Anlässlich des Endes der Corona-Pandemie werben Juristen bei LTO für ein von ihnen vorgeschlagenes Epidemiegesetz. Indes sollten wir nicht die Begrenztheit der Corona-Bekämpfung in die Zukunft fortschreiben, meint Stephan Vielmeier.
Seit Beginn der Corona-Maßnahmen verweisen deren Kritiker auf die Wesentlichkeitstheorie und den Vorbehalt des Gesetzes. Beides soll sicherstellen, dass zentrale Fragen vom Bundestag beschlossen werden, dessen Mitglieder sich unmittelbar vor dem Wähler verantworten müssen. In der Corona-Pandemie wurden die Maßnahmen fast acht Monate auf eine kurze Generalklausel gestützt, bis insbesondere der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH, Beschl. v. 29.10.2020, Az. 20 NE 20.2360, Rn. 28ff "noch") ein Tätigwerden des Bundesgesetzgebers erzwungen hat. Mithin ist natürlich die Frage aufgeworfen, ob und wie der Gesetzgeber sich für künftige Pandemien besser rüstet.
Gallon/Hollo/Kießling schlagen nun ein Epidemiegesetz (EpiG) vor. Ihnen ist zu Gute zuhalten, dass sie immerhin einen Entwurf der Kodifizierung vorschlagen. Ihr Entwurf kommt freilich zu früh, weil er Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) insbesondere zum Einschätzungsspielraum der Exekutive und dessen Grenzen noch nicht berücksichtigt. Dies ist zu diesem Zeitpunkt auch nicht möglich, denn die Urteilsgründe der ersten beiden Verfahren liegen selbst den Beteiligten erst seit wenigen Tagen vor (BVerwG, Urt. v. 22.11.2022, Az. 3 CN 2.21.).
Zudem hat der 3. Senat des BVerwG angekündigt, in weiteren Verfahren im Jahr 2023 insbesondere die Frage zu beleuchten, "wie lange" denn die Generalklausel als Grundlage für die Seuchenbekämpfung taugen kann. Einen Vorschlag für die Zukunft, ohne zentrale Erkenntnisse des dafür zuständigen obersten Bundesgerichtes abzuwarten, halte ich für kühn. Die enttäuschenden Thesen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur "Bundesnotbremse" (Beschl. v. 30.11.2021, Az. 1 BvR 781/21, 1 BvR 971/21 u.a.) alleine sollten keine Basis für eine künftige Gestaltung sein.
Mehr als Nacherzählen der Vergangenheit
Der Entwurf greift zudem zu kurz, weil er sich ersichtlich darauf beschränkt, die Maßnahmen der Corona-Pandemie in Gesetzesform zu gießen. Wir finden also alle lieb gewonnen Freunde wieder, von der Testpflicht über Kontaktdatenerfassung und Pflicht der Mobilfunkbetreiber zum Versand von Corona-Begrüßungs-SMS (§ 37 EpiG-E) bis zum Präsenz- und Wechselunterricht. Sogar ein Verbot der Allgemeinverfügung in der Epidemiebekämpfung ist vorgesehen (eine zweifelhafte Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) München vom 24.03.2020, Az. M 26 S 20.1255 lässt grüßen). Der Entwurf verbleibt im Klein-Klein, er setzt letztlich das Verhältnismäßigkeitsprinzip um, das er sogar zu normieren wagt (§ 4 EpiG-E). Das Nacherzählen der Vergangenheit ist aber noch kein großer Wurf für die Zukunft.
Nach meinem Dafürhalten muss ein Epidemiegesetz den Anspruch haben, die zentralen rechtsstaatlichen Schwächen zu beheben, die in der Coronapandemie zu Tage getreten sind. Epidemiebekämpfung darf nicht weiterhin allein der Exekutive überantwortet werden, wie es der Entwurf vorschlägt. Seuchenbekämpfung ist kein gewöhnliches Polizeirecht, sondern hat wegen der notwendigen Inanspruchnahme Unbeteiligter stärkste Breitenwirkungen.
Wir dürfen also nicht blind polizeirechtliche Erkenntnisse übertragen. Notwendig ist vielmehr, intensive Maßnahmen unter einen präventiven Richtervorbehalt zu stellen, analog Art. 104 Abs. 2 Grundgesetz (GG). Corona hat gelehrt, dass die nachträgliche gerichtliche Kontrolle punktuelle Exzesse der Exekutive nicht verhindern konnte. Nur eine präventive Rechtfertigungsobliegenheit vor einem unabhängigen Gericht zwingt die Exekutive zu sauberem Handeln und Begründungen. Nur sie stellt effektiven Rechtsschutz sicher.
Alternativ ist eine Gewaltenteilung mit der Legislative vorzusehen, die sich eine Zustimmung zu weitreichenden Maßnahmen vorbehalten muss. Der Bundestag hat mehrfach in Zeiten der Finanzkrise bewiesen, dass er binnen Stunden zusammenkommen kann – das muss auch während einer Epidemie gelten. Der Entwurf reduziert hingegen die Gewaltenteilung noch weiter, indem er sogar auf einen feststellenden Bundestagsbeschluss verzichtet.
Pluralität der Erkenntnisse sicherstellen
Es braucht Pluralität der Erkenntnisse. Es war und ist ein rechtstaatlicher "Unzustand", dass die Expertise einer weisungsabhängigen Bundesbehörde – in der Pandemie das Robert-Koch-Institut (RKI) - kraft Gesetzes mit besonderer Richtigkeitsgewähr ausgestattet ist. Die Exekutive ist also ihr eigener Gutachter – das hat zumindest einen bösen Schein.
Falls also wirklich "Follow the Science" gelten soll, muss ein EpiG sicherstellen, dass plurale und unabhängige Gremien diese Expertise erstellen. Vielleicht bedarf es hier auch eines "Expertenwahlausschusses" im Bundestag wie bei der Richterwahl (der faktische Einfluss ist wohl ähnlich weitreichend). Die Erfahrung mit "Haus- und Hofgutachtern der Regierung" (Virologe Prof. Dr. Christian Drosten, Virologin Prof. Dr. Melanie Brinkmann, etc.) sollte Motivation genug sein, für künftigen Epidemien breitere wissenschaftliche Expertise sicherzustellen. Die Autoren belassen es hingegen beim Vertrauen in das RKI. Zudem werden zwischenzeitlich gewonnene Erkenntnisse zum (vorhandenen/fehlenden) Einfluss von Schutzmaßnahmen auf das Pandemiegeschehen nicht berücksichtigt.
Erkrankte gerichtliche Kontrolle
Law in Books ist nicht Law in Life. Notwendige gerichtliche Kontrolle, gerade im Eilrechtsschutz, krankte daran, dass einerseits nur die ex-ante-Perspektive maßgeblich ist, andererseits der Verordnungsgeber gar nicht erklären muss, wie er ex ante zu seiner Erkenntnis gelangt ist (damit setzt sich im Kern BVerwG, Urt. v. 22.11.2022, Az. 3 CN 2.21 im Verfahren um die Ausgangssperre auseinander). Letztlich wird dem unterworfenen Bürger der Beweis des Gegenteils abverlangt, den der Bürger nicht erbringen kann, zumal selbst etwaige Privatgutachter die Expertise des RKI nicht stechen können, zumindest nicht im Eilrechtsschutz.
Der Entwurf schreibt immerhin die Erkenntnisse der Corona-Pandemie fest, dass die Verordnung einer Begründung bedarf und eines Gesamtkonzeptes. Er unternimmt aber keinen Versuch, den Rechtsschutz der Bürger zu verbessern. Der Entwurf folgt ersichtlich dem Ziel maximaler Pandemiebekämpfung und nicht Begrenzung der Staatsgewalt zum Schutze des normunterworfenen Bürgers.
Epidemiebekämpfung erfolgt nicht auf einer einsamen Insel. Auch wenn Gleichheitsrechte unstrittig nicht rechtsträgerübergreifend gelten, so müsste künftige Epidemiepolitik doch Kohärenz innerdeutsch sicherstellen und eigentlich auch europaweit. Es war und ist nicht zu erklären, weshalb der Seitenblick zum Nachbarn (etwa, dass dort die Maskenpflicht in Flugzeug schon lange abgeschafft war, während sie hierzulande noch wacker von Karl Lauterbach verteidigt wurde) kein Rechtsargument sein soll. Zumindest muss ein EpiG-E eine gesteigerte Begründungsobliegenheit vorsehen, wenn Markus Söder künftig wieder schärfer regulieren will als beispielweise Hendrik Wüst (falls dieser in die rechtstaatlich lobenswerten Fußstapfen seines Vorgängers Armin Laschet steigen möchte).
Welches Ziel verfolgt die Epidemiebekämpfung?
Epidemiebekämpfung braucht Anfang, Ende und Ziel. Der Entwurf will künftig schon dann Befugnisse scharf schalten, wenn sich eine bedrohliche Krankheit dynamisch ausbreitet. Sie muss nach dem Entwurf nicht tödlich sein, auch nicht lebensbedrohlich und sie muss auch nicht das Gesundheitssystem zu überlasten drohen.
Wollen die Autoren künftig die unter uns jungen Eltern aus dem vergangenen Winter 2022/23 wohlbekannte Hand-Mund-Fuß-Krankheit in Kitas mit Wechselunterricht (§ 27 Abs. 3 Nr. 2 EpiG-E) bekämpfen? Was ist das Ziel der Bekämpfung – Reduktion des Infektionsgeschehens oder Ausrottung der Krankheit? Falls ja, was ist der räumliche Bezugspunkt? Deutschlandweit? Weltweit?
Die Corona-Bekämpfung hat doch daran gelitten, dass das Ziel ständig ausgewechselt wurde – das sollte künftig nicht mehr möglich sein. Ich meine weiterhin: Epidemiebekämpfung mit seinen eingreifenden Maßnahmen ist nur zulässig, wenn es sich um eine tödliche Krankheit handelt, Selbstschutz nicht möglich ist und eine Überlastung des Gesundheitswesens droht. Wir brauchen künftig keinen Gesundheitspaternalismus, wie er in Corona Einzug gehalten hat.
Ist es überhaupt möglich und ist es sinnvoll, die Bekämpfung neuer, bisher unbekannter Krankheiten zumindest in der Frühphase so detailliert in Gesetzesform gießen? Diese Frage richtete die Vorsitzende des 3. Senates des BVerwG in der mündlichen Verhandlung in dem Verfahren 3 CN 2.21. XY vom November 2022 an mich. Ich meine heute: wir sollten es bei einer generalklauselhaften Gestaltung belassen, aber die Befugnisse der Exekutive einhegen, insbesondere durch einen Richtervorbehalt für eingriffsintensive Maßnahmen. Zudem sollte die Legislative schneller als in Corona-Zeiten selbst tätig werden. Alles andere droht eine Regulierung am tatsächlichen Bedarf vorbei zu werden.
Dr. Stephan Vielmeier ist Rechtsanwalt in eigener Kanzlei in München. Er verantwortet zahlreiche Corona-Verfahren, insbesondere das Verfahren gegen die Bayerische Ausgangssperre vor dem Bundesverwaltungsgericht (3 CN 2.21).
Kritik am Entwurf eines Epidemiegesetzes: . In: Legal Tribune Online, 30.03.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51445 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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