2/2: EU als unzureichende Demokratie?
Hintergrund des Konflikts ist, dass das BVerfG schon im Maastricht- und im Lissabon-Urteil betont hat, dass es selbst zu überprüfen gewillt ist, ob die EU die Grenzen ihrer Kompetenz einhält. Nur soweit dies der Fall sei und bestimmte inhaltliche Standards des deutschen Verfassungsrechts gewahrt seien, könne das EU-Recht vorrangige Geltung in Deutschland beanspruchen. Dies halten die obersten nationalen Richter aus Sicht des Grundgesetzes so für geboten.
Der EuGH hat aus der Sicht des Europarechts solche Lesarten bisher nie anerkannt und dieses für vorrangig ohne inhaltliche Einschränkungen gegenüber dem nationalen Recht gehalten. Vom Verfahren her hat er offenbar allein die europäischen und nicht die nationalen Organe als zuständig angesehen, um Fragen auch danach zu klären, ob die EU rechtskonform handelt. Mit dem vorliegenden Vorlagebeschluss verficht das BVerfG seine Auffassung erneut. Dabei ist diese weder europarechtlich noch mit Blick auf das Grundgesetz überzeugend.
Karlsruhe riskiert fatale Rechtsunsicherheit
Wenn das BVerfG inhaltlich einen wesentlichen Teil politischer Materien zwingend dem Nationalstaat vorbehalten will, steht dahinter die falsche Vorstellung, die vom Grundgesetz geforderte Demokratie könne es nur im Nationalstaat und nicht auch auf EU-Ebene in einem hinreichenden Sinne geben. Auch vom Verfahrensweg her kann ein nationales Verfassungsgericht nicht über Fragen danach entscheiden, ob die EU ihre rechtlichen Schranken einhält. Damit wird der Charakter der EU als eigenständige Rechtsordnung unterlaufen.
Ferner wird potenziell fatale Rechtsunsicherheit ausgelöst, wenn plötzlich ein unabgestimmtes Konzert von 28 mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichten die rechtlichen Handlungsgrenzen der EU festzulegen beabsichtigt. Genau um dies zu vermeiden, haben die Mitgliedstaaten freiwillig und demokratisch mit der EU auch ein oberstes EU-Gericht, den EuGH, geschaffen, das solche Fragen entscheiden kann.
Unabsehbare Folgen auch für die europäische Integration
Bemerkenswert ist, dass das BVerfG seine ausgreifende Selbstermächtigung auch durch die potenziell ganz erheblichen europapolitischen und weltwirtschaftlichen Folgen seiner sich andeutenden Sichtweisen nicht in Frage gestellt sieht. Bereits die bloße – bisher gar nicht umgesetzte – Ankündigung der EZB, Staatsanleihen kriselnder Euro-Staaten notfalls unbegrenzt (!) aufzukaufen, hatte die Finanzmärkte beruhigt und damit einen wesentlichen Ausweg aus der Eurokrise gewiesen.
Dies stellt das BVerfG nun in Frage, indem es allenfalls ein begrenztes Tätigwerden der EZB als aus seiner Sicht zulässig andeutet. Allein dies schon, erst recht aber ein etwaiger vom BVerfG schlimmstenfalls verordneter deutscher Euro-Austritt, wenn die EZB dauerhaft über die erwartbaren BVerfG-Vorgaben hinweggeht, hätte also unabsehbare Folgen. Dies beträfe natürlich auch die europäische Integration als solche.
Gewaltenteilung: Urteile statt Politik?
Schließlich bahnt Karlsruhe die Ausweitung seiner Kompetenz gegenüber Bundestag und Bundesregierung innerhalb Deutschlands an. Das BVerfG schwingt sich auf zum Letztentscheidungsorgan genuin politischer Fragen, also eben gerade nicht solcher, die rechtlich determiniert sind. Denn es ist nicht erkennbar, wo in der Verfassung geregelt sein soll, ob und wie Bundestag und Bundesregierung auf einen – angeblichen – EU-Primärrechtsverstoß von EU-Organen hin zu reagieren haben. Trotzdem will das BVerfG hier potenziell Aktionspflichten aus dem Grundgesetz ableiten. Letztlich begründet es damit situativ eine Art Staatspflicht, jedweden angeblichen Rechtsverstoß abzustellen, einklagbar durch jeden einzelnen Bürger.
Das abweichende Votum von Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff spricht hierzu eine deutliche Sprache: "Dass einige unabhängige deutsche Richter unter Berufung auf die deutsche Auslegung des Demokratieprinzips und auf die Grenzen, die sich hieraus und aus unserer Lesart der Art. 123 ff. AEUV für die zulässigen Befugnisse der unabhängigen Europäischen Zentralbank ergeben, eine Entscheidung mit unkalkulierbar weitreichenden Konsequenzen für die ins Werk gesetzte Währung der gesamten Eurozone und die davon abhängigen Volkswirtschaften treffen, erscheint als Anomalie von höchst zweifelhafter demokratischer Qualität." Dem ist nichts hinzuzufügen.
Felix Ekardt, Eurokrisen-Vorlage des BVerfG: . In: Legal Tribune Online, 14.02.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/11001 (abgerufen am: 22.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag