Der IGH wird ein Hauptverfahren gegen Russland eröffnen. Russland hatte Einreden gegen die Zuständigkeit des IGH und die Zulässigkeit der Klage erhoben. Die meisten hatten jedoch keinen Erfolg.
Fünf Tage hatte der Internationale Gerichtshof (IGH) im September im Verfahren der Ukraine gegen Russland verhandelt – jetzt hat er eine erste Entscheidung getroffen: Der Gerichtshof in Den Haag hat eine Klage Kiews gegen Russland weitgehend zugelassen und wird nun ein Hauptverfahren eröffnen. Das höchste Gericht der Vereinten Nationen wies am Freitag die meisten Einwände Moskaus gegen das Verfahren zurück.
Die Konstellation ist durchaus ungewöhnlich: Die Ukraine wirft Russland nicht etwa vor, selbst einen Völkermord zu begehen, sondern die Völkermordkonvention durch falsche Anschuldigungen zu missbrauchen. Denn Russland rechtfertigt seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine unter anderem mit dem Schutz der russischen Minderheit in Donezk und Luhansk vor einem angeblichen Völkermord. Gegen diese Behauptung geht die Ukraine vor dem IGH vor.
Einen ersten Teilerfolg konnte sie am Freitag verbuchen. Wie begründet der IGH seine Entscheidung?
Ist der IGH zuständig?
Hauptstreitpunkt ist die Frage, ob der IGH für die Streitigkeit eigentlich zuständig ist.
Weder Russland noch die Ukraine haben sich grundsätzlich der Gerichtsbarkeit des IGH unterworfen.
Die Zuständigkeit des Gerichtshofs kann sich jedoch auch aus Art. 36 Abs. 1 Alt. 2 des IGH-Statuts in Verbindung mit einer sogenannten kompromissarischen Klausel (Schiedsklausel) in einem anderen völkerrechtlichen Vertrag ergeben. Diesen Weg wählte die Ukraine: Artikel IX der Völkermordkonvention legt den IGH als zuständiges Gericht für Streitigkeiten über die Auslegung, Anwendung und Erfüllung der Konvention zwischen Vertragsstaaten, zu denen sowohl Russland als auch die Ukraine gehören, fest. Deshalb geht es im vorliegenden Streit aber auch nur um Verstöße gegen die Völkermordkonvention, Verletzungen des Gewaltverbots nach Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta etwa kann die Ukraine so nicht rügen.
IGH: "Negative Feststellungsklage" grundsätzlich möglich
Russland hatte insgesamt sechs vorläufige Einreden (preliminary objections) gegen die Zuständigkeit des IGH und die Zulässigkeit der Klage erhoben. Mit einer hatte es Erfolg, die anderen fünf drangen beim IGH nicht durch.
Mit seiner ersten Einrede bestritt Russland die Zuständigkeit des IGH, weil es keine Streitigkeit zwischen Vertragsparteien der Völkermordkonvention gebe. Das sah der Gerichtshof allerdings anders. Vielmehr seien sich Russland und die Ukraine – zum maßgeblichen Zeitpunkt der Einreichung der Klage – uneinig darüber, ob in der Ostukraine Völkermord begangen werde und ob die Ukraine dafür verantwortlich sei.
Auch mit vier weiteren Einreden hatte Russland keinen Erfolg. Der IGH sah keinen "Missbrauch des Verfahrens" mit falschen Anschuldigungen, wie Russland behauptet hatte. Auch sei eine "negative Feststellungsklage" grundsätzlich möglich. Staaten könnten deshalb die Feststellung beantragen, dass sie nicht für einen Völkermord verantwortlich sind.
IGH: Missbrauch der Völkermordkonvention ist nicht automatisch ein Verstoß
Außerdem begehrte die Ukraine die Feststellung, dass die russische Militäroperation in der Ukraine sowie die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk gegen Artikel I und IV der Völkermordkonvention verstoßen. Während Artikel I der Völkermordkonvention die allgemeine Pflicht von Staaten zur Verhütung von Völkermord beinhaltet, geht es bei Artikel IV um die Pflicht, Personen, die Völkermord begehen, zur Verantwortung zu ziehen.
Damit geht die Ukraine über den Antrag in der Klageschrift hinaus, in dem sie noch die Feststellung forderte, dass Russland die falsche Anschuldigung des Völkermordes nicht als Kriegsrechtfertigung nutzen darf.
Diese neuen Anträge fallen nicht mehr in den sachlichen Anwendungsbereich der Völkermordkonvention, argumentiert Russland.
Das sieht der IGH genauso: Die Ukraine behaupte nicht, dass Russland keine Maßnahmen ergriffen habe, um einen Völkermord zu verhindern. Im Gegenteil, die Ukraine behaupte vielmehr, dass es gerade keinen Völkermord gegeben habe und Russland diese Anschuldigung böswillig aufgestellt habe. Unter diesen Umständen sei es schwer zu erkennen, wie das Verhalten Russlands, das die Ukraine beanstandet, gegen die Völkermordkonvention verstoßen könnte. Russland verstoße in dieser Hinsicht sicherlich gegen Treu und Glauben, aber nicht unbedingt gegen die Völkermordkonvention.
Andere Klage gegen Russland weitgehend abgewiesen
Bereits am Mittwoch hatte der IGH eine weitere Klage der Ukraine weitgehend abgewiesen. Die Ukraine hatte Russland unter anderem Verstöße gegen die Konvention zur Finanzierung von Terrorismus vorgeworfen. Russland habe die prorussischen Rebellen in der Ostukraine mit Waffen und Geld ausgestattet, obwohl es gewusst habe, dass zivile Ziele angegriffen werden. Außerdem ging es um die Diskriminierung von Ukrainern und Tataren auf der Krim. Die von der Ukraine erhobenen Vorwürfe seien in beiden Fällen nicht ausreichend belegt, erklärte der Gerichtshof.
Die Ukraine hatte die Klage bereits 2017 erhoben – lange vor Beginn des russischen Angriffskrieges. Schon 2017 hatte der IGH beiden Parteien auferlegt, alles zu tun, um den Konflikt nicht zu verschlimmern. Gegen diese Anordnung habe Moskau allerdings verstoßen, so der IGH.
Was der IGH entschieden hat – und was nicht
Mit der Entscheidung von Freitag steht fest, dass Russland mit seinen Einwänden gegen die Zulässigkeit der Völkermord-Klage der Ukraine zum größten Teil nicht durchdringt. Die Prüfung der sogenannten preliminary objections ist vergleichbar mit der Prüfung der Zulässigkeit im deutschen Recht. Der IGH hat sich jetzt für den überwiegenden Teil der Klage für zuständig erklärt und die Klage zugelassen.
Bis eine Entscheidung in der Sache fällt, wird es allerdings noch dauern. Die Parteien werden jetzt Gelegenheit haben, Stellungnahmen zur Begründetheit der Klage abzugeben.
Die Ukraine wird in ihrem Vorgehen vor dem UN-Gericht von 32 westlichen Verbündeten unterstützt, darunter auch Deutschland. Noch nie haben so viele Staaten in einem Verfahren interveniert, erstmals gab auch Deutschland eine Interventionserklärung vor dem IGH ab.
Mit Materialien der dpa
Russlands Einreden überwiegend erfolglos: . In: Legal Tribune Online, 02.02.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53789 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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