Der Mangold-Beschluss: Karlsruhes souveräne Entscheidung

Mit seiner Entscheidung zur Rechtssache Mangold hat das Bundesverfassungsgericht die scharfen Formulierungen seines Lissabon-Urteils zurückgenommen. Von einem "Umfallen" kann jedoch keine Rede sein. Das Bundesverfassungsgericht beweist vielmehr die Souveränität, die es im Lissabon-Urteil vermissen ließ. Ein Kommentar von Dr. Alexander Thiele.

Das Mangold-Urteil des Europäischen Gerichtshofs hat in der deutschen Literatur ganz erheblichen Widerspruch hervorgerufen, der das Maß gewöhnlicher EuGH-Schelte weit übertraf. Die Kritik gipfelte in dem marktschreierischen Ausruf des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog "Stoppt den Europäischen Gerichtshof", den dieser gemeinsam mit Lüder Gerken im Jahre 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung formulierte. Der EuGH, so der Vorwurf, entziehe mit immer erstaunlicheren Begründungen den Mitgliedstaaten ureigene Kompetenzen und greife dadurch massiv in ihre Rechtsordnungen ein. Gerade im Urteil Mangold habe er allgemeine Grundsätze praktisch "frei erfunden".

Tatsächlich lässt sich über das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Mangold triftig streiten. Zahlreiche Passagen erscheinen tatsächlich gewagt. Möglicherweise handelt es sich damit also um ein Fehlurteil des Luxemburger Gerichts. Was aber bedeutet das für das Bundesverfassungsgericht? Für die Kritiker des EuGH schien dies nach dem Lissabon-Urteil eindeutig. Immerhin hatte das Gericht dort ausdrücklich seine Kontrollkompetenz im Falle kompetenzwidriger Unionsakte betont. Was bitte schön sollte ein solch "ausbrechender Rechtsakt" sein, wenn nicht das Urteil des EuGH in der Rechtssache Mangold?

Das Bundesverfassungsgericht hat diese Kritiker mit seinem Beschluss vom 6. Juli 2010 (2 BvR 2662/06) nun maßlos enttäuscht und die eingelegte Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen. Ist das Bundesverfassungsgericht also "kleinlaut umgefallen", wie erste Kommentare mutmaßen?

Kein Umfallen, sondern maßvolle Korrektur

Keineswegs. Tatsächlich handelt es sich zwar um eine Entscheidung, die mit zahlreichen durch das Lissabon-Urteil hervorgerufenen Unklarheiten aufräumt und das Verhältnis zum EuGH dadurch deutlich entspannt. Dass das Gericht damit auch auf die kritischen Stimmen der Literatur reagiert, ist indes mit Nichten Ausdruck eines Umfallens oder gar einer Niederlage.

Die Auseinandersetzung mit den Reaktionen auf eine Entscheidung muss für ein Gericht, welches mit solch grundlegenden Fragen wie der europäischen Integration beschäftigt ist, vielmehr eine Selbstverständlichkeit sein. Dazu gehört unter Umständen auch eine (maßvolle) Korrektur eigener Ansichten. Wenn das Gericht nunmehr also die bisweilen äußerst scharfen Formulierungen des Lissabon-Urteils zum Teil zurücknimmt, zeigt es damit, dass es die eigene Auffassung nicht für unantastbar erklärt. Das verdient Respekt.

Vor allem aber vermag die Entscheidung in der Sache zu überzeugen. Von besonderer Bedeutung sind hier die Passagen, die sich mit dem allgemeinen "Kooperationsverhältnis" zum EuGH beschäftigen, und die insgesamt eine sehr viel entspanntere und weniger verkrampfte Haltung zum Europäischen Integrationsprozess nahelegen, als dies noch im Lissabon-Urteil der Fall war.

Nicht jedes Fehlurteil ist eine Gefahr für die Souveränität

Das Recht der EU, so heißt es dort, könne sich nur dann wirksam entfalten, wenn es entgegenstehendes nationales Recht verdrängt. Zwar bleibt es bei einer Kompetenzkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht. Allerdings, und hier klingt nun ein sehr viel integrationsfreundlicheres Verständnis durch, sei diese Kontrolle europarechtsfreundlich auszuüben. Eine Unanwendbarkeit setze daher einen hinreichend qualifizierten Verstoß voraus. Ein solcher sei aber nur dann gegeben, wenn es zu gewichtigen Verschiebungen im Kompetenzgefüge komme. Ausdrücklich nicht ausreichend ist dafür ein bloßes Fehlurteil des EuGH. Denn dieser hat Anspruch auf "Fehlertoleranz" – was im Übrigen wohl auch für das Bundesverfassungsgericht gilt.

Damit wird die Gefahr eines Konflikts mit der Rechtsprechung des EuGH wieder auf Extremfälle beschränkt und das ist richtig. Die Europäische Integration ist auf gegenseitiges Vertrauen gebaut und genau dieses Vertrauen bringt das Bundesverfassungsgericht nun auch wieder dem EuGH entgegen. Fehlurteile sind jedem Rechtssystem immanent und nicht jedes Fehlurteil des EuGH kann daher sogleich zu einer Gehorsamsverweigerung der Mitgliedstaaten führen – zumal sichere Maßstäbe für die Beurteilung der Richtigkeit eines Urteils fehlen. In keinem Fall aber stellt jedes Fehlurteil sogleich eine Gefährdung der Souveränität der Bundesrepublik dar. Es ist gut, dass auch das Bundesverfassungsgericht dies nun eindeutig klarstellt. Auch das Mangold-Urteil hat insofern – anders als bisweilen angenommen – nicht den Untergang des Abendlandes eingeleitet.

Insgesamt atmet die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts damit genau die Souveränität, die es eigentlich mit seinem Lissabon-Urteil so vehement hatte verteidigen wollen. Souverän ist aber eben nicht der, der schreit, sondern der, der sich auch zurücknehmen kann. Mangold ist insofern sehr viel souveräner als Lissabon. Mit dieser Form der Souveränität können jedenfalls sowohl die Europäische Integration als auch das deutsche Grundgesetz gut leben. Weiter so!

Der Autor Dr. Alexander Thiele ist Akademischer Rat und Habilitand an der Universität Göttingen und durch zahlreiche Veröffentlichungen zum Europäischen Rechtsschutzsystem ausgewiesen.

Zitiervorschlag

Alexander Thiele, Der Mangold-Beschluss: . In: Legal Tribune Online, 31.08.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1327 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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