. Die SPD ist natürlich besonders unter Zugzwang...

Warum?

Weil es nicht zu ihrem Ansehen beigetragen hat, dass sie sich bei § 219a und damit einem klar frauenrelevanten Thema in der großen Koalition nicht gegen die CDU/CSU durchsetzen konnte oder wollte.

"Wie soll die Kriminalisierung dieser Sachinformationen gerechtfertigt werden?"

Ärzt:innen dürfen seit 2019 mitteilen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen, aber sie dürfen nicht über die Methoden informieren.

Genau. Die Berliner Frauenärztin Bettina Gaber wurde verurteilt, weil auf ihrer Webseite der Satz stand: "Auch ein medikamentöser narkosefreier Schwangerschaftsabbruch in geschützter Atmosphäre gehört zu unseren Leistungen." Wie soll die Kriminalisierung dieser Sachinformation gerechtfertigt werden?

Wieviele Verfassungsbeschwerden sind wegen § 219a StGB in Karlsruhe anhängig?

Soweit ich weiß, haben die Frauenärztinnen Bettina Gaber und Kristina Hänel Verfassungsbeschwerde gegen ihre jeweilige strafrechtliche Verurteilung mit impliziter Prüfung von § 219a erhoben.

Was passiert nun mit diesen beiden Verfahren, wenn der Gesetzgeber § 219a StGB abschafft?

Die Verfahren haben sich dann nicht erledigt. Die Strafurteile sind rechtskräftig. Eine Wiederaufnahme ist nicht vorgesehen, da die Rechtslage zum Zeitpunkt der Verurteilung gilt. Das BVerfG könnte daher auch nachträglich feststellen, dass § 219a verfassungswidrig war. Vorzugswürdig wäre wohl, wenn der Gesetzgeber die Streichung von § 219a mit der Aufhebung der Urteile verbindet.

Haben Sie keine Angst, dass das BVerfG den § 219a als unverzichtbare Norm zum Schutz des ungeborenen Lebens einstuft?

§ 219a ist unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig. Da lässt sich durch "Paketargumente" nichts retten.

Die beiden Verfassungsbeschwerden liegen aber beim Zweiten Senat, der in Abtreibungsfragen 1975 und 1993 sehr konservativ entschieden hat. Sollten die Ärztinnen nicht besser ihre Verfassungsbeschwerden zurücknehmen, wenn der Gesetzgeber § 219a gestrichen hat?

In den Entscheidungen ging es um das Gesamtkonzept der Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, § 219a spielte gar keine Rolle. Das Ergebnis einer erstmaligen intensiven Überprüfung dieser Strafnorm ist heute offen. Darum geht es aber doch gar nicht - und das BVerfG wäre auch durch eine Rücknahme der Verfassungsbeschwerden nicht aus dem Spiel.

Wieso nicht? Und worum geht es eigentlich?

Gegen die gesetzliche Streichung von § 219a könnten Landesregierungen oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages eine abstrakte Normenkontrolle beantragen. Und mit dem Argument, dass § 219a integraler Bestandteil der Gesamtregelung sei und deshalb nicht isoliert aufgehoben werden könne, lässt sich dann die eigentliche Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der §§ 218 ff. insgesamt stellen. Nicht nur die katholische Bischofskonferenz mutmaßt, dass die Streichung von § 219a nur der Anfang sein könnte und die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in §§ 218 ff. insgesamt auf den Prüfstand gestellt und durch verfassungskonforme Regelungen ersetzt werden soll.

Das steht doch derzeit gar nicht auf der politischen Tagesordnung...

Aber im Koalitionsvertrag. Dort wird angekündigt, dass eine Kommission "Regulierungen für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches" prüfen soll. Auch gesellschaftliche Debatten gehen in diese Richtung. Im vergangenen Jahr haben diverse zivilgesellschaftliche Akteur:innen aus Anlass des 150-jährigen Bestehens von § 218 (seit 1871 im Reichsstrafgesetzbuch) breite Kritik an der prekären Versorgungslage, der Kriminalisierung medizinischer Dienstleistungen und der Ignoranz gegenüber rechtlichen Entwicklungen in anderen Staaten artikuliert.

Aber sind bisher nicht alle ganz gut mit der so genannten Beratungslösung gefahren? Abbrüche innerhalb der ersten zwölf Wochen bleiben straflos, wenn sich die Schwangere zuvor beraten ließ.

Welche Beratungslösung? Die Fristenregelung mit Beratungspflicht, welche der Bundestag am 26. Juni 1992 als Ergebnis jahrelanger Aushandlungsprozesse im Zuge der Deutschen Einheit verabschiedet hatte, wurde vom BVerfG ja 1993 aufgehoben. Seit 1995 ist diese BVerfG-Entscheidung umgesetzt. Danach hat jede ungewollt Schwangere in Deutschland eine Austragungspflicht und der Schwangerschaftsabbruch ist unter bestimmten Umständen zwar straffrei, aber zugleich ein rechtswidriges Tötungsdelikt.

"Sie können betroffene Frauen ja mal fragen, ob ihnen die Austragungspflicht egal ist"

Mal ehrlich, heute weiß doch gar niemand mehr, dass der Schwangerschaftsabbruch nur straflos ist und nicht rechtmäßig.

Sie können betroffene Frauen ja mal fragen, ob ihnen Austragungspflicht, Kriminalisierung und Stigmatisierung egal sind. Öffentliche Wortmeldungen gibt es dazu kaum - was merkwürdig ist, wenn alles so problemlos läuft. Vor allem aber sind Ärzt:innen, medizinisches Personal und Kliniken sehr genau über die Rechtslage im Bilde. Wie § 219a zeigt, droht ihnen selbst Kriminalisierung. Und (privatisierte) Kliniken begreifen ihren Versorgungsauftrag nicht so, dass er auch Leistungen umfassen muss, die primär im Strafgesetzbuch geregelt sind. Die Zahl der Praxen und Kliniken, welche einen Schwangerschaftsabbruch durchführen, ist in Deutschland in den vergangenen Jahren dramatisch gesunken. In vielen Gegenden gibt es keinen Zugang zu dieser zentralen medizinischen Dienstleistung mehr.

Sind es nicht vor allem die radikalen Abtreibungsgegner:innen, die Ärzt:innen und Kliniken das Leben schwer machen, weshalb sich viele entnervt zurückgezogen haben?

Natürlich ist diese permanente Hetze, auch vor Kliniken, Arztpraxen und Beratungsstellen, ein großes Problem. Deshalb ist es gut, wenn die Koalition nun mit gesetzlichen Maßnahmen gegen "Gehsteigbelästigungen" vorgehen will. Aber letztlich kann der Versorgungsauftrag nur mit einer Entkriminalisierung sichergestellt werden. Der Schwangerschaftsabbruch muss als medizinische Dienstleistung anerkannt und von den Krankenkassen bezahlt werden. Kliniken müssen ihren Versorgungsauftrag erfüllen. Berater:innen und Ärzt:innen dürfen nicht unter Strafandrohung stehen, wenn sie die reproduktive Gesundheit von Frauen* sichern.

Aber selbst, wenn es hierfür eine politische Mehrheit gäbe, dann widerspräche eine Streichung von § 218 doch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

Es gibt keine aktuelle Rechtsprechung. Die Entscheidungen zum Schwangerschaftsabbruch sind 45 und knapp 30 Jahre alt, die Grundrechtsdogmatik hat sich durchaus weiterentwickelt. In der Rechtswissenschaft steht eine verfassungsrechtliche Diskussion, welche diesen Entwicklungen Rechnung trägt, noch ganz am Anfang. Angesichts des "Machtworts" aus Karlsruhe werden häufig auch die zeitgenössischen Konflikte und Verwerfungen übersehen: Das BVerfG hat 1975 mit 6 zu 2 Stimmen und 1993 mit 5 zu 3 Stimmen entschieden. Und gerade die zweite Entscheidung von 1993 entfaltet dogmatisch kaum Überzeugungskraft.

Was bemängeln Sie?

Das BVerfG geht von einer staatlichen Schutzpflicht für den Embryo aus, welche der Staat erfüllt, indem er der ungewollt Schwangeren eine Austragungspflicht auferlegt. Dies beruht auf der Annahme, wir hätten ein klassisches Dreiecksverhältnis, in dem sich der Staat schutzbereit zwischen zwei Private wirft. Embryo und Schwangere sind aber (zumindest vor der 22. Woche) nicht trennbar. Diese Problematik wurde schon im Sondervotum 1975 angemerkt. Wenn der Staat ein Dreieck fingieren will, muss er sich in den Uterus der Schwangeren drängen. Dogmatisch entscheidend ist für mich aber ein anderes Argument.

Welches?

Selbst wenn ein Dreiecksverhältnis unterstellt wird, ist es falsch, in direkter Gegenüberstellung pauschal den Rechten des Embryos vor denen der Schwangeren den Vorzug zu geben. Der staatlichen Schutzpflicht mit Untermaßverbot korrespondiert der staatliche Eingriff mit Übermaßverbot. Beide sind präzise zu prüfen, was bislang unterblieben ist. Im Rahmen des geltenden Verfassungsrechts kann der Staat der ungewollt Schwangeren keine Austragungspflicht auferlegen. Das wäre ein beispielloser und nicht zu rechtfertigender Eingriff in die körperliche Integrität. Ob eine Frau ein Kind bekommen möchte, ist zudem eine höchstpersönliche Entscheidung, geschützt von Persönlichkeitsrecht, Intimsphäre, Recht auf Familienplanung, personaler Autonomie. Eine Pflicht, die nur Frauen treffen kann, ist außerdem diskriminierend. Schließlich steht auch die Menschenwürde auf dem Spiel, wenn die Schwangere vom Staat zum Objekt der Erfüllung seiner Schutzpflicht gemacht wird.

"Frauen haben keine Gebärpflicht"

Ihre Schlussfolgerung?

Eine Austragungspflicht ist verfassungswidrig. Frauen haben keine Gebärpflicht. Im Rahmen unserer Verfassungsordnung lässt sich dies nicht begründen und erst recht nicht mit strafrechtlichen Mitteln durchsetzen.

Wie soll es jetzt weitergehen?

Die angekündigte Kommission sollte ihre Arbeit aufnehmen. Eine Überprüfung der Rechtslage sollte aktuelle verfassungsrechtliche Entwicklungen, Rechtsvergleich und menschenrechtliche Ebene nicht aussparen. Um reproduktive Gesundheit zu verwirklichen, müssen Schwangerschaftsabbrüche durchaus geregelt werden, aber nicht wie bisher. Zugang zu Informationen, ein plurales Beratungsangebot und Schwangerschaftsabbrüche nach medizinischen Standards sind im internationalen menschenrechtlichen Diskurs anerkannt. Knapp 30 Jahre nach dem Ende der Debatten durch Machtwort aus Karlsruhe haben jedenfalls Gesetzgeber und Rechtswissenschaft die wesentlichen Diskussionen noch gar nicht wieder begonnen.

Prof. Dr. Ulrike Lembke ist Professorin für Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Fakultät für Rechtswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2020 ist sie auch Richterin des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin.

Zitiervorschlag

Prof. Dr. Ulrike Lembke zu § 219a und § 218 StGB: . In: Legal Tribune Online, 17.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47219 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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