Ein Rechtsradikaler wird dringend verdächtigt, den Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke getötet zu haben. Wie kann man Politiker vor Hass schützen? Mit naheliegenden Schritten, nicht mit Grundrechtsverwirkung, meint Michael Kubiciel.
"Sticks and stones may break bones, but your words will never hurt me." Im Geiste dieses, aus den USA stammenden Aphorismus verfasste ich mit einem Mit-Doktoranden vor rund zwanzig Jahren ein flammendes Plädoyer für die Abschaffung des strafrechtlichen Ehrenschutzes. Das Rechtsgut Ehre sei zu unbestimmt, und die Ansichten darüber, was ehrverletzend sei, gingen zu weit auseinander als dass sich "die" Ehre strafrechtlich schützen ließe. Vor allem aber solle der Staat nicht mit seinem schärfsten Schwert in die Meinungsfreiheit eingreifen, weil in öffentlichen und privaten Foren schützenswerte Meinungen und Ideen entstünden, selbst wenn Einzelne beleidigende Worte verwenden sollten.
Der Aufsatz ist Ausdruck eines seinerzeit verbreiteten radikal-liberalen, ja libertären Denkens. Veraltet ist der Beitrag aber auch deswegen, weil um das Jahr 2000 noch keine Medien existierten, die Herr und Frau Jedermann selbständig und mit großer Reichweite zur Verbreitung ehrverletzender Äußerungen hätten nutzen können: Politiker und andere pflegte man am Stammtisch zu beleidigen, ehrverletzende Leserbriefe an Zeitungen wurden von Redaktionen gekürzt oder abgelehnt und Flugblätter fehlte jene Wirkung, die Posts, Tweets oder Youtube-Videos entfalten.
Das ist heute anders. Der Philosoph Jürgen Habermas, dessen demokratietheoretisches Denken auf dem Vernunftpotenzial von Kommunikation und Diskursen gründet, hat schon vor mehr als zehn Jahren bezweifelt, dass die ungefilterte Kommunikation im Web 2.0 zur Integration der Gesellschaft beitrage. Es fehle eine Art "Klärwerk" zur Reinigung der Diskurse, so dass letztere eher zur Fragmentierung der Gesellschaft als zur Ermöglichung eines Konsenses beitrügen. Tatsächlich sind Facebook- und Twitterseiten von Zeitungen, TV-Sendern und Parteien oftmals kein Forum des Austausches, sondern werden dazu genutzt, Politiker und andere zu beleidigen, zu bedrohen und verdächtigen. Solche Shitstorms sind zwar nicht geplant, sondern resultieren daraus, dass viele Zeitungsredaktionen und andere Seiten-Betreiber nicht das Personal und Geld haben, um ihre Kommentarspalten redaktionell zu pflegen.
Daneben existieren aber auch Seiten, die gezielt Hass entfachen wollen, weil sich ihre Betreiber davon politischen und wirtschaftlichen Nutzen versprechen. Offensichtlich ist das bei Parteien oder parteinahen Seiten. Weniger offensichtlich ist es bei selbst ernannten Publizisten, die nichts anderes tun, als Zeitungsberichte zu verlinken, in denen von "Ausländerkriminalität" berichtet wird, ein schlichtes "Wie lange lassen wir uns das gefallen???" hinzufügen – und die Fans der Seite wenig später um eine Spende für weitere "publizistische" Aktivitäten zu bitten.
Politikern wird der strafrechtliche Ehrschutz weitgehend entzogen
Auf diese Weise können soziale Medien Verdächtigungen, Bedrohungen und Beleidigungen derart aggregieren, dass ein Klima des Hasses entsteht, der handgreifliche Folgen haben kann – bis hin zu Mordanschlägen. Nicht nur Stöcke und Steine brechen also Knochen; auch publizierter Hass kann Dämme brechen lassen: Einzelne können durch den aggregierten Hass zur Begehung von Straftaten motiviert werden oder jedenfalls eine Art Legitimation für einen Angriff auf "Volksverräter" ableiten.
Gerade Politiker, auch ehrenamtliche Lokalpolitiker, sind solchen Anfeindungen ausgesetzt. Anders als man denken könnte, entfaltet das Strafrecht für Politiker keinen besonderen Schutz, sondern mutet ihnen eine besondere Duldungspflicht zu. Sie sollen sogar persönlich diffamierende Äußerungen hinnehmen, wenn diese einen Bezug zur Politik aufweisen. So legt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) den Rechtfertigungsgrund "Wahrnehmung berechtigter Interessen" ( § 193 StGB) im Lichte des Artikel 5 Abs. 1 GG ausgesprochen großzügig aus (statt vieler BVerfG, Beschluss vom 08. Februar 2017, Az.: 1 BvR 2973/14).
Beleidigungen von Politikern sind in Folge dessen bis zur Grenze der Schmähkritik gerechtfertigt, wenn sich – was leicht möglich ist – ein politischer Kontext herstellen lässt. Damit nicht genug. Der Begriff Schmähkritik sei, so das BVerfG, eng auszulegen: Auch ausfällige Kritik mache eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Eine Äußerung nehme diesen Charakter erst dann an, wenn die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Das aber sei bei einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage "nur ausnahmsweise" der Fall; im Regelfall sei eine strafbare Schmähkritik nur bei einer "Privatfehde" anzutreffen.
Im Ergebnis wird Politikern damit der strafrechtliche Ehrenschutz weitgehend entzogen, zumal diese Rechtsprechung für Staatsanwälte ein einfacher Grund sein kann, sich aufwändige Ermittlungen im Internet zu sparen und Verfahren unter Verweis auf § 193 StGB einzustellen.
Grundrechtsverwirkung ist nur das letzte Mittel
Was also ist zu tun? Der ehemalige Generalsekretär der CDU und gegenwärtige Bundestagsabgeordnete Peter Tauber hat in der Zeitung "Die Welt" an den vergessenen Artikel 18 GG erinnert. Danach verwirkt seine Grundrechte, wer die Freiheit der Meinungsäußerung, die Lehrfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit und andere Grundrechte "zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht". Aussprechen soll die Verwirkung das BVerfG.
Diese, in der deutschen Verfassungsgeschichte einzigartige Vorschrift ist eine direkte Reaktion auf die Erfahrungen der Weimarer Republik: Das Grundgesetz will gerade jene nicht schützen, die unter dem Deckmantel ihrer Gewährleistungen jene Ordnung abzuschaffen versuchen, die das Grundgesetz garantiert. Daher können den Betroffenen zwar die genannten Grundrechte nicht in toto abgesprochen werden, wohl aber deren politischer Gebrauch.
Ein solches Mittel richtet sich ersichtlich gegen einen politischen Feind. Daher kann es, wenn überhaupt, nur äußerst restriktiv und zielgerichtet angewendet werden. Als Instrument gegen den schlicht-ordinären Blogger oder Pöbler eignet es sich nicht. Aber auch bei der Anwendung auf selbsterklärte und eindeutige Gegner der freiheitlich demokratischen Grundordnung sollte man bedenken, dass jede Feinderklärung Märtyrer und neue Gegner schafft. Von einer Maßnahme wie der des Art. 18 GG, die sich ausschließlich durch ihren Zweck legitimiert, sollte man jedoch absehen, wenn sie mehr Schaden als Nutzen stiftet.
Anstatt über derartige notstandsähnliche Schritte nachzudenken, sollten Gesetzgeber und BVerfG den Blick auf kleinteiligere Fragen richten. Der Gesetzgeber könnte eine Anpassung des Strafrechts, etwa des § 188 StGB (Üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens) oder die Relativierung des Strafantragserfordernisses (§ 194 StGB) ins Auge fassen. Außerdem sollte er sich vergegenwärtigen, dass jeder, der einen Verkehr eröffnet, etwa ein Forum zum Meinungsaustausch schafft, die Pflicht hat, daraus entstehenden Gefahren für Dritte entgegenzuwirken. Es war daher folgerichtig, dass er soziale Medien mit dem "Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken" (NetzDG) dazu verpflichtet hat, Beschwerde-Management-Systemen zu schaffen. Über weitere Schritte ließe sich jedenfalls nachdenken: Weshalb sollen nicht auch natürliche Personen dazu verpflichtet werden, die Kommentarspalten ihrer Facebook- oder Instagram-Seiten zu pflegen und strafbare Inhalte zu löschen, wenn sie mit ihren Seiten wirtschaftliche Zwecke verfolgen und/oder eine große Anzahl von Followern haben?
Die Karlsruher Richter sollten prüfen, ob ihre enge Auslegung der Schmähkritik bzw. ihre großzügige Interpretation des § 193 StGB jenen Gefahren gerecht wird, die heute dem politischen System drohen: Wer Politiker für weitgehend schutzlos erklärt, weil nicht Koch werden solle, wer die Hitze nicht vertrage, könnte irgendwann ohne Köche und Essen dastehen.
Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel lehrt Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Wirtschafts- und Medizinstrafrecht an der Universität Augsburg.
Fall Walter Lübcke: . In: Legal Tribune Online, 19.06.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/36013 (abgerufen am: 21.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag