EuGH zu Religionsfreiheit: Das Tragen von Kopf­tüchern am Arbeits­platz kann ver­boten werden

Gastbeitrag von Prof. Dr. Michael Fuhlrott

15.07.2021

Unternehmen dürfen am Arbeitsplatz das Tragen sichtbarer religiöser Zeichen verbieten, wenn diese die betriebliche Neutralität gefährden. Pauschale Kopftuchverbote wird es in Deutschland aber weiterhin nicht geben, meint Michael Fuhlrott.

Die Reichweite der Religionsfreiheit und damit einhergehend das Tragen von Kopftüchern als Ausübung dieser Freiheit beschäftigen deutsche Gerichte regelmäßig: So verurteilte das Bundesarbeitsgericht (BAG) erst im vergangenen Jahr das Land Berlin zur Zahlung einer Entschädigung wegen der Nichtberücksichtigung einer kopftuchtragenden Muslima in einem Bewerbungsverfahren um eine Stelle im Schuldienst (Urt. v. 27.08.2020, Az. 8 AZR 62/19).

Ein pauschales Verbot sei auch unter Berufung auf die Vorgaben des Berliner Neutralitätsgesetzes nicht gerechtfertigt. Nur bei Anhaltspunkten für "konkrete Störungen" durch das Tragen eines Kopftuchs seien betriebliche Neutralitätsvorgaben erlaubt, so das Gericht.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich am Donnerstag ebenfalls mit den Neutralitätsvorgaben zweier Unternehmen beschäftigt (Urt. v. 15.07.2021, Az. C-804/18 und C-341/19).

Rechtslage in Deutschland: Kopftuchverbot nur bei konkreten Störungen

Das Erfordernis konkreter Störungen bzw. der Darlegung konkreter Beeinträchtigungen der unternehmerischen Betätigungsfreiheit ist auch in der Privatwirtschaft notwendige Voraussetzung für eine betriebliche Neutralitätsvorgabe, wie das BAG anlässlich einer kopftuchtragenden Verkäuferin bereits im Jahr 2002 feststellte (BAG, Urt. v. 10.10.2002, Az. 2 AZR 472/01).

Mit dieser Rechtsprechung liegt die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), das 2015 in einer grundlegenden Entscheidung (Beschl. v. 27.01.2015, Az. 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10) zu pauschalen Kopftuchverboten für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen entschied, dass derartige Neutralitätsvorgaben nur erlaubt seien, wenn es zu "einer hinreichend konkreten Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität" komme.

Ausnahmen davon und keiner besonderen Rechtfertigung bedürfen Neutralitätsvorgaben indes nur dann, wenn die Person mit religiösen Zeichen unmittelbar den Staat in einer klassischen Über-Unterordnungssituation repräsentiert – wie es etwa bei Rechtsreferendarinnen der Fall ist (vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss vom 14.01.2020, Az. 2 BvR 1333/17).

EuGH vormals: Neutralitätswunsch als zulässige Einschränkung

Die europäische Sichtweise hierauf war hingegen teilweise unternehmensfreundlicher. So ließ der EuGH in der Vergangenheit Sympathien für betriebliche Neutralitätsvorgaben erkennen, als er unter Betonung der unternehmerischen Freiheit das arbeitgeberseitige Verlangen eines religiös "neutralen" Erscheinungsbildes einer Empfangsmitarbeiterin mit direkten Kundenkontakt als berechtigt ansah (Urt. v. 14.03.2017, Az. C-157/15).

Hierauf hofften womöglich auch zwei Unternehmen, über deren betriebliche Neutralitätsvorgaben der EuGH am Donnerstag entschied: Zum einen ging es um das Verbot des Tragens sichtbarer religiöser Zeichen in einem Drogeriemarkt in Süddeutschland, zum anderen um den Fall einer kopftuchtragenden Erzieherin in Hamburg. In beiden Fällen hatten die jeweiligen Arbeitgeber es ihren Mitarbeiterinnen untersagt, sichtbare religiöse Zeichen und damit auch ein Kopftuch zu tragen.

Die betroffenen Mitarbeiterinnen, die durch ihre Arbeitgeber nicht mehr beschäftigt wurden bzw. abgemahnt worden waren, setzten sich dagegen gerichtlich zur Wehr. Die Arbeitgeber beriefen sich auf die unternehmerische Betätigungsfreiheit und den Wunsch nach betrieblicher Neutralität.

Die erkennenden Gerichte – im Fall der Nürnberger Verkäuferin das BAG als Revisionsinstanz (Beschl. v. 30.01.2019, Az. 10 AZR 299/18 (A)) und im Fall der Hamburger Erzieherin das Hamburger Arbeitsgericht (Beschl. v. 21.11.2018, Az. 8 Ca 123/18) - setzten sodann ihre Verfahren aus. Sie baten den EuGH um Vorabentscheidung, ob das Unionsrecht betriebliche Neutralitätsvorgaben erlaube.

EuGH: Nationales Verfassungsrecht darf präzisieren

Der EuGH vertrat dazu nun eine differenzierende Sichtweise: Ein Verbot jedweder religiöser Zeichen im Betrieb unabhängig von der Konfession oder Weltanschauung stelle eine mittelbare Diskriminierung wegen der Religion dar. Gebe es ein "wirkliches" und vom Arbeitgeber nachgewiesenes Bedürfnis an betrieblicher Neutralität und drohe ohne deren Befolgung eine Beeinträchtigung der unternehmerischen Freiheit aufgrund entsprechender Kundenerwartungen, könne eine solche Neutralitätspolitik allerdings gerechtfertigt sein. 

Abzuwägen sei aber, dass dieses Verbot Angehörige bestimmter religiöser Gruppen in höherem Maße treffe, wenn bei diesen das Tragen großflächiger religiöser Zeichen stärker mit der Religion verbunden sei als bei anderen religiösen oder weltanschaulichen Strömungen. Dabei sei auch zu beachten, dass eine wirksame betriebliche Neutralitätspolitik nur wirksam verfolgt werden könne, wenn überhaupt keine sichtbaren Bekundungen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen erlaubt seien, da das Tragen jedes noch so kleinen Zeichens das mit der Neutralitätsregel verfolgte Ziel beeinträchtigen könne. Zudem legt der EuGH Wert darauf, dass nationale Vorschriften zum Schutz der Religionsfreiheit bei der Abwägung ebenfalls zu beachten seien. Sei die Religionsfreiheit in einem Mitgliedstaat – so wie dies in Deutschland der Fall ist – besonders stark ausgeprägt, dürften diese nationalen Vorschriften als günstigere Vorschriften gegenüber dem Unionsrecht berücksichtigt werden. Durch die nationalen Gerichte müssten diese Vorgaben daher als weiterer Aspekt in die vorzunehmende Abwägung mit eingestellt werden.

Damit schloss sich der EuGH in Teilen den Ausführungen seines Generalanwalts Rantos (Schlussantrag v. 25.02.2021) an, der gleichermaßen in seinen Schlussanträgen die Bedeutung der nationalen Vorschriften zur Religionsfreiheit betont hatte.

Weiterhin keine pauschalen "Kopftuchverbote" in Deutschland

Der EuGH bestätigt mit seiner Entscheidung zwar, dass der Wunsch nach religiöser Neutralität ein berechtigtes Anliegen von Unternehmen ist. In Ländern, wo die Religionsfreiheit einen hohen Stellenwert genießt, kommt dieser aber weiterhin hohes Gewicht zu und sie ist bei der Abwägung zu berücksichtigen.

Deutschland ist ein klassisches Beispiel eines solchen Landes, bei dem die Religionsfreiheit besondere Bedeutung hat und von den nationalen Gerichten angemessen zu berücksichtigen ist. Damit dürfte das Urteil die bisherige Handhabe in Deutschland bestätigen.

Pauschale Kopftuchverbote werden damit weiterhin unzulässig sein. Nur, wenn im Ausnahmefall konkrete Störungen bzw. "wirkliche Bedürfnisse" dargelegt werden können, erscheinen Verbote religiöser Zeichen denkbar. Das ist letztlich aber nichts anderes als die Handhabe, die bislang schon von deutschen Arbeits- und Verfassungsgerichten verfolgt wurde.

Die Folge: Konflikt zwischen Unions- und Verfassungsrecht?

Die Entscheidung des EuGH ist überdies salomonisch. Abwägungen im Einzelfall bleiben weiterhin notwendig. Dabei darf auch das nationale Verfassungsrecht als für den Einzelnen "günstigeres Recht" eine Rolle spielen. Die Entscheidung umgeht damit galant ein verfassungsrechtliches Problem, das sich am Horizont bereits abgezeichnet hatte.

Die Bejahung des strikten Anwendungsvorrangs des Unionsrechts auch gegenüber deutschem Verfassungsrecht hätte im Falle der grundgesetzlich geschützten Religionsfreiheit für eine Kontroverse mit dem BVerfG sorgen und die deutschen Verfassungsrichter auf den Plan rufen können.

Das BVerfG hätte sich in der Folge mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die sog. "Solange-Rechtsprechung" zum Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Verfassungsrecht auch in diesem Fall Anwendung findet. Danach gilt der Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen (Verfassungs-)recht nämlich nur solange, wie durch das Europäische Recht und die Rechtsprechung des EuGH ein wirksamer Grundrechtsschutz generell gewährleistet wird, der mit dem Schutzniveau des Grundgesetzes "im Wesentlichen gleichzuachten ist" (BVerfG, Beschl. v. 22.10.1986, Az. 2 BvR 197/83).

Die Bejahung einer uneingeschränkten betrieblichen Neutralitätspolitik auf Kosten der deutschen Religionsfreiheit wäre ein Eingriff in diese Freiheit gewesen. Durch das ausdifferenzierte Urteil des EuGH entsteht ein solcher Konflikt im vorliegenden Fall nicht.

Der Autor Prof. Dr. Michael Fuhlrott ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner bei FHM sowie Professor für Arbeitsrecht an der Hochschule Fresenius in Hamburg.

Beteiligte Kanzleien

Zitiervorschlag

EuGH zu Religionsfreiheit: . In: Legal Tribune Online, 15.07.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45479 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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