EuGH-Präsident Koen Lenaerts spricht im LTO-Interview u. a. über "seinen" Gerichtshof, den Rechtsstaat in der EU und wichtige, anstehende Verfahren. Und er erläutert, wie einer "Faszination für das Autoritäre" entgegengewirkt werden kann.
LTO: Herr Prof. Lenaerts, Sie sind gerade für eine zweite Amtszeit zum Präsidenten des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) gewählt worden. Was treibt Sie persönlich an?
Prof. Dr. Koen Lenaerts: Wie so viele andere treibt mich das europäische Projekt an, die dauerhafte friedliche Einigung des europäischen Kontinents. Seit jeher kommt dem Unionsrecht bei der Verwirklichung dieses einzigartigen Projekts eine fundamentale integrative Rolle zu. Dem Schutz dieser Rechtlichkeit der Europäischen Union (EU) habe ich deshalb nicht nur mein Berufsleben als Richter verschrieben, sondern natürlich auch die erste und jetzt die zweite Amtszeit als Präsident des Gerichtshofs.
In einem Interview hat uns die deutsche Justizministerin verraten, dass sich die EU-Justizminister ernsthafte Sorgen um eine Erosion rechtsstaatlicher Standards in Europa machen. Sie selbst haben in Ihrer Europa-Rede in Berlin am 9. November von der "Faszination für das Autoritäre" gesprochen, "die gegenwärtig allerorten in Europa Wurzeln schlage". Sehen Sie den EuGH in der Pflicht, dem entgegenzuwirken?
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gehören zu jenen Werten, auf denen sich die EU gründet. Zu diesen Werten haben sich die Mitgliedstaaten bekannt. Diese Grundwerte müssen jedoch immer wieder in Erinnerung gerufen und mit Leben erfüllt werden, nicht um ihrer selbst willen, sondern um das friedliche Zusammenleben auf lokaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene zu sichern. Dem Gerichtshof kommt im Rahmen seiner Rechtsprechungstätigkeit insoweit die Aufgabe zu, diese Grundwerte zu konkretisieren
In Deutschland plant Frau Barley eine Art Imagekampagne für den Rechtsstaat. Auch gerichtliche Entscheidungen sollen besser erklärt werden. Halten Sie derartiges auch für die europäische Justiz für notwendig?
Auch weiterhin ist und bleibt die beste Erklärung und Werbung für die Bedeutung der europäischen Justiz die hohe Qualität unserer Gerichtsentscheidungen. Sie wird in erster Linie dafür sorgen, den Mehrwert der Rechtsstaatlichkeit in den Köpfen der Menschen dauerhaft zu verankern. Aus diesem Grund ist unsere Rechtsprechung auch in Zukunft das wichtigste Argument für die Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union. Jenseits dieses Arguments halte ich es ganz mit dem englischen Lord Chief Justice Hewart, der schon vor fast 100 Jahren sagte, dass für Gerechtigkeit nicht nur gesorgt werden muss, sondern dass dies auch sichtbar sein muss. Insoweit messen wir der Zugänglichkeit und Sichtbarkeit unserer Rechtsprechung, die auch weiterhin in allen Amtssprachen der EU verfügbar sein wird, allergrößte Bedeutung zu.
Die Herrschaft des Rechts wird weltweit in Zweifel gezogen. In Deutschland gab es in jüngster Vergangenheit Vorfälle, in denen Behörden sogar meinten, bestimmte Gerichtsentscheidungen nicht umsetzen zu müssen. Nicht zuletzt das Bundesverfassungsgericht hat dies scharf kritisiert. Hat der EuGH derzeit die Akzeptanz, die er verdient und die ihm auch formal zusteht?
Wie jedes nationale Gericht hat auch der Gerichtshof die Aufgabe, ihm vorliegende Streitigkeiten zu entscheiden. Im Rahmen kontradiktorischer Verfahren liegt es in der Natur der Sache, dass unterschiedliche Meinungen vertreten werden. Es verwundert darum auch nicht, dass ein Gerichtsurteil selten alle Beteiligten gleichermaßen zufrieden stellt. Gleichwohl sind sich doch alle einig, dass es in unserer Gesellschaft einer friedlichen Streitbeilegung durch unabhängige Gerichte bedarf. Dabei ist entscheidend, dass die Urteile die getroffene richterliche Entscheidung nachvollziehbar erklären und damit Rechtsfrieden schaffen.
Wenn nun den Urteilen eines Gerichts von Seiten der Exekutive die Gefolgschaft verwehrt wird, stehen wir in der Tat vor einem elementaren Problem. Denn dadurch wird an dem gesellschaftlichen Grundkonsens über die Vorzüge von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung gerüttelt. Für eine sinkende Akzeptanz unserer Entscheidungen sehe ich allerdings nicht auch nur das geringste Anzeichen. Im Gegenteil.
Wie bewerten Sie in diesem Kontext die aktuellen Entwicklungen in Polen? Der EuGH hat kürzlich in einem vorläufigen Verfahren die Anordnung getroffen, dass Polen Regelungen der Justizreform zurücknehmen muss. Das Hauptverfahren läuft noch, aber es sieht danach aus, dass Polen zumindest Teile seiner Reform zurücknimmt.
Da das Verfahren anhängig ist, kann ich mich dazu inhaltlich selbstverständlich nicht äußern. Zum Verfahrensstand kann ich so viel sagen: Auf Antrag der EU-Kommission hat die Vizepräsidentin des Gerichtshofs Polen vorläufig aufgegeben, seine Justizreform vorerst auszusetzen. Vor kurzem hat in diesem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes eine Anhörung vor der Großen Kammer des Gerichtshofs stattgefunden, die jetzt darüber befinden muss, ob es bis zum Abschluss des Verfahrens in der Hauptsache bei dieser einstweiligen Anordnung bleibt. Über den Ausgang eines künftigen Urteils und seine gegebenenfalls erforderliche Umsetzung kann ich hier nicht spekulieren. Klar ist lediglich, dass die Urteile des Gerichtshofs bindend sind und ihre Umsetzung von der EU-Kommission überwacht wird. Sollte die Kommission der Meinung sein, dass ein Urteil von einem Mitgliedstaat nicht umgesetzt wird, kann sie den Gerichtshof erneut anrufen.
Wenn Sie Ihre erste Amtszeit als EuGH-Präsident Revue passieren lassen: Welche Verfahren bzw. welche Entscheidungen des EuGH waren für die rechtsstaatliche Entwicklung Europas aus Ihrer Sicht besonders bedeutsam?
Um nur einige zu nennen: Im Urteil Rosneft vom März 2017 hat der Gerichtshof entschieden, dass nationale Gerichte ihn dazu befragen können, ob von der EU im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erlassene restriktive Maßnahmen mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Im Urteil Associação Sindical dos Juízes Portugueses vom Februar 2018 hat der Gerichtshof den Begriff der Unabhängigkeit der nationalen Gerichte näher umrissen. Und im vergangenen Juli hat der Gerichtshof im Urteil Minister for Justice and Equality auf Nachfrage eines irischen Gerichts präzisiert, unter welchen Bedingungen von der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats abgesehen werden darf. Außerdem hat der Gerichtshof durch zahlreiche Urteile den Grundrechtsschutz in der EU erhöht.
Und welche Verfahren Ihres Gerichtshofs darf man in der nächsten Zeit mit Spannung erwarten?
Am 11. Dezember wird das Urteil zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank (EZB) auf den Sekundärmärkten im Rahmen des PSPP-Programms verkündet, mit dem wir Fragen zur Vorabentscheidung des Bundesverfassungsgerichts beantworten werden. Außerdem beschäftigen wir uns, wie gesagt, in beschleunigten Verfahren derzeit einerseits mit der Justizreform in Polen, andererseits mit der Frage, ob das Vereinigte Königreich seine Absichtserklärung, aus der EU austreten zu wollen, einseitig zurücknehmen kann. In einigen Monaten werden wir erneut über Fragen hinsichtlich des Rechts auf Datenschutz gegenüber der Suchmaschine Google entscheiden und uns mit dem Schutz gegen Hasspostings auf Facebook befassen. Auch Umweltfragen im Zusammenhang mit der Verlängerung der Laufzeit von Atommeilern stehen auf dem Prüfstand. Wie Sie sehen, befassen wir uns mit unionsrechtlichen Fragestellungen aus den unterschiedlichsten Bereichen, von denen viele einen tagesaktuellen und bürgernahen Bezug haben.
In Deutschland beklagen die Länder eine zunehmende Belastung bei Gerichten und Staatsanwaltschaften. Wie ist die Lage bei der europäischen Gerichtsbarkeit? Kommt man beim EuGH mit der Fülle der Verfahren noch gut zurecht?
Auch die Zahl der Verfahren vor dem EuGH steigt stetig. Das ist zum einen erfreulich, weil es ein Zeichen für die Akzeptanz unserer Tätigkeit und für das Funktionieren der Rechtsstaatlichkeit in der Union ist. Zum anderen sind auch wir Haushaltszwängen unterworfen und mussten sogar Personal einsparen. Aus diesem Grund hinterfragen wir fortlaufend sämtliche Abläufe, um die Bearbeitung der eingehenden und anhängigen Verfahren wirksamer auszugestalten. Was das Gericht der Europäischen Union (EuG) betrifft, wurde von den Mitgliedstaaten im Rat und vom Europäischen Parlament beschlossen, die Zahl der dortigen Richterinnen und Richter bis 2019 zu verdoppeln, um die große Zahl der Verfahren effizienter zu bearbeiten. Diese schrittweise Reform zeigt mittlerweile erste Früchte hinsichtlich der durchschnittlichen Verfahrensdauer.
Wie steht es um die Digitalisierung? Sind EuG und EuGH hier gut aufgestellt?
Die Digitalisierung ist selbstverständlich auch beim EuGH als Institution ein großes Thema. Ab dem 1. Dezember erfolgt der Schriftverkehr beispielsweise zwischen dem EuG und den Verfahrensbeteiligten nur noch über die elektronische Anwendung e-curia. Alle Dokumente, von der Klageschrift bis zum Urteil, können nur noch auf diesem Weg eingereicht bzw. zugestellt werden. Auch der EuGH bedient sich dieser Anwendung, allerdings ist ihre Verwendung hier bislang nicht verpflichtend. Intern liegen uns alle Verfahrensakten in digitaler Form vor, und auch bei der internen Bearbeitung bedienen wir uns selbstverständlich elektronischer Datenbanken und Hilfsmittel. Unsere Rechtsprechungssammlung gibt es seit einigen Jahren nur noch in digitaler Form.
Darüber hinaus wurde in diesem Jahr unter Federführung des Gerichtshofs das Justizielle Netzwerk der Europäischen Union ins Leben gerufen, das über eine mehrsprachige elektronische Plattform den Austausch von Informationen und Dokumenten zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Verfassungs- und Höchstgerichten ermöglicht. Auf längere Sicht ist zudem geplant, diese Plattform auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Alles in allem würde ich sagen, dass wir beim Thema Digitalisierung gut aufgestellt sind. Aber natürlich ist gerade dieser Bereich einem ständigen Wandel unterworfen und verlangt somit weiterhin große Aufmerksamkeit.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Interview mit dem EuGH-Präsidenten Koen Lenaerts: . In: Legal Tribune Online, 26.11.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32329 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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