Eine Frage an Thomas Fischer: Sind Poli­zisten gute Zeugen?

Gastbeitrag von Prof. Dr. Thomas Fischer

15.02.2023

Polizisten sind die häufigsten und oft wichtigsten Zeugen vor Gericht. Ihr Aussageverhalten gilt als professionell. Doch wenn es um eigene Kollegen geht, bedarf es einer besonders kritischen Würdigung ihrer Aussagen, meint Thomas Fischer

Zur Klärung dieser Frage gilt wie so oft: Es kommt darauf an. Nämlich darauf, wann ein Zeuge als "gut" zu bezeichnen ist, darauf, welche zeugenspezifischen Eigenschaften man aus dem Beruf "Polizist" ableiten kann, und darauf, wie man solche Eigenschaften unter dem Gesichtspunkt "gut" bewertet: 

Zeugen 

Zeugen sind natürliche Personen, die in justizförmigen Verfahren als Beweismittel verwendet werden, um Tatsachen festzustellen. Der Zeuge im Strafverfahren (auf das wir uns hier beschränken) hat, wenn er geladen wird, die Pflicht, vor Gericht zu erscheinen, Angaben zur Person zu machen, zur Sache auszusagen, falls nicht ein gesetzlicher Grund eine Verweigerung der Aussage oder Auskunft erlaubt (§§ 52 bis 55 StPO), und die Wahrheit zu sagen (§ 48 Abs. 1 StPO).  

Außerdem muss er, falls es angeordnet wird, die Wahrheit seiner Aussage beschwören oder eidesgleich versichern (§§ 59 ff. StPO). Wer als Zeuge vor Gericht vorsätzlich die Unwahrheit sagt (= lügt), wird bestraft (§ 153 StGB). Wer eine Lüge beschwört, wird strenger bestraft (§ 154 StGB), und wer fahrlässig die Unwahrheit sagt und beschwört, wird ebenfalls bestraft ( § 161 StGB). Zeugenaussagen werden also vom Gesetz wichtig genommen; ihre Verlässlichkeit wird sogar mit hohen Strafdrohungen (Meineid: ein bis fünfzehn Jahre Freiheitsstrafe!) abgesichert.  

Es geht bei Zeugenaussagen um die Wahrheit von Tatsachen (siehe § 57 StPO: Zeugen werden vor ihrer Aussage "zur Wahrheit ermahnt"). Bei den Tatsachen unterscheidet man "äußere" ("Das Auto ist blau") und innere ("Ich dachte, das Auto sei blau"); die (inneren) Tatsachen unterscheidet man von Bewertungen ("Das Auto ist schön"), was nicht immer ganz einfach ist ("Ich dachte, das Auto sei schön" ist eine Tatsache).  

Die Wahrheit ist das Ziel jeder Beweiserhebung. Allerdings ist nicht stets und von vornherein klar, was unter "Wahrheit" zu verstehen ist. Je näher man dem Begriff kommt, desto mehr Fragen und Möglichkeiten tun sich auf. In der großen Mehrzahl der Fälle ist gemeint: Die Übereinstimmung einer sprachlichen Beschreibung mit einer (gegenwärtigen oder vergangenen) Tatsache (Faktizität). Man muss, um diesem forensischen Begriff zu vertrauen, nicht über "absolute", "natürliche", "relative" Wahrheiten und Höhlengleichnisse philosophieren. Wichtiger ist zu wissen, wie subjektive (innerpersonale) Wahrheit und Gewissheit entsteht, welchen Einflüssen der Entstehung und Veränderung sie ausgesetzt ist und wie man in einer förmlichen Befragung einer Person dieser inneren Wahrheit so nahe kommt, dass sich verlässliche, rationale Rückschlüsse auf eine äußere Tatsachen-Wahrheit schließen lassen, die als "akzeptable" Grundlage für ein Urteil dienen kann.  

Gute und schlechte Zeugen 

Was ist ein "guter" Zeuge? Man könnte sage: Einer, der sagt, was man hören möchte, der die eigenen Vorannahmen bestätigt, Tatsachen bekundet, die das erstrebte Ergebnis stützen. Eine solche Beurteilung von "gut" wird (fast) jeder von sich weisen, da sie offenkundig parteiisch und voreingenommen, also interessengeleitet ist. Nun ist es allerdings (auch) im Strafprozess so, dass dieser insgesamt von unterschiedlichen, ja gegenläufigen Interessen bestimmt wird: Der Beschuldigte möchte vermutlich freigesprochen werden, die Strafverfolgungsbehörde strebt jedenfalls zum Zeitpunkt der Anklage das Gegenteil an (§ 170 Abs. 1 StPO); das Gericht hat vorab entschieden, der Beschuldigte sei "hinreichend verdächtig" (§ 203 StPO), eine Verurteilung also wahrscheinlich.  

Geschädigte, Nebenbeteiligte, Tatopfer, Angehörige können wiederum andere Interessen haben. Und neben die objektiven Interessen treten mittelbare, subjektive: Ansehen, Macht, Eitelkeit, Einstellungen, Überzeugungen, Sympathien oder Antipathien, Berufsrollen, Erwartungen Dritter. Viele solcher Interessen sind naheliegend oder können "professionell" unterstellt und berücksichtigt werden; manche sind gut verborgen oder unter verschiedenen Gesichtspunkten legitimiert. Dass etwa  "Opferzeugen" spezifische, über das unparteiische Aufklärungsinteresse hinausgehende Interessen haben können (Genugtuung, Anerkennung, ggf. auch Rachebedürfnis), liegt auf der Hand und wird in der Öffentlichkeit allgemein als akzeptabel angesehen oder sogar begrüßt.  

Polizisten 

Polizisten sind aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit häufig Zeugen in Strafprozessen. Das gilt sowohl für Beamte der Kriminalpolizei als auch (noch häufiger) für Schutzpolizisten. Gegenstand ihrer Vernehmung als Zeuge sind in den meisten Fällen bestimmte Geschehensabläufe oder äußere Umstände (z.B. Feststellungen zum Tatort, zum Verhalten von Personen, zum Auffinden von Spuren usw.). Die Vernehmungsgegenstände lassen sich auch nach bestimmten Konstellationen unterscheiden; diese Fallgruppen müssen auch für die Beurteilung der Eingangsfrage unterschieden werden:  

  • Quasi neutrale Tatsachenfeststellungen, insbesondere in massenhaft vorkommenden Verfahren (Straßenverkehrsdelikte, kleine Diebstähle, einfache Körperverletzungen). In solchen Fällen stützen sich Aussagen von Polizeizeugen in Monate später stattfindenden oft nurmehr auf Tagebuch-Aufzeichnungen und nur wenig auf konkrete Erinnerungen;  
  • Tatsachen mit hohem Erinnerungs-Gehalt, häufig in vom Zeugen selbst bearbeiteten größeren Fällen (Beispiel: "Ermittlungsführer" eines Falles bei der Kriminalpolizei);  
  • Fälle, in denen Tatablauf oder Tatfolgen mit der beruflichen Position des Polizei-Zeugen verbunden sind (Beispiel: Verfahren gegen Kollegen; Verfahren wegen Widerstandshandlungen oder Angriffe auf den Zeugen oder andere Polizeibeamte).   

Ganz allgemein ist zu sagen, dass eine häufige Ladung als Zeuge in Strafprozessen bei Polizisten wie bei allen anderen Menschen die Scheu und Beklommenheit vor der Situation mindert und sich bis zur Quasi-Routine entwickeln kann. Polizeibeamte sind überdies schon aufgrund ihrer Ausbildung mit wesentlichen Abläufen und Regeln des Strafprozesses vertraut und erleben die Förmlichkeiten des Verfahrens anders als unerfahrene Laien.  

Als Risiko für die Wahrheitsermittlung aus Sicht des Gerichts hat dies aber auch zur Folge, dass Polizeibeamte viel besser in die Abläufe und denkbaren Fallstricke einer Vernehmung eingeweiht und eingeübt sind als Laien. Ein "Einschüchterungseffekt" tritt bei Ihnen selten ein; auf (meist etwas alberne) dramatische "nachdrückliche Ermahnungen" durch Staatsanwalt, Gericht oder Verteidiger reagieren sie nicht furchtsam, sondern bauen einen hohen emotionalen Widerstand auf. Der Vorhalt: "Sie widersprechen sich" löst in der Regel keine Panik aus. Außerdem sind die Aussageinhalte unter professionellem Blickwinkel so beschaffen, dass sie "vollständig" und "rund" dargeboten und auch "rückwärts" dargeboten werden können. Klassische Vernehmungs-"Tricks" wie etwa, den Geschehensablauf nicht chronologisch, sondern "kreuz und quer" abzufragen, wichtige Vernehmungsteile durch scheinbar belanglose Zwischenfragen zu unterbrechen oder scheinbar ahnungslose Fragen zu stellen, deren (richtige) Antwort der Vernehmende schon kennt, versagen bei Polizeibeamten, die solche Vernehmungsformen schon oft erlebt oder selbst praktiziert haben, in der Regel. 

Im Übrigen ist es üblich, dass als Zeugen geladene Beamte sich vor ihrer Vernehmung noch einmal die polizeiliche Akte anschauen, um sich die Sache "zu vergegenwärtigen"; tun sie das nicht und erklären dann vor Gericht, sie hätten "keine Ahnung", ist das pflichtwidrig. Das erhöht natürlich umgekehrt das Risiko, dass bei der gerichtlichen Vernehmung nicht die tatsächliche Erinnerung des Zeugen, sondern seine Erinnerung an den Akteninhalt vorgetragen wird, den er am Vortag gelesen hat.  

Polizisten vor Gericht 

Das größte Risiko für eine unbeeinflusste Wahrheitsermittlung besteht, wenn Polizeibeamte als Zeugen in Verfahren aussagen, in denen sie selbst oder Kollegen als aktive Teile des Tat- Geschehens (z.B. Widerstandshandlungen) oder von umstrittenen Abläufen (z.B. Vernehmungen bei der Polizei) beteiligt sind. Hier bestehen durchaus gegenläufige Interessenlagen: Zum einen das Bewusstsein, als Polizeibeamter zu pflichtgemäßem und wahrheitsgetreuem Aussagen verpflichtet zu sein, zum anderen ein hohes Maß an professioneller Verbundenheit bis hin zum "Korpsgeist", verbunden mit der (berechtigten) Furcht, im Kollegenkreis als "unkollegial" dazustehen.  

Dazu kommt schließlich auch eine nicht ganz selten von Vorurteilen und allgemeinen rechtspolitischen Einstellungen geprägte "Haltung" gegenüber den Regeln und Grenzen des Strafverfahrens. Wer im Allgemeinen die Ansicht vertritt, "die Justiz" lasse in unbegreiflicher Milde reihenweise vermutlich Schuldige laufen, die von der Polizei "mühevoll" eingefangen wurden, wird gegenüber Fragen nach seinem Vernehmungsstil oder dem Verhalten des Beschuldigten bei seiner Verhaftung gewisse "Tendenzen" zeigen; dasselbe gilt umgekehrt. Es ist nicht sinnvoll, solche Einflüsse zu leugnen oder mit dem Hinweis darauf, dass so etwas unzulässig sei, als ehrenrührig anzusehen. Wenn alles, was nicht zulässig ist, auch nicht passieren würde, bräuchte man den Strafprozess ja gar nicht.  

Insoweit gilt hier dasselbe wie bei der häufigen, aber unsinnigen Beteuerung von Richtern nach einem Ablehnungsantrag, sie "fühlten sich nicht befangen" – Darauf kommt es nämlich überhaupt nicht an. Und wenn man die "dienstlichen Erklärungen" abgelehnter Richter zu den Tatsachenbehauptungen liest, auf welche der Befangenheitsantrag gestützt ist, wird man nicht ganz selten in der Annahme bestärkt, dass die "reine Wahrheit" unter dem Einfluss von (eigenen) Interessen recht flexibel empfunden wird.  

Übertragen auf Polizei-Zeugen: Ein Hauptmeister oder Oberkommissar ist ("als solcher") kein besserer oder schlechterer Mensch als ein Richter, ein Staatsanwalt und alle anderen auch. Er hat daher auch im Durchschnitt ähnliche Schwächen. Wenn man ihn fragt, ob er oder sein Freund und Kollege etwas falsch gemacht haben, ist die Zuverlässigkeit seiner Antwort nicht höher als bei jedem anderen.  

Hier ist abschließend noch ein weiteres Risiko anzusprechen: Es gibt bei Gerichten (auch Staatsanwaltschaften) eine erhebliche Scheu, Polizeibeamte als Zeugen "hart anzufassen", ihre Glaubhaftigkeit in Frage zu stellen, die üblichen, höchstrichterlich abgesicherten  Methoden der Glaubwürdigkeitsüberprüfung tatsächlich gleichermaßen anzuwenden wie bei "Laien"-Zeugen. Das muss nicht bis zum Credo "Polizisten lügen nicht" gehen. Aber auch aufgrund der immer wieder öffentlich gemachten Spannungen ("lasche Justiz") und einer verbreiteten Stimmung, wonach die Polizei allgemein mehr Unterstützung im "Kampf" gegen Verbrechen verdiene, können Verzerrungen und Hemmungen entstehen, die nicht sachgerecht sind.  

Antworten, im Ergebnis:  

1. Polizeibeamte sind aufgrund Ausbildung und Erfahrung mit den Abläufen von Verfahren und Vernehmungen gut vertraut. Das fördert die Konzentration aufs Wesentliche, kann bei problematischen Vernehmungsgegenständen aber auch ein Aufklärungsrisiko beinhalten.  

2. Polizeibeamte sind insbesondere in Massenverfahren und bei Aussagen über äußere, insbesondere technische Abläufe meist nicht inhaltlich involviert und "interessiert", Das fördert die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage.  

3. Bei Zeugenaussagen von Polizeibeamten, die sie selbst, insbesondere ihre Rolle als Tatopfer oder Vernehmungsbeamte betreffen, bestehen aufgrund der professionellen Vorkenntnisse der Zeugen Risiken. Dasselbe gilt für Vernehmungen zu möglichem Fehlverhalten von Kollegen aufgrund dienstlicher und persönlicher Verbundenheit. 

4. Polizeibeamte sind ebenso wenig "Gegner" wie "Verbündete" des Gerichts. Für die meisten Polizeibeamte ist das Auftreten als Zeuge in Hauptverhandlungen eine zusätzliche, zeitlich erheblich belastende Angelegenheit. Sie sollten bei Vernehmungen weder bevorzugt noch benachteiligt werden. Die Furcht mancher Richter, bei der Polizei "schlecht angesehen" zu sein, wenn nicht jede Aussage "zur vollsten Überzeugung" geglaubt wird, weil sie "ruhig und sachlich" erfolgt sei, ist nicht sachgerecht.   

Zitiervorschlag

Eine Frage an Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 15.02.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51067 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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