Verbesserter Schutz für Flüchtlingsfamilien: EuGH kor­ri­giert (erneut) die deut­sche Praxis

von Dr. Constantin Hruschka

04.08.2022

In Deutschland war die Familienzusammenführung von Flüchtlingen bisher nur bis zum Erreichen zur Volljährigkeit der Kinder möglich. Der EuGH korrigiert diese familienfeindliche Praxis mit deutlichen Worten, so Constantin Hruschka.

Beschränkungen bei der Familienzusammenführung sind neben dem stark regulierten Zugang zum Arbeitsmarkt und der Kürzung von Unterstützungsleistungen das beliebteste Feld beim Versuch, die Migration nach Deutschland zu steuern. Auf europarechtlicher Ebene existiert aber die sog. Familienzusammenführungsrichtlinie (RL 2003/86/EG). Sie beinhaltet neben allgemeinen Vorgaben zum Familiennachzug auch Sonderregeln für Flüchtlinge, die deren besonderer Situation Rechnung tragen. Danach besteht bei Antragsstellung innerhalb von drei Monaten nach unanfechtbarer Anerkennung als Flüchtling oder asylberechtigte Person einen Anspruch auf den Nachzug. Dieser Anspruch ist in Deutschland in § 29 Abs. 2 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) umgesetzt.

Jetzt war die Regel Gegenstand von zwei Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Elternnachzug (verb Rs. C-273/20 und C-355/20) und zum Kindernachzug (Rs. C-279/2020). Denn nach den deutschen Normen ist die Minderjährigkeit der Kinder Voraussetzung für den Nachzug der Eltern (vgl. § 36 Abs. 1 AufenthG) und auch der Kinder (vgl. § 32 Abs. 1 AufenthG). Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, insbes. Urt. v. 18.04.2013, Az. 10 C 9.12) erlosch daher der Anspruch auf Familienzusammenführung mit der Volljährigkeit des Kindes.

Während beim Kindernachzug die Minderjährigkeit bei Antragstellung ausreichte, um den Anspruch zu erhalten, musste beim Elternnachzug, dass Kind bei Einreise noch minderjährig sein, so dass der EuGH zwei unterschiedliche Konstellationen zu beurteilen hatte.

Rechtswidrigkeit war seit 2018 klar

Seit einer Entscheidung des EuGH zu einer niederländischen Regelung zum Elternnachzug (Urt. v. 12.04.2018, Az. C-550/16) war im Grunde klar, dass die deutsche Norm europarechtswidrig ist. Der EuGH hatte in der damaligen Entscheidung den Zeitpunkt der Einreise der nachziehenden Eltern als Referenzzeitpunkt nicht einmal erwogen. Vielmehr ging es um die Frage, ob auf den Zeitpunkt der Einreise der asylsuchenden Minderjährigen, den Zeitpunkt ihrer Asylantragstellung oder den Zeitpunkt der unanfechtbaren Feststellung der Flüchtlingseigenschaft abzustellen ist.

Ein weiteres Urteil des EuGH zu einer belgischen Regelung zum Kindernachzug (Urt. v. 16.07.2020 Az. C-133/19, C-136/19 und C-137/19) verdeutlichte, dass auch die deutsche Regelung zum Kindernachzug nicht europarechtskonform ist. Auch eine Entscheidung zur deutschen Regelung des § 26 AsylG verdeutlichte diese Einschätzung nochmals (EuGH, Urt. v. 09.09.2021, Az. C-768/19). In dieser stellte der EuGH klar, dass auch den Eltern Schutz zusteht, wenn einem minderjährigen Kind nach einem Asylantrag Schutz gewährt wurde. Dazu reiche es, wenn die Eltern vor der Volljährigkeit des Kindes einen Asylantrag stellen.

EuGH wird sehr deutlich

Trotz einer Nachfrage seitens des EuGH im August 2020, ob die Vorabentscheidungsverfahren aufrechterhalten werden, bestand das BVerwG auf der Klärungsbedürftigkeit der Frage und beharrte auf einer Entscheidung des EuGH.

Dementsprechend deutlich fielen dann auch die Urteile aus Luxemburg aus. Die deutsche Regelung sei aus denselben Gründen rechtswidrig, die bereits in den genannten Entscheidungen zu der niederländischen und der belgischen Regelung genannt wurden. Das Abstellen auf den Einreisezeitpunkt der nachziehenden Personen oder den Zeitpunkt der Asylentscheidung sei schon deshalb nicht regelungskonform, weil dadurch die mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichte die Möglichkeit hätten, den Anspruch durch verzögerte Bearbeitung "in einer Weise [zu] handeln, die das Recht auf Familienleben sowohl eines Elternteils mit seinem minderjährigen Kind als auch des Kindes mit einem Familienangehörigen gefährden würde", heißt es in der Entscheidung C-273/20.

Der EuGH stellte in beiden Verfahren klar, dass der Anspruch auf Nachzug für Flüchtlinge bereits mit Stellung des Asylantrags entsteht, da die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft lediglich deklaratorischer Natur ist. Folglich ist auch für die Frage der Minderjährigkeit auf den Asylantragszeitpunkt abzustellen. Die Regelungen der §§ 32 und 36 AufenthG, die auf die Minderjährigkeit im Zeitpunkt der Antragstellung für den Nachzug bzw. den Einreisezeitpunkt der nachziehenden Eltern abstellen, sind demnach europarechtswidrig.

In der Praxis dürfen diese Normen nun nicht mehr angewendet werden und sind perspektivisch europarechtskonform umzugestalten. Angesichts der unnötigen zusätzlichen Wartezeit von zwei Jahren seit der Nachfrage des EuGH, bis nun die offensichtlich rechtswidrige deutsche Praxis vom EuGH endgültig verworfen wurde, sollte der Gesetzgeber dies dringend an die Hand nehmen.

Wer da ist, darf auch bleiben

Noch wichtiger für die einreisenden Familienangehörigen ist aber die weitere Klarstellung des EuGH, dass der Anspruch auf die Aufenthaltserlaubnis mit Volljährigkeit nicht erlischt, sondern Art. 13 Abs. 2 der Familienzusammenführungsrichtlinie anzuwenden ist.
Damit muss auch den zu einem volljährig gewordenen Kind nachziehenden Eltern ein Aufenthaltstitel mit einer (mindestens) einjährigen Geltungsdauer gewährt werden. Denn es verstoße gegen Europarecht "den Eltern unter solchen Umständen ein Aufenthaltsrecht nur so lange zu gewähren, wie das Kind tatsächlich minderjährig ist", so der EuGH.

Das Aufenthaltsrecht besteht also auch nach Ablauf der Aufenthaltserlaubnis fort und der Aufenthaltstitel ist zu verlängern, wenn keine individuellen Ausweisungsgründe bestehen. Für das Recht auf Aufenthalt bleibt die Minderjährigkeit zum Asylantragszeitpunkt weiter entscheidend, so dass diesbezüglich - wie etwa auch in Dublin-Verfahren - eine Sachverhaltsversteinerung greift - unverändert ist somit das Alter bei Asylantragstellung zugrunde zu legen.

Auf das Bestehen eines Abschiebungsverbotes aus familiären Gründen oder der Personensorgeberechtigung, wie dies bisher die deutsche Praxis vorsah, kommt es also nicht an. Der EuGH erinnert dementsprechend in seinen Entscheidungen an verschiedenen Stellen an das Prinzip des möglichst umfassenden Grundrechtsschutzes und verdeutlicht, dass die bisherige deutsche Praxis "nicht nur mit den Zielen dieser Richtlinie, die Familienzusammenführung zu begünstigen und Flüchtlingen besonderen Schutz zu gewähren, sondern auch mit den Anforderungen, die sich aus Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta ergeben, nicht in Einklang" stand. Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, insbesondere bei denen, die die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Richtlinie 2003/86 treffen, müsse "das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein".

Eltern und Kinder müssen nicht zusammenwohnen

Auch die Feststellung des EuGH, dass Familienleben nicht impliziert, dass Eltern und Kinder zusammenwohnen müssen, ist für die Praxis von besonderer Bedeutung. Es reiche, dass "die Betroffenen beabsichtigen, einander gelegentlich zu besuchen, sofern dies möglich ist, und in irgendeiner Weise regelmäßigen Kontakt zu pflegen".

Der für die Beziehung ausländischer Eltern zu ihren Kindern auf das Bestehen der Personensorge abstellenden deutschen Praxis erteilt der EuGH quasi eine familienpolitische Lehre. Diese gipfelt in dem Satz: "Im Übrigen kann auch nicht angenommen werden, dass jegliche familiäre Bindung zwischen einem Elternteil und seinem Kind sofort wegfällt, sobald das minderjährige Kind volljährig wird".

Eine Erkenntnis, die im deutschen Familienrecht so banal wie verankert ist, musste also von Luxemburg aus in Erinnerung gerufen werden. Es wäre höchste Zeit (nicht nur) beim Familienleben nicht mit unterschiedlichem Maß zu messen, abhängig davon welche Staatsangehörigkeit Eltern und Kinder haben, sondern die möglichst umfassende Verwirklichung "schützenswerter familiärer Bindungen" in den Fokus von Recht und Praxis zu rücken.

Der Autor Dr. Constantin Hruschka ist Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Zuvor arbeitete er als Leiter der Abteilung Protection der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH sowie als Jurist für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Er unterrichtet Europäisches Recht und Internationales, Europäisches und nationales Asyl- und Flüchtlingsrecht an den Universitäten Bielefeld, München und Fribourg (Schweiz).

Zitiervorschlag

Verbesserter Schutz für Flüchtlingsfamilien: . In: Legal Tribune Online, 04.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49233 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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