Die Preise für Verbraucher steigen rasant. Doch Wucher liegt selbst bei Preisen nicht vor, die in einer Mangellage mehr als das Doppelte der Kosten erreichen. Das Recht habe nicht die passenden Lösungen, erklärt Hans-Bernd Schäfer.
Das Wort "Wucher" ist in aller Munde. Die Corona Pandemie, die Unterbrechung von Lieferketten und der Ukraine Krieg treiben die Preise in die Höhe. Erdgas, Benzin, Speiseöl, Butter, Papier, Holz und viele wichtige Konsumgüter sind betroffen. Gesichtsmasken beispielsweise erzielten zu Beginn der Pandemie Preise von bis zu 4,50 Euro, obwohl sie in China für einige Cents erworben wurden. Erdölkonzerne machen unerwartet hohe Gewinne, sogenannte Windfall Profits, nicht weil hinter den hohen Preisen höhere Kosten oder eine unternehmerische Leistung stehen, sondern weil die Waren knapp sind.
Man braucht kein Monopolist zu sein, um solche Profite zu verwirklichen. Sie entstehen auch und gerade auf Konkurrenzmärkten, weil bei niedrigeren Preisen das gesamte Angebot morgens um 9.30 Uhr ausverkauft wäre und alle, die später kommen, leer ausgingen. Doch wann sind hohe Preise als gerichtlich als Wucher zu unterbinden oder administrativ zu deckeln? Sind die Profite schon ein Skandal, der Handeln durch staatliche Preisobergrenzen erfordert? Sollten die Extragewinne steuerlich abgeschöpft werden über die viel diskutierte Übergewinnsteuer, wenn die Preise über die Kosten einschließlich einer vernünftigen Gewinnmarge ansteigen und dann traumhafte und leistungslose Gewinne entstehen?
Ökonomen unterscheiden drei Fallkonstellationen, um diese Fragen beantworten zu können.
Wucher oft schon bei Verdoppelung des Normalpreises
Die erste Konstellation ist der Wucher, beschrieben in § 138 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Er liegt vor, wenn der vereinbarte Preis enorm über dem Durchschnittspreis auf dem Markt liegt und jemand eine Zwangslage, Unerfahrenheit oder Willensschwäche der Marktgegenseite ausnutzt. Dieser typische Wucherfall führt im Zivilrecht zur Nichtigkeit des Vertrags.
Wucher wird regelmäßig angenommen, wenn der vereinbarte Preis mehr als das Doppelte des Normalpreises beträgt, besagt das Prinzip der aus dem römischen Recht bekannten Laesio enormis. Als Normalpreis wird dabei oft der Durchschnittspreis auf dem Markt angesehen. Der BGB-Gesetzgeber hat sich zwar gegen die Geltung der „laesio enormis“ in Deutschland entschieden (Motive II, S. 321). Für § 138 Abs. 2 BGB ist außer einem auffälligen Missverhältnis die Ausbeutung einer Zwangslage etc. erforderlich. Für das Vorliegen eines wucherähnlichen Geschäfts nach § 138 Abs. 1 BGB sind außer dem Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung weitere die Sittenwidrigkeit begründende Umstände nötig. Insbesondere kommt eine verwerfliche Gesinnung des Begünstigten in Betracht. Diese wird aber bei Vorliegen eines besonders groben Missverhältnisses widerlegbar vermutet. Deshalb ist in der Literatur von der „Wiederauferstehung“ der laesio enormis im deutschen Recht die Rede. Die praktischen Entscheidungen der Obergerichte belegen somit einen starken tatsächlichen Einfluss dieser Norm. (BGH, NJW-RR 1989, 1068, BGH, NJW 2004, 2671 (2673).
Der Bundesgerichtshof (BGH) nahm beispielsweise Wucher bei Verbraucherkrediten an, wenn der Zinssatz mehr als das Doppelte des durchschnittlichen Zinssatzes für Verbraucherkredite beträgt (BGH Urt. v. 24.03.1988, Az. III ZR 30/87). Das gleiche gilt für die Preise von Schlüsselnotdiensten, wenn diese mehr als das Doppelte normaler Schlüsseldienste verlangen, befand der Erste Strafsenat am BGH (BGH, Urt. v. 16.01.2020, Az. 1 StR 113/19). Die Rechtsprechung konzentriert sich also auf Fälle enormer Abweichung vom durchschnittlichen Marktpreis. Das ändert jedoch nichts daran, dass es die Nichtigkeit des Geschäfts allein wegen eines auffälligen Missverhältnisses – in Deutschland nicht gibt. Ein verwerfliches Handeln kommt hinzu, auch wenn es bei einer enormen Preisabweichung vom Gericht angenommen wird. In die Preisbildung des Marktes greift die Rechtsprechung jedoch nicht oder nur geringfügig ein.
Dem kann man aus ökonomischer Sicht nur zustimmen. Denn die Orientierung an extremen Ausreißern vom Durchschnittswert hat für Gerichte den großen Vorteil, ohne immensen Rechercheaufwand zu einer im Großen und Ganzen vernünftigen Entscheidung zu gelangen, auch wenn sich in Einzelfällen negative Auswirkungen auf dem Markt einstellen könnten. Wenn somit als Folge der Knappheit der Durchschnittspreis für Gesichtsmasken sich von 50 Cent auf zwei Euro vervierfacht hat und in einzelnen Fällen 4,50 Euro bezahlt wurden, führt dies zurr Nichtigkeit des Vertrags wegen Wucher. Das ist aus ökonomischer Sicht nicht zu beanstanden. Denn diese Fallkonstellation stellt die Höhe des Durchschnittspreises nicht grundsätzlich in Frage, sondern kappt nur bizarre Ausreißer nach oben ab.
Rechtsordnung schützt Preiserhöhungen als Marktmechanismus
Wie sieht es aber aus, wenn der durchschnittliche Preis wegen der Verknappung um mehr als das Doppelte nach oben abweicht, wenn er zum Beispiel das Dreifache des Kostenpreises zuzüglich einer angemessenen kalkulatorischen Verzinsung des Eigenkapitals ausmacht? Dies ebenfalls als Wucher einzuordnen, wird von Manchen gefordert, ist aber ökonomisch problematisch.
Solche Preiserhöhungen in Mangelsituationen sind Teil des von der Rechtsordnung geschützten Marktmechanismus. Denn sie generieren Extraprofite, die das Angebot erhöhen, die Knappheit vermindern und dadurch den Preis in einem dynamischen Prozess wieder auf den Gleichgewichtspreis drücken, der den Kosten plus einen kalkulatorischen Zins für den Einsatz von Eigenkapital entspricht. Unterbände man diesen Mechanismus durch gerichtlich verfügte Obergrenzen, zerstörte man ihn oder trüge dazu bei, dass er seine erwünschte Wirkung verliert, die eingetretene preistreibende Knappheit zu überwinden. Hohe Preise und die durch sie bewirkten Extraprofite sind das Signal an Alle, dass man viel Geld verdienen kann, wenn man diese Knappheit beseitigen hilft. Dieser Mechanismus ist seit dem 18. Jahrhundert bekannt und wissenschaftlich klar beschrieben worden. Seine Wirkmächtigkeit wird oft nicht zur Kenntnis genommen, moralisierender Tunnelblick statt Umsichtigkeit.
Dabei haben sich über zwei Jahrtausende Rechtswissenschaftler mit einem verwandten Fall beschäftigt: Ein Händler in Alexandria erhält Nachricht von einer Hungersnot auf Rhodos. Er belädt sofort sein schnellstes Schiff mit Lebensmitteln und segelt nach Rhodos. Soll er den Käufern dort mitteilen, dass weitere Schiffe unterwegs sind und in wenigen Stunden eintreffen werden, oder soll er die Ladung zum bestmöglichen Preis verkaufen dürfen? Seit Marcus Tullius Cicero haben legendäre Rechtsgelehrte, darunter Thomas von Aquin, Hugo Grotius und Robert-Joseph Pothier, diesen Fall behandelt und eine den Preis sofort absenkende vorvertragliche Aufklärungspflicht mit der Begründung abgelehnt, dies würde den Anreiz verringern, die Lebensmittel möglichst schnell in die Hungergebiete zu liefern. Diese hatten eine intuitive Vorstellung von dem, was die Wirtschaftswissenschaft erst Jahrhunderte später liefern konnte. Sie beschrieb den Markt als dezentralisiertes Entdeckungsverfahren, das seine Steuerungsfähigkeit gerade dann erhält, wenn die aktuellen Marktpreise vom kostendeckenden Gleichgewichtspreis nach oben oder unten abweichen dürfen.
Ausnahmsweise Entlastung durch Transferleistungen
Es kann allerdings Gründe geben, diesen Mechanismus sozialstaatlich zu ergänzen oder ihn rechtlich zu unterbinden oder zu begrenzen. Dann nämlich, wenn die Preissteigerungen exorbitante Schäden bei den benachteiligten Käufern verursachen, die so groß sind, dass sie auch bei Vorliegen aller vorteilhaften Wirkungen des Marktmechanismus nicht hingenommen werden können. Dies würde gelten, wenn die Verteuerung von Konsumgütern viele Menschen in die Armut treibt oder sogar unzumutbar belastet.
Die beste Lösung ist dann, die besonders hart betroffenen Gruppen durch Transferzahlungen aus Steuergeldern zu entlasten. Dies mindert die Benachteiligung durch hohe Preise, ohne gleichzeitig den Mechanismus selbst, der die Knappheit beseitigt, zu zerstören. Die Abschöpfung der Extragewinne durch Besteuerung ist in dieser Konstellation offensichtlich nicht zielführend, da sie den Mechanismus, der die Knappheit beseitigt, zerstört, ohne für sich genommen etwas zum Abbau der sozialen Verwerfungen beizutragen.
Ersetzung des Marktes durch Zuteilung als letztes Mittel
Nur wenn diese Möglichkeit nicht oder nicht schnell genug verfügbar ist, kommt auch eine generelle Deckelung der Preise in Betracht. Letzteres ist eine komplexe Entscheidung, weil sie nicht nur die Notlage der Betroffenen richtig diagnostizieren muss, sondern auch die Wirkungen, welche die Zerstörung des Marktmechanismus zur Folge hat. Diese bestehen einerseits in der zeitlichen Verlängerung der Mangellage und andererseits darin, dass sich Warteschlangen auf dem Markt bilden und einige Käufer bei dem gedeckelten Preis überhaupt nicht bedient werden. Um dem abzuhelfen, müssen dann die Waren administrativ zugeteilt werden, zum Beispiel durch Lebensmittelmarken oder Voucher für Gesichtsmasken und dergleichen. Erfahrungsgemäß sind solche Zuteilungen eine Brutstätte von Korruption sowie Vettern- und Günstlingswirtschaft und kommen nur als Ultima Ratio mit zeitlicher Begrenzung in Betracht
Dies wäre ein Fall für Regierung, Parlament und regulierende Behörden – nicht für die Gerichte. Denn nur diese sind in der Lage, sich die notwendigen Informationen jenseits prozessrechtlicher Restriktionen zu beschaffen. Außerdem kann ein Gericht nur den überhöhten Preis unterbinden. Ihm fehlen alle Möglichkeiten, das verknappte und preislich gedeckelte Angebot einigermaßen gerecht zu verteilen, was dann dringend geboten ist. Die Zwangslage, die hier auftritt, wird nicht durch die Preisobergrenze allein beseitigt. Sie kann sogar verschlimmert werden, wenn Einige überhaupt nichts mehr bekommen.
Preissteigerung durch Horten von Gütern
Die dritte relevante Fallgruppe liegt vor, wenn ein enorm überhöhter Preis keine aktuelle Knappheit zum Ausdruck bringt, sondern genügend Güter vorhanden sind, diese aber gehortet und nicht angeboten werden. Dies geschieht, wenn die Anbieter künftige Mangellagen prognostizieren, Waren horten und nur einen Bruchteil der verfügbaren Bestände zu enorm hohen Preisen verkaufen, weil sie erwarten, in Zukunft einen noch höheren Preis zu erzielen.
Anders als auf dem Gasmarkt ist diese Situation aktuell auf dem Rohölmarkt nach Einschätzung einiger Beobachter gegeben. Spekulative Warentermingeschäfte sorgen dann dafür, dass vorhandene Waren nur in geringer Menge und zu erhöhten Preisen auf dem aktuellen Spotmarkt angeboten werden. Denn sie werden später, wenn die Preise noch weiter gestiegen sind, per Termin verkauft. Dadurch erhöht sich das zukünftige Angebot.
Sollte das unterbunden werden? Grundsätzlich nicht, denn Spekulation durch Warentermingeschäfte mildert regelmäßig Preisbewegungen ab und damit auch soziale Verwerfungen. Wenn einige Spekulanten wissen, dass die nächste Weizenernte schlecht ausfallen wird, strecken sie durch ihre Geschäfte die künftigen Preisbewegungen zeitlich nach vorne und verringern sie insgesamt. Ohne Spekulation und Warenhortung würden die Preise erst später schlagartig und stärker ansteigen, nachdem die Waren sich aktuell verknappt haben und zusätzliche Verkäufe aus Warentermingeschäften nicht existieren. In solchen Fällen ist es nicht geboten, administrativ in Terminmärkte einzugreifen.
Es kann aber auf Terminmärkten überschießende Tendenzen geben. Dies geschieht, wenn sich die Spekulation verselbständigt und nicht Informationen über künftige Mangellagen, sondern die steigenden Preise selbst die Spekulation befeuern. Ökonomen sprechen von "Irrational Exuberance". Dann können Mangellagen entstehen, die nur durch einen Preisstopp und die vom Staat erzwungene Auflösung bestehender Lager überwindbar sind, ein Fall von Marktversagen.
Auch für Derartiges ist der Wuchertatbestand allerdings nicht geeignet. Die Analyse der dann auftretenden Probleme ist wiederum sehr informationsintensiv. Die Rechtsfolge des Wuchers würde zudem nur eine Deckelung des Preises zur Folge haben, die für sich genommen das Angebot weiter verknappt und die Bildung von Lagerbeständen weiter forciert. Damit würden die Nachfrager nicht aus ihrer Zwangslage befreit. Wiederum sind in solchen Ausnahmezuständen Regierungen und Parlamente gefragt. Der Instrumentenmix, der dann notwendig wird, kann von einem Gericht gar nicht zur Verfügung gestellt werden.
Der Autor Prof. Dr. Hans-Bernd Schäfer ist Ökonom und Affiliate Professor an der Bucerius Law School in Hamburg.
Preissteigerung für Güter: . In: Legal Tribune Online, 30.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49471 (abgerufen am: 23.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag