Eine Initiative um Ferdinand von Schirach schlägt neue EU-Grundrechte vor. Was steckt hinter dem utopischen Vorschlag und was könnte Realität werden? Die Rechtsanwälte Prof. Dr. Remo Klinger und Dr. Ulrich Karpenstein haben mitgearbeitet.
Der Jurist und Autor Ferdinand von Schirach hat mit "Jeder Mensch" ein neues Buch geschrieben, darin schlägt er neue Grundrechte für EU-Bürgerinnen und -Bürger vor. Herr Karpenstein und Herr Klinger, Sie beide sind Rechtsanwälte, sie standen sich nicht selten auch schon auf verschiedenen Seiten im Gerichtssaal gegenüber, sind miteinander befreundet und an dem Projekt beteiligt. Die Vorschläge umfassen sechs neue Grundrechte zu Umweltschutz, Globalisierung und Digitalisierung – warum brauchen wir diese zusätzlich in der EU-Grundrechtecharta?
Klinger: Wir sind in den vergangenen Jahren als europäische Juristen vor allem in der Defensive. Nur ein Beispiel: Die europäischen Reaktionen auf die Rechtsstaatserosionen in Polen und Ungarn. In dieser Diskussion bleibt uns nur noch das Gefühl, etwas bewahren zu wollen, was man als wertvoll erachtet. Was uns fehlt, ist aber der optimistische Blick nach vorne.
Karpenstein: Wir haben es inzwischen mit regelrechten Verfassungsdystopien zu tun. Nicht nur in Polen und Ungarn, auch etwa in Russland, der Türkei und – wenn Trump nochmals gewählt worden wäre – sogar in den USA. Ferdinand von Schirach setzt dem zwei Utopien entgegen, die mir Herzensangelegenheiten sind: Zum einen die von ihren Bürgerinnen und Bürgern getragene europäische Einigung, zum anderen die grundrechtsgebundene Bewältigung neuer Bedrohungslagen. Die sechs Grundrechtsvorschläge sind aus den Erfahrungen der vergangenen 20 Jahre geboren. Sie antworten auf Zukunftsherausforderungen, die im Jahre 2000 bei Verabschiedung der Grundrechtecharta so noch nicht vorhergesehen werden konnten
Wie sollen aus den Vorschlägen auf dem Papier eines Buches neue verbindliche Grundrechte für Europa werden?
Klinger: Dafür braucht es einen neuen Verfassungskonvent, also eine neue Verfassungsgebung, das können wir natürlich nicht einklagen. Wir können nur die Überzeugung erzwingen, dass ein solcher Prozess als notwendig angesehen wird. Umso mehr Menschen dieser Meinung sind, umso weniger wird sich die Politik dem verschließen können.
Bei der Schaffung der EU-Grundrechtecharta im Jahr 2000 kamen in dem Konvent Vertreter der Staatschefs, Mitglieder des Europäischen Parlaments und Parlamentarier aus den Mitgliedstaaten zusammen. Wie könnte so ein neuer Konvent 20 Jahre später aussehen?
Karpenstein: Der Konvent ist wie auch der europäische Diskussionsprozess, den wir anstoßen wollen, ein offener. Der Lissabon-Vertrag lässt die konkreten Ziele und Delegierten eines Verfassungskonvents offen. Wir wollen innerhalb der EU-Verträge etwas wirklich Neues anstoßen, nicht außerhalb.
Klinger: Wir hoffen, dass wir eine grenzüberschreitende Debatte auslösen können. Erste Initiativen in Österreich und Frankreich sind schon sichtbar. Und wir sind selbst ganz gespannt, was sich aus dieser Idee entwickelt. Es ist ein Anfang. Jeder, der sich davon angesprochen fühlt, kann sich in die Debatte einbringen, selbstverständlich auch dann, wenn er bessere Ideen hat.
Mit einem Klick über Grundrechte abstimmen
Wie geht es weiter? Was können die Europäerinnen und Europäer tun?
Karpenstein: Sie können mit einem einfachen Klick unter www.jeder-mensch.eu über die Grundrechte abzustimmen. Es ist vor allem eine gemeinsame Idee, die transportiert werden soll. Wir wollen keine Formen oder Formulierungen vorgeben. Wer sich für das Thema interessiert, der kann etwa auch selbst Veranstaltungen organisieren, Freunde überzeugen oder seinen Europaabgeordneten kontaktieren – Max Raabe hat soeben einen Grundrechtssong komponiert.
In dem Text von Ferdinand von Schirach wird betont, dass die Vorschläge auch naiv erscheinen mögen – worin liegt die Überzeugungskraft von naiven Ideen?
Klinger: Sie liegt in der Einfachheit. Wer die heute geltende EU-Grundrechtecharta liest, der kann mir nicht erzählen, dass sich dort schöne Formulierungen finden.
Vielleicht auch ein Grund dafür, dass so wenige EU-Bürgerinnen und Bürger die Charta überhaupt kennen, nach Umfragen wohl nur jede und jeder Zehnte?
Klinger: Ja, sicherlich. Wenn man schon als Jurist - und wir sind ja schon einiges gewohnt – den Text der Charta liest, und das mühsam findet, dann ist das ein schlechtes Zeichen. Wir wollen diese Rechte nicht abschaffen, aber ergänzen. Und einige Vorschläge mögen naiv klingen, aber ich finde Sie entwaffnend zwingend.
Ein neues Umweltgrundrecht soll lauten: "Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben. "
Klinger: Das wir so ein Recht noch nicht haben, kann ich nicht verstehen.
In der Grundrechtecharta gibt es bereits einen Art. 37 zum Umweltschutz.
Klinger: Das ist eine schlichte Staatszielbestimmung, und die ist auch noch verquast formuliert. Ganz so wie wir es leider aus Art. 20a Grundgesetz kennen. Und ich würde behaupten, wir haben seit vielen Jahren keine einzige Gerichtsentscheidung gehabt, die nicht gefällt worden wäre, wenn es diese Grundrechtsnorm nicht gäbe. Was ich sagen will: Der Art. 20a Grundgesetz wird immer nur als Füllmasse herangezogen, um ein Ergebnis zu begründen, das man so oder so ohnehin aufgrund der Rechtslage getroffen hätte. In der Rechtswirklichkeit haben Art. 20a Grundgesetz und der Art. 37Grundrechtecharta nichts verändert. Und deshalb brauchen wir da eine Ergänzung.
Karpenstein: Die Kraft dieser Grundrechte liegt weniger in ihrer Naivität, sondern darin, dass ihre Verwirklichung derzeit in utopischer Ferne zu liegen scheint. Wir wollen ja nicht festschreiben, sondern unsere Zukunft gestalten. Doch wenn man sie sich näher anschaut, wird man sehen, dass man sie real einfordern und operationalisieren kann – und das macht einen Unterschied. 1949 wusste mit dem, was später die allgemeine Handlungsfreiheit wurde, auch noch niemand etwas anzufangen.
Nach dem neuen Umweltgrundrecht könnte jede Europäerin und jeder Europäer gegen systematische Verletzungen vor Gericht klagen?
Klinger: Wichtig ist: Die Grundrechte sind nicht allein darauf gerichtet, eingeklagt, sondern zunächst einmal darauf, eingehalten zu werden. Wer europäisches Recht setzt, muss diese Grundrechte berücksichtigen. Ich mache mir keine Sorgen um einen ausufernden Rechtsschutz, eher sorgt mich, dass wir dramatisch zu wenig davon haben. Gerade im Klimaschutz können Rechtsposition zu den gravierendsten Bedrohungen der Menschheit auf der Ebene des Unionsrechts im Endeffekt von niemandem eingeklagt werden. Das hat der EuGH erst vor einer Woche entschieden. Da versagt unser Grundrechtschutz. Wir hoffen, dass das Bundesverfassungsgericht dies in den anhängigen Verfahren anders sieht, es kann aber nicht erst des verfassungsrechtlichen Hochrecks bedürfen, um Rechtsschutz in einer Schicksalsfrage der Menschheit zu eröffnen. Beim Artenschutz sieht es nicht viel anders aus.
Sie schlagen auch ein Recht auf Wahrheit vor, es lautet: "Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen."
Karpenstein: Auf den ersten Blick mag es von allzu großem Wahrheitsoptimismus getragen sein, bei näherer Sicht aber lässt es sich im Ernstfall sehr wohl geltend machen. Eine einzelne Un- oder Halbwahrheit gehört sicherlich nicht vor die Gerichte, aber wenn staatliche Desinformationskampagnen geführt werden oder Amtsträger mit systematischen Falschbehauptungen Stimmung machen, dann reichen die klassischen demokratischen Mechanismen, nämlich politische Opposition und kritische Medien, leider nicht mehr aus. Die kommunikativen Blasen, in denen wir mittlerweile leben, machen diese Mechanismen fast wirkungslos.
"In Europa herrscht ein konstitutionelles Moment"
Sie schlagen für die Durchsetzung eine neue Grundrechtsklage vor, was hat es damit auf sich?
Karpenstein: Mit dieser Klage können Bürgerinnen und Bürger systematische Verletzungen der Grundrechtecharta vor den europäischen Gerichten in Luxemburg rügen. Grundrechte sind nur so wirksam, wie sie vor unabhängigen Gerichten von jedem Menschen eingeklagt werden können. Und in den vergangenen zwanzig Jahren haben wir erlebt, dass die EU-Kommission mit der Aufgabe, die europäischen Verträge und Grundrechte zu hüten, völlig überfordert ist. Nehmen Sie das Beispiel der EU-Außengrenzen beim Umgang mit Flüchtlingen, Stichwort Frontex und push backs. Aber auch für die Situation in Polen und Rumänien, wo effektiver und unabhängiger Rechtsschutz geschleift wird. Wollen wir als europäische Bürgerinnen und Bürger länger zusehen, dass die Menschenwürde an den Außengrenzen systematisch verletzt wird oder die Pressefreiheit immer häufiger auf dem Spiel steht?
Am Ende würde es ja aber auch bei erfolgreichen EU-Grundrechtsklagen darauf ankommen, dass die betroffenen Staaten oder die EU die Urteile umsetzen, also in Ihren Beispielen an den EU-Außengrenzen oder in der eigenen Justiz. Wie realistisch ist das?
Karpenstein: Das ließe sich in der EuGH-Satzung einfach anpassen. Würden auch hier Finanzsanktionen ermöglicht, wie wir sie aus der Rechtsprechung des EuGH mittlerweile kennen, dann ist das ein sehr scharfes Schwert. Wer solche Zwangsgelder ignoriert, würde aus Brüssel auch kein Geld erhalten – eine Aufrechnung mit Mitteln des Sozial- oder Agrarfonds gibt es ja längst.
Klinger: Auf der europäischen Ebene sind wir bei der Vollstreckung sogar deutlich härter als wir es auf unserer nationalen Ebene diskutieren.
Der Vorschlagskatalog enthält auch ein Globalisierungsgrundrecht, was ist die Idee dahinter?
Klinger: Der Hauptunterschied auch zu den deutschen Plänen zu einem Lieferkettengesetz liegt bei der Rechtsdurchsetzung. Der Spieß wird umgedreht: Nicht nur die Menschen, die im globalen Süden von Menschenrechtsverletzungen betroffen sind, sollen ein Klagerecht haben, sondern auch wir Europäer das Recht haben, dass uns nur solche Waren angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt worden sind. Denn nur diese Perspektive garantiert, dass das Recht durchgesetzt wird. Kinder aus dem Kongo oder Näherinnen aus Pakistan rufen gewöhnlich keinen deutschen Anwalt an und klagen vor dem Landgericht Berlin. Das funktioniert nur in Ausnahmefällen, in denen NGOs diese Klagen unterstützen. In dieser Situation hat es erheblichen Charme, das Grundrecht denjenigen zu geben, die nicht länger oft unwissend zum Mittäter menschenrechtsunwürdiger Praktiken gemacht werden wollen: den Menschen in Europa.
Eine ganze Reihe zusätzlicher grundrechtlicher Verantwortlichkeit für die EU, der sich die europäische Staatsgewalt selbst unterwerfen müsste - wie utopisch ist das?
Klinger: Warten wir es doch mal ab. Eine Idee wie die der Grundrechtsklage ist in dieser Schärfe noch nie diskutiert worden. Ich halte es für wahrscheinlich, dass sich politische Mehrheiten in diese Richtung entwickeln, wenn die Mehrheit der Bürger und Bürgerinnen das trägt. Wir haben das im Recht schon oft erlebt. Entwicklungen, die wir vor Jahren für utopisch gehalten hätten, sind heute selbstverständlich. Denken Sie nur an die Abschaffung der Strafbarkeit der männlichen Homosexualität, das hätte noch in den 1970er Jahren wahrscheinlich niemand für möglich gehalten. Jetzt gibt es für die damaligen Strafurteile sogar Entschädigungen.
Karpenstein: Nach dem 2. Weltkrieg war die europäische Einigung selbst die Utopie. Ich erinnere mich, wie ich als Kind mangels Reisepasses an der deutsch-belgischen Grenze zurückgeschickt wurde. Heute haben wir einen EU-Binnenmarkt mit offenen Binnengrenzen – das sind doch alles Utopien, die wahr geworden sind.
Gerade in der Corona-Pandemie können wir aber auch beobachten, dass EU-Staaten in den Alleingang schalten, wenn es darauf ankommt, etwa bei den Grenzregelungen. Wie glücklich ist der Zeitpunkt für Ihr neues europäisches Projekt?
Klinger: Es ist eine perfekte Zeit für das Projekt. Klar, es ist eine Krisensituation, aber in Krisen stecken immer Chancen für Veränderung.
Karpenstein: Es ist doch offenkundig, dass in Europa ein konstitutionelles Moment herrscht. Die Menschen sind den funktionalistischen und technokratischen Weg des europäischen Projekts längst leid. Warum nicht einmal in einem europäisch-positiven Sinne das Schicksal selbst in die Hand nehmen und bestimmen, wie nach 70 Jahren europäischer Einigung unsere gemeinsame Zukunft aussehen soll?
Klinger: Zumal der Populismus per se anti-europäisch ist und wir die Hoffnung haben können, dass die populistischen Tendenzen gegenwärtig abflachen. So ist vielleicht eine Zeit gekommen, in der wir unsere Energie auf neue positive Signale setzen können.
Der Rechtsanwalt Prof. Dr. Remo Klinger ist Partner der Berliner Sozietät Geulen & Klinger. Er vertritt regelmäßig öffentlich-rechtliche Auftraggeber, wie das Land Berlin in den anhängigen verfassungsrechtlichen Verfahren zum Berliner Mietendeckel, und Nichtregierungsorganisationen, dort vor allem in umwelt- und menschenrechtlichen Auseinandersetzungen. Er vertrat Opfer eines Fabrikbrands in Karachi gegen das Textilunternehmen KiK und ist in den aktuell vor dem Bundesverfassungsgericht geführten Klimaschutzverfahren von Bauern aus Bangladesh und Jugendlichen von Fridays for Future tätig.
Der Rechtsanwalt Dr. Ulrich Karpenstein ist Partner der Sozietät Redeker Sellner Dahs in Berlin. Er ist Mitherausgeber der NJW, der EuZW und eines Kommentars zur EMRK. Er vertritt regelmäßig die Bundesregierung, Verbände und Unternehmen vor dem Europäischen Gerichtshof und dem Bundesverfassungsgericht.
Schirach-Initiative fordert neue Grundrechte für die EU: . In: Legal Tribune Online, 02.04.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44645 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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