Internationale Gerichte und Ukraine-Krieg: Können Russ­land und Putin ver­ur­teilt werden?

von Sarah Leclercq und Dr. Felix W. Zimmermann

02.03.2022

Nach Start der russischen Invasion in der Ukraine befassen sich auch internationale Gerichte mit dem Krieg. Nächste Woche wird vor dem UN-Gericht verhandelt, auch das Weltstrafgericht hat Ermittlungen angekündigt. Was ist rechtlich möglich?

Dass Russland auf Befehl Wladimir Putins internationales Recht gebrochen hat, ist unstreitig. Der Einmarsch in die Ukraine verletzt die Souveränität der Ukraine und das Gewaltverbot nach Art. 2. Nr. 4 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta). Völkerrechtliche Verfahren gegen Russland sind insbesondere vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH, auch UN-Gericht genannt) und dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH, auch Weltstrafgericht genannt) möglich. Beide Gerichte sind in Den Haag ansässig.  

Die Ukraine reichte bereits vergangene Woche Klage gegen Russland beim IGH ein. Der IGH hat schnell reagiert und bereits für kommende Woche eine Dringlichkeitssitzung anberaumt. Zunächst wird am Montag, den 7. März die Ukraine ihre Position in Den Haag darlegen. Am Dienstag, den 8. März bekommt Russland das Wort.

Bei dem IGH handelt es sich um ein Gericht der Vereinten Nationen (Art. 92 der UN-Charta). Nur Staaten können Parteien vor dem Internationalen Gerichtshof sein. Nach Art. 93 Abs. 1 UN-Charta sind Vertragsstaaten des IGH alle UN-Mitglieder und solche, die das Statut ratifiziert haben. Die Hauptaufgaben des IGH sind es, internationale Streitfälle zu regeln und beizulegen und für die Vereinten Nationen Rechtsgutachten zu völkerrechtlichen Fragen zu schreiben. Obwohl die Ukraine und Russland Mitglieder der Vereinten Nationen sind, ist die Zuständigkeit für Rechtsstreitigkeiten zwischen den Ländern nicht in jedem Fall unproblematisch festzustellen: Oft muss der beklagte Staat einem Verfahren völkerrechtlich zustimmen.

Ukraine will Kriegsrechtfertigung den juristischen Boden entziehen

Im konkreten Fall dürfte jedoch die Zuständigkeit des IGH gegeben sein. Denn inhaltlich will die Ukraine in dem Verfahren unter anderem feststellen lassen, dass der Vorwurf Russlands, an der russischen Minderheit in der Ukraine würde ein Völkermord begangen, unwahr ist. Die Ukraine argumentiert, Russland habe den Begriff des Völkerrechts manipuliert, um eine Aggression gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Sie bezweckt mit dem Antrag also, der russischen Kriegsrechtfertigung den Boden zu entziehen.  

Nach Ansicht des Völkerrechtlers Simon Gauseweg (Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)) drehen sich die Anträge der Ukraine vor dem IGH um die Auslegung der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. Für derartige Streitigkeiten sei gemäß Art. IX der Konvention der IGH stets zuständig, ohne dass es auf eine Zustimmung des beklagten Staates ankomme, hier also Russland, erläutert Gauseweg.

Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, forderte in einem Tweet vergangene Woche "eine Eilentscheidung, die Russland anweist, die militärischen Aktivitäten jetzt einzustellen“. Doch selbst wenn diese Entscheidung ergehen sollte, ist es sehr unwahrscheinlich, dass Russland sie beachtet: Die Urteile des IGH sind zwar bindend, doch eine Möglichkeit, das Urteil durchzusetzen, hat der IGH nicht. Er kann nur den UN-Sicherheitsrat zur Unterstützung anrufen – doch dort besitzt Russland bekanntlich ein Vetorecht.  

Putin als Kriegsverbrecher vor dem IStGH – das ist möglich  

Mit zunehmenden Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung und von Raketen verursachten Schäden an zivilen Objekten vermehrte sich in den vergangenen Tagen der Ruf der internationalen Öffentlichkeit, auch Putin selbst vor Gericht zu bringen. Für die Verurteilung von Individuen wegen Kriegsverbrechen ist nicht der IGH, sondern der IStGH zuständig. Der IStGH ist nicht Teil der Vereinten Nationen, sondern eine eigenständige Internationale Organisation. Vertragsgrundlage ist das Römische Statut, das 123 Staaten ratifiziert haben. Die Gerichtsbarkeit ist auf vier Verbrechen beschränkt: auf den Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und seit dem 17. Juli 2018 auch auf das Verbrechen der Aggression.

Eine Zuständigkeit des IStGH ist auf drei unterschiedlichen Wegen möglich. Zum einen, wenn die Verbrechen auf dem Territorium eines Mitgliedstaates passiert sind. Da das Römische Statut ein völkerrechtlicher Vertrag ist, gilt es nur für die Staaten, die den Vertrag ratifiziert haben. Doch weder Russland noch die Ukraine sind dem Statut des Strafgerichtshofs beigetreten.  

Ohne diesen Beitritt käme eine Zuständigkeit zum zweiten in Betracht, wenn der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit einer Resolution entscheidet, dass der IStGH diesen Fall übernehmen soll. Diese Option ist jedoch praktisch ausgeschlossen, da Russland im Sicherheitsrat das Vetorecht besitzt.

Die letzte bestehende Möglichkeit wurde von der Ukraine schon im Zusammenhang mit der Niederschlagung pro-europäischer Proteste in Kiew, der russischen Annexion der Krim und bei Vorfällen in der Ostukraine in Anspruch genommen. Die Ukraine hat in einer Ad-hoc-Erklärung die Zuständigkeit des IStGH nach Art. 12 Abs. 3 des Römischen Statuts bei der möglichen Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit seit November 2013 anerkannt. Völkerrechtler Gauseweg erklärt gegenüber LTO, dass die Erklärung ausdrücklich für einen unbestimmten Zeitpunkt gelte. Sämtliche zum Territorium der Ukraine anknüpfbare Vorgänge könnten daher der Untersuchung durch den IStGH unterliegen.

IStGH will Ermittlungen auf aktuellen Krieg ausdehnen

Montagabend hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, bekannt gegeben, dass der IStGH offiziell Ermittlungen zu potenziellen Kriegsverbrechen in der Ukraine einleiten möchte. Khan kündigte indes an, dass die Ermittlungen sich zunächst auf mögliche Verbrechen vor der aktuellen Invasion Russlands beziehen, insbesondere die Vorgänge um die Besetzung der Krim und die Kämpfe in der Ostukraine. Die Ermittlungen will Khan aber auf den aktuellen Krieg ausdehnen.  

Dazu braucht es noch einen richterlichen Beschluss. Inzwischen beantragte auch der Vertragsstaat Litauen eine Untersuchung - und zwar gegen die Befehlshaber Wladimir Putin und den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko.

Verfahren wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit möglich

Im Zuge dessen könnte durch den IStGH überprüft werden, ob im Verlauf der kriegerischen Auseinandersetzung die Straftatbestände des Kriegsverbrechens und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit erfüllt wurden.  

Kriegsverbrechen sind vorsätzliche, schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Dabei handelt es sich um Regelungen, die bei einem bewaffneten Konflikt unabhängig von der Kriegsschuld gelten. So ist es zum Beispiel verboten, gezielt zivile Objekte anzugreifen. Dies soll dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen. Die Invasion selbst verstößt zwar gegen internationales Recht - aber nicht gegen das „Kriegsrecht“ und ist daher an sich noch kein Kriegsverbrechen.

Bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt es sich ebenfalls um eine Schutznorm für die Zivilbevölkerung. Sie hängt nicht davon ab, ob ein bewaffneter Konflikt stattfindet, ist dort aber auch anwendbar. So sollen massive und systematisch auftretende Verletzungen von Menschenrechten wie Folter, Tötung und Misshandlung verhindert werden.  

Chefankläger Khan erklärte, es gebe ‘‘eine ausreichende Grundlage für die Annahme, dass sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine begangen wurden‘‘. Die Untersuchung solle sich auf mögliche Verbrechen aller Parteien in dem Konflikt richten.

Verurteilung von Putin als Aggressor unwahrscheinlich

Die strafbare Handlung der Aggression ist später in Art. 8bis des Römischen Statuts definiert worden. Erst seit dem 17. Juli 2018 kann der IStGH seine Gerichtsbarkeit auch über das Verbrechen der Aggression ausüben. Dabei definiert Art. 8bis des Römischen Statuts das Verbrechen der Aggression als "Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Ausführung einer Angriffshandlung, die ihrer Art, ihrer Schwere und ihrem Umfang nach eine offenkundige Verletzung der Charta der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 darstellt".

Als Angriffshandlung wird dabei in Nr. 2a) ausdrücklich die Invasion des Hoheitsgebietes eines Staates oder der Angriff auf dieses durch Streitkräfte eines anderen Staates definiert (Nr. 2b) nennt unter anderem die Bombardierung oder Beschießung des Hoheitsgebiets eines Staates.  

Die Ausübung der Gerichtsbarkeit über das Verbrechen der Aggression durch den IStGH ist jedoch nach Art. 15bis Abs. 5 IStGH-Statut ausgeschlossen, wenn der betreffende Staat nicht Vertragspartei dieses Statuts ist und das Verbrechen von Staatsangehörigen des betreffenden Staates oder in dessen Hoheitsgebiet begangen wurde.  

Nach der Einschätzung von Völkerrechtler Gauseweg wäre somit für eine Ermittlung gegen Putin zur strafbaren Handlung der Aggression eine Sicherheitsratsresolution zur Überweisung an den IStGH nötig. Diese Resolution könnte Russland mit seinem Vetorecht verhindern. Unter den aktuellen politischen Verhältnissen in Russland ist eine Verurteilung von Wladimir Putin als Aggressor daher nicht zu erwarten. 

Zitiervorschlag

Internationale Gerichte und Ukraine-Krieg: . In: Legal Tribune Online, 02.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47692 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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